Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRASWURZELREVOLUTION/1360: Eine Praxis der Befreiung - Teil 2


graswurzelrevolution 383, November 2013
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Eine Praxis der Befreiung
Zur (heimlichen) Aktualität Gustav Landauers (2. Teil)

Jan Rolletschek



Fortsetzung aus Graswurzelrevolution Nr. 382, Oktober 2013 (*)

Im Sommer 1894 wird Gustav Landauer aus seiner ersten Haft entlassen, die er wegen "Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Staatsgewalt" und "Aufreizung" vor allem in Sorau verbüßt hatte. (1)

Im Gefängnis hatte er nicht nur den größeren Teil zweier Novellen verfasst und "fleißig Marx studiert" (2), sondern u.a. auch Bruno Willes Buch Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel (1894) gelesen und sehr wohlwollend aufgenommen (vgl. 1999, 38). Ein Buch, das Paul Kampffmeyer rückblickend als "eine rein anarchistische Kampfschrift" und "einziges größeres Produkt dieser gärenden Zeit" (3) erinnern wird, wie es auch tatsächlich prägend auf die sich herausbildende anarchistische Bewegung in Deutschland gewirkt hat.

In Willes Buch finden sich (neben leider auch etlichen Rassismen) an zentraler Stelle Überlegungen zur Zweckmäßigkeit von Mitteln, das heißt ihrer Eignung zur Erreichung bestimmter Zwecke (vgl. Wille 1894, 36), im Fall Willes des "freien Vernunftmenschen" oder, wie sich schon dem Buchtitel entnehmen lässt, des Zwecks der Befreiung.

Im Januar 1895 kehrt Landauer von einem Aufenthalt in Österreich, wo er sich Anstellung bei einem Verlag erhofft hatte, nach Berlin zurück. Schon bald nach seiner Ankunft gehört er einem Kreis um den Arbeiter und Autodidakten Wilhelm Wiese an und ist beteiligt an der Gründung der ersten anarchistischen Konsumgenossenschaft Deutschlands, mit Namen "Befreiung". (4) In ihrem Auftrag verfasst er eine theoretische Broschüre, die den praktischen Zweck verfolgt, einen möglichen "Weg zur Befreiung der Arbeiter-Klasse" aufzuzeigen und Mitstreiter auf diesem Weg zu gewinnen. (5)

Basierend auf einer Analyse der gegebenen Kräfteverhältnisse weist Landauer die Naherwartung einer politischen Revolution zurück. Zwar habe "die Befreiungsidee" (1895, 5) neuerlich an Boden gewonnen, doch wäre ein militärischer Sieg unmöglich, "die gewaltsame Auflehnung einer größeren Masse" deshalb "verderblich und unerwünscht in höchstem Maße" (ebd. 4).

Ihr Ausbleiben bedeute lediglich das Ausbleiben einer sicheren "Niederlage" (ebd. 5). Zunächst hätten demnach die Arbeiter, einfach weil sich ihnen im "Befreiungskampf kein kurzer Weg" biete, den "langen und schweren" Weg zu beschreiten, auf dem sie sich - "nothgedrungen innerhalb des heutigen Staatswesens (...) aber doch abseits von ihm" - in "freie[n], eigene[n] Organisationen" als "eine Macht" konstituieren (ebd. 5). Die Möglichkeiten zu solcher Konstitution als reale Macht zu eruieren, ist das nähere Ziel besagter Agitationsbroschüre der Genossenschaft "Befreiung". Verschiedene "Waffe[n]" (ebd. 11) - Gewalt, Aufklärung, Streiks, Boykotts, eigene Produktionsgenossenschaften usw. werden als "Mittel" (ebd. 15) mit bestimmter Eignung und Reichweite geschätzt. Sie werden dargestellt - jeweils in den Grenzen ihrer Tauglichkeit - bezogen auf den "Zweck", der da lautet: "Aufbau einer sozialistisch organisi[e]rten freien Gesellschaft" (ebd. 8).

Deutlich wird ein bestimmtes Interesse Landauers, mithin eine bestimmte Anwendung seiner Kenntnisse der politischen Ökonomie, der Wirkmechanismen und Zwänge (nicht nur) der kapitalistischen Produktionsweise. Er versucht "Möglichkeiten zu fruchtbarer Arbeit" (ebd. 5) aufzuweisen, innerhalb des bewegten Gefüges von Ursachen und Wirkungen Spielräume, in denen sich eine sich selbst verstärkende Bewegung entfalten und sukzessive eine reale ökonomische Macht aufbauen ließe, was er später "aktiven Generalstreik" (3.1, 133) nennen wird. Die Frage, die ihn umtreibt, geht auf die schwache Stelle, an die der Hebel vor allem zu setzen ist, um die Dominanz des Kapitalverhältnisses schließlich zu brechen. Sagen wir einfach, er liest Marx mit Spinoza (vgl. GWR 382) - und Bruno Wille.

Nach Schätzung aller sich bietenden Mittel zeigt sich ein einziges, unspektakulär scheinendes als besonders versprechend, eines, das zudem "alle die anderen Wege erst recht gangbar" macht (vgl. 1895, 27). "Eine Waffe bleibt übrig, die beste von allen: Die [genossenschaftliche] Vereinigung des Consums der Arbeiterklasse." (Ebd. 15)

Sie findet statt, "mit der ausdrücklichen Bestimmung, daß die ganze Summe, die durch die Umgehung des Zwischenhandels gewonnen wird, zur Ausdehnung des Unternehmens, vor allem zur Gründung von Produktionsgenossenschaften, die in unlöslicher Verbindung mit dem Konsumentenverband stehen, dienen soll." (Ebd. 21)

Über die möglichste Ausschaltung des Zwischenhandels zunächst soll also endlich, in einem zweiten Schritt, die gesellschaftliche, d.h. arbeitsteilige Identität von Konsumenten und Produzenten (6), unter Ausschluss kapitalistischen Profits überhaupt, erreicht werden: die Organisation in Produktions- und Konsumgenossenschaften (vgl. ebd. 18, 20).

Auch noch auf eine Reihe von Einwänden - interne Fallstricke und zu erwartende Widerstände geht Landauer ein, bevor er seine kleine Broschüre der Kritik empfiehlt. Das Wichtigste ist der Weg des immanenten Exodus, der für Landauer zentral bleiben wird, das möglichst umfassende Abziehen aller Kräfte aus ausbeuterischen und unterdrückerischen Verhältnissen, nicht um sie ruhen zu lassen, sondern um sie im Aufbau einer sich selbst erhaltend ausweitenden Organisation zu verwenden, die eine existenzielle Alternative bieten und so verhindern kann, dass man sich bald doch wieder, notgedrungen und murrend zwar, unter jene Verhältnisse wird beugen müssen.

Die Unternehmung hält sich nicht lange und scheitert ob mangelnden Zuspruchs, nicht zuletzt aufgrund inneranarchistischer Anfeindungen und Denunziationen als "Krämer-Anarchismus". (7)

Später sollen, unter derart widrigen Bedingungen, Siedlungen ein keimhaftes Beginnen immerhin erlauben (vgl. 2, 309). Seine Illusionslosigkeit in der Einschätzung realer Machtverhältnisse wird Landauer sich erhalten. Noch wenn er 14 Jahre später, immer noch nicht verzweifelt an seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, anlässlich des Verbalradikalismus, der Forderungshuberei und ritualisierten Aufmärsche des Ersten Mai, all der "Scheinbarkeiten und Verkleidungen der Schwäche", die nur zu dem Zweck veranstaltet werden, "eine Macht vorzutäuschen, die nicht vorhanden ist", das Fehlen noch der geringsten positiven Idee und Gestaltungskraft beklagt (vgl. 3.1, 78ff.). Noch wenn er 15 Jahre später das deutsche Proletariat mit der Frage konfrontiert, wo ihre sozialistische Organisation denn nun sei, die es erlauben würde, nicht mehr für das Kapital sondern die eigenen Bedürfnisse zu arbeiten.

Wenn er "eitle Wortemacher und gläubige Wortanbeter" all jene schilt, die das gesellschaftliche Verhältnis "Staat" wie "eine Fensterscheibe" meinen "zertrümmern" zu können, anstatt nur dadurch, "sich abseits des Staates tatsächlich zu konstituieren." (Vgl. 3.1, 234) Sicher nicht aus moralischer Entrüstung - das läge ihm fern -, sondern in Sorge um die zweckmäßigen Mittel, die nicht getrennt von ihrem Ziel, zugleich "Unmittelbarkeiten des Sozialismus" wären (vgl. 3.1, 199). Noch ebenso praktisch denkt er, wenn er 1911 die Arbeiter auffordert, sich zur Verhinderung des nahenden Krieges im richtigen Augenblick unter Umgehung ihrer gewählten Vormünder "zum freien Arbeitertag" (3.1, 278) zusammenzuschließen, oder wenn er 1915, als es zu spät ist, den rührenden Traum einer neuen "Internationale" bitter belächelt (vgl. 2, 291).

Bei allem, was Landauer im Sinne einer wirklichen Praxis der Befreiung unternahm, musste er sich immer zugleich des Wunderglaubens seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen erwehren. Seine Aufrufe zu sozialistischer Arbeit, zur Propaganda der Tat, wie er sie verstand, wendeten sich ebenso gegen die Naherwartung des "große[n] Kladderadatsch" (3.1, 272) wie gegen jene einer kommenden Revolution, die zuerst alles kurz und klein zu schlagen hätte, um dann aus dem Nichts, auf der tabula rasa des Trümmerfeldes der bestehenden, die neue Gesellschaft zu errichten (vgl. 2, 305; 1967, 130).

Landauer kehrte dieses Verhältnis eher um. "Aus aufbauendem Geist heraus muß zerstört werden" (1967, 145), und vieles, was sich nicht ändern lässt, muss dahingehen, weil die Kräfte abgezogen werden zu eigener Organisation (vgl. ebd. 184). Kein Vakuum entsteht so, und keine Möglichkeit zum Despotismus.

Auch für das sog. "freie Genussrecht" (vgl. 2, 169) und die denkfaule Allerweltsduselei einer "kommunistischen" Vergesellschaftung, die die Produktionsmittel eigentlich "allen" in die Hände geben möchte, hatte Landauer wenig übrig (vgl. 2, 308). Wohl nicht zuletzt, weil sie dazu führen müsste, die selben einer neuen Kaste von Vertretern, letztlich einem Einzelnen, der das abstrakte "alle" repräsentieren könnte, zu übertragen.

Es wäre noch viel zu sagen über die Weisen, in denen sich heute an Landauer anschließen und von ihm lernen lässt, wenn wir ihn nur lesen. Dies ist nicht der Ort. Doch will die anarchistische Bewegung wirklich erstarken und sich nicht, wie der Marxismus, in Ermangelung eines positiven Projektes, theoretisch einrichten in ihrer praktischen Sterilität oder ihrer Beschränkung - die sie kaum merkt - auf reaktive Formen des "Widerstands" und des "Protests", muss sie unvermeidlich nach "Mitteln und Wegen" suchen, "Stufen zur sozialistisch organisierten freien Gesellschaft in die heutige bürgerliche Gesellschaft hineinzubauen" (1895, 13), anstatt nach Gründen, lieber nichts zu tun.

Sie muss auch wissen, was es heißt zu wollen, nicht nur zu sehnen, zu wünschen oder gar bloß zu hoffen, sondern wirklich zu wollen, verstanden als die lustvolle Entfesselung und das sofortige ins-Werk-Setzen aller schöpferischen Energien, oder mit Kant zu sprechen, "als die Aufbietung aller Mittel", um vielfach "wach und bescheiden im Kleinen fürs Große" (3.1, 274) zu wirken.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil 1 dieses Artikels siehe unter:
GRASWURZELREVOLUTION/1352: Eine Praxis der Befreiung - Teil 1
Link: www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/gras1352.html


Anmerkungen:

(1) Landauer, G. (1929), Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Hg. von Martin Buber & Ina Britschgi-Schimmer. Mit einem Vorwort von Martin Buber. 2. Bde. Frankfurt/M., Bd. 1, S. 3.

(2) Gustav Landauer; Christoph Knüppel (Hg.) (1999), Gustav Landauer und die Friedrichshagener. Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1891 bis 1902, Berlin (Friedrichshagener Hefte Nr. 23), S. 36.

(3) Zit. nach: Rolf Kauffeldt; Gertrude Cepl-Kaufmann (1994): Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende: der Friedrichshagener Dichterkreis, München, S. 200.

(4) Vgl. Gustav Landauer; Siegbert Wolf (Hg.), Gustav Landauer. Ausgewählte Schriften, Lich 2008ff., Bd. 3.1, S. 240. Im Folgenden im Text nur mit Band und Seitenzahl zitiert.

(5) Gustav Landauer (1895), Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse, Berlin. Online unter: http://wp.me/a2EcvP-5q

(6) Gemeint sind - in begrifflicher Abgrenzung zu Marx - die tatsächlichen Arbeiter, auch die sog. "geistigen" (vgl. 1895, 18, 29).

(7) Vgl. Tilman Leder, Der zweite "Sozialist" (1895-1899), in: Rotes Antiquariat, Katalog Januar 2011: Anarchistica, Sozialistica, S. 135-139, S. 135.

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 42. Jahrgang, Nr. 383, November 2013, S. 17
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2013