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GRASWURZELREVOLUTION/1436: Die Landlosenbewegung "Ekta Parishad" im indischen Kontext


graswurzelrevolution 393, November 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Die Landlosenbewegung "Ekta Parishad" im indischen Kontext
Eine Erwiderung auf: "Ein Herz für Arme", Artikel von Peter Moritz, in GWR 392, Oktober 2014, Seite 9 (*)

von Horst Blume



Als der Hindunationalist Modi im Jahr 2002 Ministerpräsident des indischen Bundesstaats Gujarat war, wurden unter der Duldung seiner Regierung von bewaffneten MörderInnen bei einem Pogrom innerhalb weniger Tage etwa zweitausend Muslime von Hindu-Nationalisten niedergemetzelt und muslimische Häuser zerstört. Man muss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass er auch als neuer Ministerpräsident von ganz Indien in Zukunft zu einer Verschärfung der Situation beitragen wird.


Für die vielen hundert Millionen Menschen, die in Indien unter elenden Bedingungen leben müssen, ist es schlichtweg überlebenswichtig, dass auch unter Modi zumindest einige Zugeständnisse für Landlose und Arme erkämpft werden. Wer auf diese dramatische Situation nicht mit allen zur Verfügung stehenden Kräften reagiert, regt sich zwar zu Recht über zweitausend ermordete Muslime und über Modis Hindunationalismus auf, ändert aber an der lebensbedrohenden Situation für viele Millionen Arme in den ländlichen Gebieten nichts.

Ekta Parishad setzt sich seit fast 25 Jahren für die Rechte der Landlosen ein und hat sich durch viele Massenaktionen und Sozialarbeit in den Dörfern gegen den verstärkten Landraub engagiert.

Soll Ekta Parishad jetzt fünf Jahre lang aufhören, Forderungen zu stellen, weil Modi schon in der Vergangenheit gezeigt hat, wie schlimm er ist? Sollen an ihn keinerlei Forderungen mehr gestellt werden, damit er jetzt erst recht Schalten und Walten kann, wie er will?

Bei aller berechtigten Empörung sollte nicht vergessen werden, dass auch die jahrzehntelang regierende Kongresspartei viel Blut an ihren Händen hatte und trotzdem Adressat für die Forderungen der sozialen Bewegungen war: Während des Ausnahmezustandes von 1975 bis 1977 wurden nicht nur etwa hunderttausend Oppositionelle ohne Gerichtsverfahren inhaftiert, sondern es wurde auch gefoltert und getötet. 1984 kamen beim Sturm auf das Heiligtum der Sikhs in Amritsar, in dem sich separatistische Sikhs verschanzt hatten, mehrere tausend Menschen um.

Disziplin im Gänsemarsch

"Und dann noch Disziplin, Disziplin, Disziplin und in Dreierreihen marschieren müssen", schreibt Peter Moritz. - Für manche Libertäre ist das offensichtlich die Horrorvorstellung schlechthin. - Bevor ich genauer darauf eingehe, sollten wir zunächst zur Kenntnis nehmen, in welchem Kontext diese Fußmärsche in Indien stattfinden. Über viele Tage hinweg marschieren zehntausende Menschen zum Teil barfuß hunderte von Kilometer bei einer Tagestemperatur von bis zu 40 Grad in einer in jeder Hinsicht höchst prekären Gesamtsituation, wie sie in Indien oft anzutreffen ist. Zum Vergleich: Bei den in Indien üblichen Massen-Pilgerwanderungen sterben jedes Jahr Hunderte. Wenn bei dem von Ekta Parishad 2012 organisierten Fußmarsch auch nur für Stunden die Trinkwasserversorgung oder auch die tägliche Mahlzeit oder das schattenspendende Zeltdach bei den Versammlungen aufgrund von organisatorischen Mängeln ausfallen würde, gäbe es sehr viele Tote. Der Abstand zwischen der zweiten und dritten "Gänsemarschreihe" ist deswegen so breit, damit Fahrzeuge mit Wasser oder für die Aufnahme von gefährlich geschwächten Menschen dort notfalls herfahren können.

Die langgezogene diszipliniert durchgeführte Dreierreihen-Marschformation ist zusätzlich wichtig, damit es bei räumlichen Engpässen wie Brücken, Hindernissen oder bei außergewöhnlichen Ereignissen nicht zu tödlich endenden Panikreaktionen, wie sie oft bei den indischen Massenpilgerbewegungen stattfinden, kommt.

Das ist wohldurchdacht und hat sich seit Jahren bewährt. Für die Durchführung dieser speziellen Großaktion sind Selbstdisziplin und mehrere zwischengeschaltete Kontrollinstanzen unabdingbar, sonst könnten sie nicht verantwortungsbewusst durchgeführt werden. Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass in Ekta Parishad viele Menschen organisiert sind, die aus elendsten Verhältnissen kommen und nur mit größter Mühe überleben.

Sie sind nicht nur im Begriff, ihre Zukunft in den Dörfern basisdemokratischer zu organisieren, sondern lernen oft erst jetzt Lesen und Schreiben, den Umgang mit Verträgen oder die jeweilige Amtssprache zu sprechen. Ihre Minderwertigkeitskomplexe, ihre tiefsitzende Angst vor Angehörigen höherer Kasten, reichen Menschen in schönen Kleidern und vor Staatsbeamten lernen sie mit Hilfe von Trainern von Ekta Parishad langsam zu überwinden. Erst mit dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein schaffen sie die elementarsten Voraussetzungen, um sich als durchsetzungsstarker Verhandlungspartner für staatliche Organisationen oder Großgrundbesitzer zu formieren.

Kleiner Vergleich: Ab 2004 habe ich mich in der BRD an den Protesten gegen den rotgrünen Sozialraub beteiligt und bemüht, zusammen mit einigen anderen AktivistInnen 2004 bei einem Wahlkampfauftritt vom damaligen Kanzler Schröder in Hamm eine gut aufgestellte "Picket-Line" von etwa einhundert Betroffenen zu organisieren. Wir waren froh, dass es für eine halbe Stunde geklappt hat. Nicht geklappt hat allerdings, dass die Hartz IV-lerInnen ihre weiteren Aktivitäten längerfristig selbst entwickelten und durchführten.

Zack, zack! - Problem gelöst?

Die Situation in Indien ist ungleich schwieriger und dramatischer - und trotzdem sind die Aktivitäten von Ekta Parishad sehr erfolgreich! Peter Moritz sieht das allerdings anders. Er zitiert europäische Journalisten, die MarschiererInnen von 2012 würden ohne greifbare Ergebnisse nach Hause zurückkehren. Dabei verkennen sie die komplexe indische Realität und das komplizierte Geflecht von Hindernissen und Widerständen, mit dem jeder Änderungswillige dort jahrzehntelang zu kämpfen hat.

Und was wäre das für eine seltsame Vorstellung: Ein Federstrich der Bundesregierung in Delhi unter ein paar Dekrete und alle Probleme von einer halben Milliarde Menschen in der Provinz wären gelöst? Wie sollte das gehen und welches Politikverständnis würde sich dahinter verbergen? Das Abkommen von 2012 stellt einen ersten rechtlichen Rahmen für 3,5 Millionen Menschen dar, mit dem sie den begonnenen Kampf um Land in ihren Dörfern mit einer zusätzlichen Legitimation weiterführen können. Die jeweilige Ausgestaltung der Vereinbarungen muss in jedem Bundesland, in jeder Region und in jedem Dorf gegen die lokalen Autoritäten ausgefochten und in den folgenden Jahren durchgesetzt werden. Wie sollte es anders gehen?

Bündelung der Kräfte statt Vereinzelung

Ekta Parishad heißt übersetzt in etwa "Solidarischer Bund" und ist ein Zusammenschluss von verschiedenen Organisationen in sechszehn indischen Bundesstaaten. Die vielen kleineren dezentralen Aktionen, die Peter Moritz vorschlägt, haben sie bereits jahrzehntelang praktiziert (siehe die drei Buchempfehlungen). Seit dem ersten größeren Marsch im Jahr 2002 bündeln die Initiativen zunehmend ihre Kräfte, treten massenhaft in Erscheinung und üben zusätzlich gesamtgesellschaftlich und nicht mehr vereinzelt wie bisher Druck auf Bundes- und Landesregierungen aus. Zum ersten Mal hat sich in Indien nach langer Zeit eine gewaltfreie Massen(!)bewegung entwickelt und gefestigt.

Zum besseren Verständnis würde ich den solidarischen Bund von Ekta Parishad ganz vorsichtig in etwa mit dem Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) Anfang der 1980er Jahre in der BRD vergleichen. Dort arbeiteten unterschiedliche Bürgerinitiativen zusammen, die sich auf einen bestimmten Konsens geeinigt hatten. Es gab innerhalb des BBU auch libertäre Tendenzen, aber beispielsweise auch Probleme mit angehenden BerufspolitikerInnen. Insgesamt gesehen konnten aus diesem widersprüchlichen Spannungsfeld heraus bemerkenswerte und sinnvolle Impulse in die Gesamtgesellschaft gegeben werden.

Entscheidungsfindung mit fast 100.000 Menschen

Noch einmal zur von Peter Moritz heftig kritisierten "Führungsfigur" Rajagopal. Als Hoffnungsträger und Ansprechpartner war er in der Vergangenheit wichtig. Ekta Parishad sieht die Probleme, die sich daraus ergeben durchaus und deswegen wurden nach dem Fußmarsch 2012 viele Funktionen in der Gesamtorganisation in neue Hände gegeben. Ich habe Rajagopal bei seinen Besuchen in der BRD als zurückhaltenden und nachdenklichen Menschen kennengelernt, der zu allererst anderen Menschen zuhört.

Der Marsch "Jan Satyagraha" wurde 2012 nicht als ausnutzbare "Massenchoreografie" für einen Film inszeniert, wie Peter Moritz meint, sondern dauerte insgesamt über 11 Monate. Es sind bereits in abwechselnden Gruppen viele TeilnehmerInnen vor dem großen Teil des Marsches relativ unspektakulär kreuz und quer durch Indien gelaufen, um in der "Provinz" zu mobilisieren.

GWR-Fotograf Herbert Sauerwein, der an dem Marsch 2012 in Indien teilgenommen hat, berichtete mir detailliert, wie und unter welchen Bedingungen bei dieser Massenveranstaltung mit fast einhunderttausend Menschen wichtige Entscheidungen gefällt wurden. Trotz sengender Hitze diskutierten durch Lautsprecherübertragung öffentlich für alle Dutzende von RednerInnen die Probleme des Marsches - ausführlich und kontrovers.

Rajagopal formulierte lediglich zum Schluss der Debatte einen Konsens und brachte ihn zur Abstimmung. Diese Form der Entscheidungsfindung ist für Menschen, die größtenteils zum ersten Mal in ihrem Leben ihre gewohnte dörfliche Umgebung verlassen haben, um als Massenorganisation die Regierung des zweitbevölkerungsreichsten Landes der Welt herauszufordern, eine außergewöhnliche Leistung!

Auf die von Peter Moritz erhobenen Vorwürfe, die Gewaltfreiheit von Ekta Parishad sei zu "harmlos", sei gegen "militante" und naxalitische Guerilla gerichtet und begünstige zweifelhafte "Deals" mit den Herrschenden, werde ich an dieser Stelle schon aus Platzgründen nicht eingehen können. Da sie in ähnlichen Varianten gegenüber anderen gewaltfreien Bewegungen schon oft geäußert wurden, kann Einiges an anderer Stelle hierzu in der GWR nachgelesen werden. Dass die Menschen in Ekta Parishad während der vergangenen Jahrzehnte immer wieder mutig unter Einsatz ihres Lebens für die Rechte der Landlosen und Armen gekämpft haben, wird in drei Büchern (siehe Anhang) ausführlich dokumentiert.

Hauptsache eine "konkrete" Forderung gestellt?

Peter Moritz wirft Ekta Parishad vor, 2012 während des Marsches in Nordindien nicht die konkrete Forderung nach Freilassung der inhaftierten AtomkraftgegnerInnen in Kudankulam gestellt zu haben. Kudankulam liegt am äußersten Südzipfel Indiens ca. 2.500 km von der Marschroute von Gwalior nach Delhi entfernt.

Die Landlosen, die in einem großen Kraftakt jahrelang täglich eine Rupie für die Anreisekosten zurückgelegt haben, um oft sogar zum ersten Mal in ihrem Leben ihre dörfliche Umgebung zu verlassen, wussten zum größten Teil wahrscheinlich gar nicht, wo Kudamkulam liegt, geschweige denn, was da los ist. Von ihnen zu erwarten, dass sie mal eben schnell noch eine Forderung aus einem völlig anderen Kontext und Erfahrungshintergrund ihrem eigenen Anliegen hinzufügen, ist realitätsfern. Und welchen Wert und welche Durchsetzungskraft durchaus richtige Forderungen in einem präsentierten "Gemischtwarenladen" haben, wissen auch Regierungen.

Die konkrete Ausgestaltung des geplanten "Millionenmarsches" Jai Jagat im Jahr 2020 wird durch viele Organisationen und Bewegungen weltweit mitbestimmt und in einem lebendigen Austausch untereinander entwickelt. Hierzu gehören in den nächsten fünf Jahren mehrere Vorstufen mit Aktionen und thematische Schwerpunkte (Ökologie, nachhaltiges Wirtschaften, Frauenrechte), die seit langem Bestandteil der Aktivitäten der Landlosenbewegung sind. "Jai Jagat" (in etwa: "Sieg der Welt") wird nicht nur auf dem Weg nach Delhi stattfinden, sondern ist als global vernetzter Impuls gedacht. Ihn sollten wir auch in Europa so gut wie möglich unterstützen. Und ja, selbstverständlich kann mensch hierfür auch werben!


Literaturhinweise:

Indien im Aufbruch. Yatra Sutra - Experimente mit der Gewaltlosigkeit, von Karl-Julius Reubke. Mayer Verlag 2006, 280 Seiten mit vielen Fotos

Die Macht der Wahrheit. Landrechtbewegung in Indien, von Helena Drakakis. Selbstverlag 2003, 63 Seiten

Das Erbe von Gandhi. Rajagopal P.V. - Ein Leben für den gewaltlosen Widerstand, von Carmen Zanella. Stämpfli Verlag 2012, 152 Seiten


Der Aufruf "Jai Jagat" 2020:
www.ektaeurope.org/de-de/jaijagat2020/aufruff%C3%BCraktionf%C3%BCrjaijagat2020.aspx

(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Im Schattenblick finden Sie den Artikel von Peter Moritz unter
www.schattenblick.de → Infopool → Medien → Alternativ-Presse →
GRASWURZELREVOLUTION/1426: Ein Herz für Arme?

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Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 393, November 2014, S. 16
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2014


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