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GLEICHHEIT/5639: Vorgezogene Neuwahlen in Griechenland - Tsipras will Sparpaket durchsetzen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Vorgezogene Neuwahlen in Griechenland: Tsipras will Sparpaket durchsetzen

Von Alex Lantier
22. August 2015


Der griechische Premierminister Alexis Tsipras verkündete am vergangenen Donnerstag in einer landesweiten Fernsehansprache seinen Rücktritt und rief zu vorgezogenen Neuwahlen auf. Während Tsipras die Umsetzung eines massiven Sparpakets der Europäischen Union (EU) in Griechenland verteidigte, heißt es aus Regierungsquellen, dass die Wahlen für den 20. September angesetzt wurden, also bevor die Sparmaßnahmen im Oktober in Kraft treten.

"Ich werde in Kürze zum Präsidenten der Republik gehen, um mein Rücktrittsgesuch sowie das Rücktrittsgesuch meiner Regierung einzureichen", erklärte Tsipras, bevor er sich mit Präsident Prokopis Pavlopoulos traf.

Während des Treffens mit Pavlopoulos sagte Tsipras, dass er nicht genug Rückhalt für seine Regierungsagenda habe: "Die gegenwärtige Regierung kann keine Mehrheitsregierung oder eine Regierung der nationalen Einheit ermöglichen."

Die griechische Verfassung sieht vor, dass die Parteivorsitzenden der drei größten Parteien - Syriza, der rechtskonservativen Nea Dimokratia (ND) und der pro-europäischen Partei To Potami (Der Fluss) - die Gelegenheit bekommen, innerhalb der nächsten drei Tage eine Regierung zu bilden. Wenn sie scheitern, wird ein Übergangspremierminister ernannt, in diesem Fall die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes Vassiliki Thanou-Christofilou, die bis zu den Wahlen die Regierungsgeschäfte leiten würde.

Die Wahlen sind ein zynischer Versuch Syrizas die eigene Wahlbasis zu stärken und den Staatsapparat für eine künftige Konfrontation mit der Arbeiterklasse zu stabilisieren. Tsipras hat die Absicht, im Amt zu bleiben. Aber er will ein neues Parlament und eine neue Regierung bilden, die ihm eine verlässliche Unterstützung bei der Umsetzung der Austeritätspolitik garantieren.

Als Tsipras am 13. Juli dem EU-Sparpaket zustimmte, setzte er sich schamlos über den Willen der griechischen Wählerschaft hinweg. Sie hatte Syriza im Januar an die Regierung gewählt, weil die Partei ein Ende des europäischen Sparmemorandums versprach. In einem Referendum, das Premier Tsipras während der Verhandlungen mit der EU über die Austeritätspolitik anberaumt hatte, stimmte die griechische Bevölkerung mit der überwältigenden Mehrheit von 61 Prozent gegen die Sparagenda.

Gestern verteidigte Tsipras seine bisherige reaktionäre und undemokratische Politik. Gestützt auf das scheinheilige Argument, Syriza habe härter verhandelt als vorangegangene Regierungen, rief er zur Wahl seiner Partei auf. "Ich bin sehr stolz auf meine Regierung. Wir haben hart und lange verhandelt.", erklärte er.

"Ich will offen und ehrlich sein: Wir haben nicht die Einigung erzielt, die wir vor den Januarwahlen erwartet hatten", fuhr Tsipras fort und bestand darauf, dass Griechenland jetzt dazu verpflichtet sei, der Vereinbarung nachzukommen. "Ich sehe es als meine moralische und politische Pflicht an, mich eurem Urteil zu unterwerfen [...] Euer Votum wird darüber entscheiden, ob wir mit dem Abkommen, das wir vereinbart haben, den Weg aus der Krise finden werden."

Tsipras' Selbstdarstellung als großer Demokrat, bedacht auf ein Volksmandat für seine Politik, ist ein abscheulicher Betrug. Es steht keine einzige Partei zur Wahl, die Tsipras' Abkommen, diktiert gegen den Willen der Bevölkerung, ablehnen würde. Das ist die bittere Wahrheit. Die anderen Parteien, die möglicherweise eine Regierungskoalition bilden oder ihr beitreten könnten, also ND, To Potami und die sozialistische PASOK, sind allesamt Verfechter der EU-Sparpolitik.

Es bahnt sich eine offene Konfrontation zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse an. Der Widerstand wird wachsen, wenn Tsipras' Sparmaßnahmen, einschließlich der massiven Rentenkürzungen, im Oktober die griechische Bevölkerung treffen.

Offenbar verkündet Tsipras jetzt Neuwahlen, um aus den aktuellen Umfragen Profit zu schlagen. Sechs Monate nach der Regierungsübernahme und noch bevor die Sparmaßnahmen in Kraft treten, steht Syriza in den Umfragen immer noch weniger diskreditiert dar, als der Rest des politischen Establishments in Griechenland. In einer Umfrage im Juli erhielt Syriza 40 Prozent der Stimmen, während ND, die wahrscheinlich den zweiten Platz in einer Wahl belegen würde, nur 20 Prozent bekam. Syriza würde versuchen, ihre Stimmenanzahl zu erhöhen oder rechte Parteien wie ND in die neue Regierungskoalition zu integrieren.

Ein wesentlicher Faktor in Tsipras' Überlegungen betrifft die endgültige Abwickelung der Abweichler in seiner Partei, die bereits seit langem von der Europäischen Union, dem Internationalen Währungsfond und den Medien gefordert wurde. Da seine Regierungsmehrheit zusehends erodierte, sah Tsipras sich mit einem Misstrauensvotum konfrontiert. 43 Syriza-Abgeordnete folgten in der letzten Parlamentsabstimmung [1] über das Austeritätsprogramm nicht dem Premierminister. Die meisten von ihnen gehörten zur Linken Plattform in der Partei. Daraufhin sank die Anzahl der Abgeordneten in der Regierungskoalition, die das Sparprogramm unterstützten, auf 118 - insgesamt 120 wären notwendig, um ein Misstrauensvotum im Parlament zu überstehen.

Bislang hat sich die Linke Plattform in jeder entscheidenden Abstimmung, in der ihre Oppositionshaltung die EU-Austeritätspolitik tatsächlich hätte gefährden können, als zuverlässiger Verbündeter von Tsipras erwiesen. Am 30. Juli spielte sie die führende Rolle dabei, eine Abstimmung über die Austeritätspolitik [2] in Syrizas Zentralkomitee zu umgehen. Das Zentralkomitee wäre eigentlich befugt gewesen, Syrizas Gesetzgeber zu einer Ablehnung von Tsipras ausgehandelten Sparmaßnahmen zu zwingen.

Doch diese Position der Linken Plattform ist mittlerweile unhaltbar geworden. Konfrontiert mit dem Ausschluss aus der Partei, den Tsipras angestrengt hat, traten am Freitagmorgen 25 Parlamentsabgeordnete der Linken Plattform offiziell aus Syriza aus und gründeten eine neue politische Partei, die in den kommenden Wahlen antreten wird. Wie der Name "Volkseinheit" schon andeutet, ist es das Ziel der Partei, alle möglichen pseudolinken Gruppierungen zu mobilisieren, um die wachsende Opposition gegen die Sparpolitik in eine Sackgasse zu lenken. Dabei verbindet sie demagogische Phrasen gegen das Memorandum und die EU mit der Forderung nach Maßnahmen wie Kapitalkontrollen und der möglichen Wiedereinführung der nationalen Währung, die die Herrschaft des Kapitals in keiner Weise gefährden würden.

Mehrere Vertreter der bürgerlichen Presse vertraten die Ansicht, dass die schnelle Einberufung von Neuwahlen noch vor dem Ausbruch von massivem Widerstand in der Bevölkerung gegen die Sparpolitik das Beste für Tsipras sei.

Im britischen Guardian schrieb Helena Smith: "Viele meinen, die Tatsache, dass er so rasch Wahlen anberaumt hat, versetzt ihn in die Lage, seine inneren Gegner in Syriza auszumanövrieren, noch bevor die verarmte Bevölkerung die Einschnitte der weiteren Steuererhöhungen und der anderen Maßnahmen zu spüren bekommt. Wenn im Oktober die internationalen Inspektoren nach Athen zurückkehren, um ihre erste Prüfung des Bailout-Programms durchzuführen, könnte es [für Tsipras] schon zu spät sein, um aus seiner Popularität noch irgendwelches Kapital zu schlagen."

Die konservative griechische Tageszeitung Kathimerini schrieb: "Auch wenn Syrizas Umfragewerte bisher relativ unbeschadet davongekommen sind, könnte sich Tsipras in seiner Haut bald nicht mehr wohl fühlen, wenn die Wähler anfangen, die Auswirkungen der zunehmenden Sparmaßnahmen zu spüren."

Solche Kommentare unterstreichen den verlogenen und reaktionären Charakter der Syriza-Partei, die seit Beginn ihrer Regierungszeit dem Finanzkapital als Instrument gegen die Arbeiter gedient hat. Indem sie sich als Verteidiger der griechischen Bevölkerung darstellt, versucht sie sich innerhalb des Staates Unterstützung zu sichern, während sie gleichzeitig daran arbeitet, eine starke Mehrheit im griechischen Parlament zusammenzuschweißen, um den Widerstand gegen die Sparpolitik, den die griechische Wählerschaft immer wieder klar ausgedrückt hat, mit Füßen zu treten.

Einige Finanzvertreter zeigten sich Donnerstagnacht besorgt, dass die Formierung einer Übergangsregierung und länger andauernde politische Unsicherheit die Kürzungen, über die sich Syriza und die EU verständigt haben, blockieren könnten. So schrieb die Londoner Financial Times: "Es wird erwartet, dass die Wahlkampagne die Umsetzung der Haushalts- und Strukturreformen, die mit den Kreditgebern vereinbart wurden, verzögern wird, da die Übergangsregierung kein Mandat hat, um politische Entscheidungen zu treffen."

Doch eine Reihe von Regierungsvertretern beeilte sich sogleich, Tsipras' Entschluss zu Neuwahlen in Schutz zunehmen und als zentralen Hebel für die Durchsetzung der Sparagenda in Griechenland zu begrüßen. Martin Selmayr, Kabinettchef des Europäischen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, lobte auf Twitter den Ruf nach vorgezogenen Neuwahlen: "Rasche Wahlen in Griechenland könnten eine breitere Unterstützung für das ESM [den Europäischen Stabilitätsmechanismus] Stabilitäts- und Hilfsprogramm, das gerade Premier Tsipras von griechischer Seite unterzeichnet hatte, möglich machen."

Nach einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, die gerade auf Brasilien-Besuch war, erklärte die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff, Merkel habe ihr gesagt, dass "Tsipras' Rücktritt Teil der Lösung, nicht Teil der Krise sei".

Pierre Moscovici, ein ehemaliger Minister der regierenden französischen Sozialistischen Partei, der jetzt Europäischer Kommissar für Wirtschaft und Währung ist, begrüßte Tsipras' Schritt in einem Twitter-Post: "Ich nehme Tsipras' Entscheidung zur Kenntnis. Griechenland hat das neue Programm unterzeichnet. Eine breite Unterstützung und entschlossene Umsetzung sind der Schlüssel zum Erfolg."


Anmerkungen:
[1] https://www.wsws.org/de/articles/2015/08/15/gree-a15.html
[2] https://www.wsws.org/de/articles/2015/08/04/pers-a04.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 22.08.2015
Vorgezogene Neuwahlen in Griechenland: Tsipras will Sparpaket durchsetzen
http://www.wsws.org/de/articles/2015/08/22/grie-a22.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2015

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