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GLEICHHEIT/5177: EU-Gipfel in Ypern - Der Anfang vom Ende der EU in ihrer gegenwärtigen Form


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

EU-Gipfel in Ypern: Der Anfang vom Ende der EU in ihrer gegenwärtigen Form

Von Peter Schwarz
26. Juni 2014



Ratspräsident Herman Van Rompuy hat zur Eröffnung des EU-Gipfels am heutigen Donnerstag ins belgische Ypern eingeladen. Die 28 Staats- und Regierungschefs werden dort der Hunderttausenden Toten gedenken, die im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern rund um die Stadt in Flandern gefallen sind. "Die bewegende Feier wird zeigen, was Europa ist: ein Projekt des Friedens, der Solidarität und der Zusammenarbeit", bemerkte Van Rompuy dazu.

So wie es aussieht, könnte Ypern eher zum Symbol für das Gegenteil werden: für nationalen Zwist, soziale Konflikte und Krieg; für das Ende der Europäischen Union in ihrer gegenwärtigen Form.

Im Vorfeld des Gipfels hat sich die Auseinandersetzung über den zukünftigen Präsidenten der Europäischen Kommission derart zugespitzt, dass ein Kompromiss so gut wie ausgeschlossen scheint. Vor allem der britische Premier David Cameron hat sich darauf versteift, die Wahl des ehemaligen luxemburgischen Regierungschefs Jean-Claude Juncker, der von der Mehrheit des EU-Parlaments und der Regierungschefs unterstützt wird, um jeden Preis zu verhindern. Eine Kampfabstimmung, in der Cameron unterliegt, scheint unausweichlich. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU würde damit der einflussreiche Chef der Brüsseler Bürokratie mit ihren 33.000 Mitarbeitern nicht im Konsens bestimmt.

Eine demütigende Niederlage Camerons würde die EU-Gegner in Großbritannien stärken und könnte den Austritt des Landes aus der Europäischen Union einleiten. Dies wiederum hätte eine empfindliche Störung des Gleichgewichts innerhalb der EU zur Folge. Der politische Einfluss Frankreichs und vor allem Deutschlands würde zwar kurzfristig steigen, langfristig würde das Ausscheiden der drittgrößten Volkswirtschaft aus der EU aber die Spannungen zwischen den beiden Ländern verschärfen. Sowohl Paris wie Berlin haben sich in der Vergangenheit wiederholt auf London gestützt, um missliebige Forderungen des jeweils anderen abzuwehren.

Cameron ist ein Opfer der Geister geworden, die er selbst gerufen hat. Um die EU-feindliche UKIP und die EU-skeptischen Strömungen in der eigenen Tory-Partei in Schach zu halten, hat er Juncker als Verkörperung des europäischen "Förderalismus" verteufelt, als Befürworter eines europäischen Zentralstaats. Die britische Boulevard-Presse hat dies begierig aufgegriffen. So behauptete die Daily Mail, Juncker sei "berüchtigt für seinen fanatischen Föderalismus" und habe "mit wilder Entschlossenheit eine Vision der politischen und wirtschaftlichen Einheit verfolgt, die im Gegensatz zum öffentlichen Willen, kulturellen Identitäten, demokratischen Grundsätzen und dem einfachen Menschenverstand steht".

Das ist maßlos übertrieben. Der Luxemburger Christdemokrat, der das eine halbe Million Einwohner zählende Großherzogtum in seiner 19-jährigen Regierungszeit in ein Steuerparadies für Banken und Großkonzerne verwandelt hat, steht Cameron in vielen politischen Fragen sehr nahe. Als Chef der Eurogruppe hat er eine Schlüsselrolle dabei gespielt, marode Banken mit Milliarden aus öffentlichen Kassen zu retten. Einen wahren Kern haben die britischen Anschuldigungen gegen ihn höchstens insofern, als er im Verdacht steht, die Interessen der Euro-Länder gegen die Ansprüche der City of London zu vertreten.

Was Cameron an Juncker vor allem stört, ist der Umstand, dass er vom Europäischen Parlament für das Amt des Kommissionspräsidenten vorgeschlagen wurde. Cameron ist der Auffassung, dass der Chef der Brüsseler Behörde ausschließlich von den Staats- und Regierungschefs als Vertreter der Nationalstaaten nominiert werden darf und nicht vom Parlament, einer zentralen EU-Institution.

Die großen Fraktionen des Europaparlaments waren in diesem Jahr erstmals mit gesamteuropäischen Spitzenkandidaten in die Europawahl gezogen und hatten vereinbart, nur den Kandidaten der siegreichen Fraktion zum Kommissionspräsidenten zu wählen. Nun beharren vor allem die Sozialdemokraten auf der Einhaltung dieser Vereinbarung. Sämtliche sozialdemokratischen Regierungschefs und die deutsche SPD unterstützen Juncker, den Spitzenkandidaten der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der stärksten Fraktion im neuen Parlament.

Als sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach der Wahl behutsam vom eigenen Kandidaten Juncker distanzierte, um Cameron entgegenzukommen, setzte sie sich dem Vorwurf der Wählertäuschung aus. Versuche, Cameron durch das Angebot eines anderen hochrangigen EU-Postens zur Zustimmung zu bewegen, scheiterten. Der britische Regierungschef ist inzwischen völlig isoliert; nur der autoritäre ungarische Premier Viktor Orbán unterstützt ihn noch.

Seither ereifern sich die Zeitungen über die "taktischen Fehler" Camerons, der sich durch sein "ungestümes" Verhalten in eine Sackgasse manövriert habe, und Merkels, die der Wahl Junckers zum Spitzenkandidaten niemals hätte zustimmen dürfen. Doch hinter den wachsenden Spannungen stehen mehr als taktische Fehler. Die Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben die zentrifugalen Tendenzen in Europa gestärkt. Unter dem Druck von Rezession und wachsenden sozialen Spannungen stellen die Regierungen nationale Interessen in den Vordergrund.

Der Gipfel von Ypern findet im Schatten der Europawahl vom Mai statt, die fast allen Regierungsparteien und der EU als ganzer eine massive Abfuhr erteilt hatte. Weit über die Hälfte der Stimmberechtigten blieb der Wahl fern, während ein Fünftel der Teilnehmer für Parteien stimmte, die die EU kritisieren oder ablehnen. Da die Sozialdemokraten und die Europäische Linke die EU unterstützen, konnten rechte, nationalistische Parteien von der Ablehnung der EU profitieren. In Großbritannien wurde die UKIP, in Frankreich die Nationale Front stärkste Partei.

Während sich Großbritannien von der EU entfernt, beantworten die Befürworter einer starken EU das Wahlergebnis mit neuen Angriffen auf die Arbeiterklasse. Das steckt hinter der Auseinandersetzung über die zukünftige Handhabung des Stabilitätspakts, die neben dem Streit um Juncker die Vorbereitung des Gipfels beherrschte.

Der französische Präsident François Hollande und der italienische Regierungschef Matteo Renzi, beide Sozialdemokraten, haben ihre Unterstützung für Juncker erklärt, allerdings nur unter der Bedingung, dass die strikten Sparziele des Stabilitätspakts flexibler angewandt werden. Sie werden vom SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel unterstützt, der in Merkels Großer Koalition das Wirtschaftsministerium leitet. Gabriel nahm Anfang der Woche in Paris an einem Treffen sozialdemokratischer Regierungschefs zur Vorbereitung des EU-Gipfels teil.

Den Sozialdemokraten geht es nicht darum, den massiven Sozialabbau der vergangenen Jahre zu stoppen. Im Gegenteil, die Lockerung der Sparziele soll den nötigen Spielraum für massive Arbeitsmarkterformen schaffen, die die Wirtschaft auf Kosten der Arbeiter wettbewerbsfähiger machen. Renzi hat sich zum Ziel gesetzt, die Wettbewerbsfähigkeit Italiens von Platz 65 der Weltrangliste der Weltbank auf Platz 15 zu katapultieren. Als Vorbild dient ihm die "Agenda 2010" von SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998-2005), die in Deutschland einen riesigen Niedriglohnsektor hervorgebracht hat.

"Regierungen, die ihren Bürgern spürbare Veränderungen zumuten - die etwa den Kündigungsschutz lockern, automatische Lohnsteigerungen abschaffen oder Zuschüsse kürzen -, sollen mehr zeitlichen Spielraum bekommen, um Haushaltsdefizit und Schulden abzubauen," fasst die Süddeutsche Zeitung die Pläne der Sozialdemokraten zusammen.

SPD-Chef Gabriel illustrierte sie mit einem Beispiel: Wenn eine Regierung die Lohnnebenkosten senke, so die Arbeit billiger mache und deshalb auf 20 Milliarden Euro Einnahmen verzichte, müsse dies bei der Defizitberechnung berücksichtigt werden, sagte er in Paris.

Die europäischen Regierungen sind sich bewusst, dass dies massiven Widerstand hervorrufen wird. Von den Medien weitgehend ignoriert verabschiedeten die zuständigen Minister deshalb am Vorabend des Gipfels Bestimmungen zur Anwendung der sogenannten "Solidaritätsklausel", die den europaweiten Einsatz von Militär, Polizei und anderen Sicherheitskräften in Krisen regelt, die "schwerwiegende Auswirkungen auf Menschen, die Umwelt oder Vermögenswerte" haben. Darunter fällt auch die Bekämpfung von Protesten und Aufständen.

Ebenfalls auf der Tagesordnung des Gipfels steht die Unterzeichung des wirtschaftlichen Teils des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine. Die Verweigerung der Unterschrift unter dieses Abkommen hatte zum Putsch gegen den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch geführt, der von Faschisten getragen und von der EU unterstützt wurde.

Ursprünglich sollten auf dem Gipfel auch verschärfte Sanktionen gegen Russland beschlossen werden. Nachdem der russische Präsident Putin einen Rückzieher gemacht hat, wird dies wohl nicht der Fall sein. Mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens, das die Ukraine eng an die EU bindet, macht der Gipfel aber deutlich, dass die EU ihre aggressive Offensive gegen Russland fortsetzt.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 26.06.2014
EU-Gipfel in Ypern: Der Anfang vom Ende der EU in ihrer gegenwärtigen Form
http://www.wsws.org/de/articles/2014/06/26/gipf-j26.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2014