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GRASWURZELREVOLUTION/1142: Ein Tschernomobil von Nordrhein-Westfalen nach Russland


graswurzelrevolution 354, Dezember 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

ÖKOLOGIE
Ein Tschernomobil von NRW nach Russland
Noch in diesem Jahr soll Atommüll aus Deutschland an den Ural

Von Bernhard Clasen


Deutsche & russische Atomwirtschaft Hand in Hand und auf dem Rücken der Bevölkerung

951 hoch radioaktive Brennstäbe sollen, so wollen es deutsche und russische Regierung, deutsche und russische Atomwirtschaft, noch in diesem Jahr auf die Reise gehen. Bei stürmischem Herbstwetter werden sie ihren Weg von einem deutschen oder niederländischen Hafen an der norwegischen Küste vorbei Richtung Murmansk wagen. Drei mal soll eine Ladung mit jeweils 6 Waggons auf die Reise gehen.

Die Stadt am Polarmeer ist als einziger Hafen Russlands technisch in der Lage, Schiffe mit Castoren anlanden zu lassen und die Castoren auf Züge zu verladen. Murmansk ist bereits heute Friedhof zahlreicher außer Dienst genommener Atom-U-Boote, die die Küste vor der Stadt verseuchen. Mit dem deutschen Atommüll, sollte er denn kommen, wird die atommüllgeplagte Stadt weiteren Risiken ausgesetzt.

Sollten sich vor Ort UmweltschützerInnen auf die Straße wagen, um gegen die Ankunft des radioaktiven Mülls zu protestieren, ist auch hier vorgesorgt: Wiederholt hat die russische Miliz AtomkraftgegnerInnen mit Gewalt auseinandergetrieben, die den Mut hatten, mit Transparenten und Plakaten gegen die Atomimporte zu demonstrieren. Deutsche und russische Atomwirtschaft haben so in der russischen Miliz einen Partner, der ihre Interessen zuverlässig schützt.

Dann geht "unser" Atommüll weiter mit dem Zug in die 100.000 EinwohnerInnen zählende Stadt Osersk, wo der Abnehmer, die Plutoniumfabrik "Majak" (vgl. GWR 353), schon auf ihre Ware wartet.


Osersk ist keine gewöhnliche Stadt

Osersk ist eine sogenannte "geschlossene Stadt". Rein kommt nur, wer in ihr wohnt oder eine Genehmigung hat. Für die BürgerInnen Russlands, geschweige denn für AusländerInnen, ist es schwerer eine Besuchserlaubnis für die Stadt Osersk zu bekommen als ein deutsches Visum.

Auch hier haben also deutsche und russische Atomwirtschaft vorgesorgt: Kein Greenpeace-Aktivist, keine unabhängige Journalistin wird vor Ort irgendetwas tun, was die Pläne der Atomwirtschaft stören könnte. In der Atomstadt herrscht wie in allen geschlossenen Städten Russlands Ausnahmerecht.

Weitgehend von der Öffentlichkeit versteckt, kann so der Atommüll dort die Gesundheit der Bevölkerung bedrohen. Wenn man bedenkt, dass die Wiederaufbereitung von einer Tonne abgebrannter Brennstoffe die 150- bis 200fache Menge an Atommüll produziert, wenn man weiter weiß, dass der dort produzierte Atommüll in großen Mengen direkt in die anliegenden Gewässer eingeleitet wird, müsste man eigentlich begreifen, dass derartige Atommülltransporte nicht zu verantworten sind.


Das Leben der Menschen, die "unseren" Atommüll erhalten

1949, kurz nach Beginn des Kalten Krieges und dem Einsetzen des Wettrüstens, wurde das Plutoniumwerk Majak in Osersk gebaut. In den vergangenen Jahren wurde bei mehreren Katastrophen, aber auch beim laufenden Betrieb der Anlage, ein Mehrfaches dessen an Radioaktivität an die Umwelt abgegeben, als durch den Reaktor von Tschernobyl 1986.

In der Folge stiegen die Erkrankungsraten um ein Vielfaches an. Waren 1990 noch 11 Kinder pro 100.000 in Tscheljabinsk mit Missbildungen auf die Welt gekommen, so waren es 2008 bereits 47,6. Dies berichtet die Tscheljabinsker Umweltschützerin Natalja Mironowa. Sie muss es wissen, denn sie wohnt gerade einmal 65 Kilometer von der Plutoniumfabrik entfernt.

Wie sehr auch in der vierten Generation Strahlung wirkt, zeige, so Mironowa, eine weitere Zahl: 2008 sei die Zahl von Kinderkrebs um 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen. "Den Import von Atommüll aus Deutschland und die Mitwirkung der deutschen Regierung werten wir als Mitwirkung der Führung Deutschlands an einem medizinischen Experiment, das das russische Gesundheitsministerium durchführt, an den Menschen, die in radioaktiv verseuchten Gebieten leben", so Wladimir Tschuprow von Greenpeace Russland.


Deutsche & russische Anti-Atom-Bewegung

Doch es gibt auch erfreuliche Entwicklungen: Verstärkt arbeiten AtomkraftgegnerInnen aus Deutschland und Russland zusammen.

27.000 Tausend Tonnen abgereicherten Atommülls die im nordrhein-westfälischen Gronau angesiedelte Firma Urenco nach Russland liefern. Vier Städte wurden beliefert, drei von ihnen sind geschlossene Städte. Doch 2009 war Schluss. Gemeinsam waren UmweltschützerInnen aus Deutschland und Russland immer wieder Sturm gelaufen gegen diese Transporte.

Bereits beim Verlassen der Atomtransporte von "Urenco" in Gronau gingen die UmweltschützerInnen auf die Straße. Und als der Atommüll in St. Petersburg eintraf, standen russische UmweltschützerInnen schon bereit, die die Ware aus Deutschland gebührend begrüßten.

Ende 2009 musste "Urenco" die Transporte abgereicherten Urans nach Russland einstellen (die GWR berichtete). Und schon früher, 1996, hatten russische und finnische UmweltschützerInnen gemeinsam den geplanten Transport von finnischem Atommüll nach Russland verhindert.

Auch heute kämpfen UmweltschützerInnen aus Russland gemeinsam mit ihren in Deutschland tätigen KöllegInnen gegen die tödliche Fracht. Natalja Mironowa aus dem russischen Tscheljabinsk startete eine Unterschriftenliste gegen den Import deutschen Atommülls, die innerhalb kürzester Zeit von zahlreichen UmweltschützerInnen und Organisationen aus Japan, Frankreich, Polen, Deutschland, Russland, Kasachstan, USA, Österreich, England, Australien und anderen Ländern unterschrieben wurde.

Vladimir Slivjak unterstützte deutsche Umweltgruppen mit Pressekonferenzen in Düsseldorf, Berlin und anderen Städten. Gemeinsam wollen russische und in Deutschland aktive UmweltschützerInnen gegen den Export der tödlichen Fracht nach Russland klagen. Die Proteste zeigen erste Wirkung: Hamburg, Bremen und NRW wollen den Transportplänen Widerstand leisten.

Und auch Bundesumweltminister Röttgen ist vorsichtiger geworden. Erst wolle man sich vor Ort von der Sicherheit des Atommülls überzeugen, bevor man diesen auf die Reise schicke, so Röttgen.

Da kann man ja nur hoffen, dass Herr Röttgen auch eine Genehmigung von der russischen Atomenergiebehörde Rosatom erhält, wenn er seinen Fuß in die geschlossene Stadt Osersk, wo sich die Plutoniumfabrik Majak befindet, setzen will.


Ecodefense: http//ecodefense.baltic.net.ru


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 354, Dezember 2010, S. 12
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
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Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2010