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GLEICHHEIT/4616: Proteste in Bulgarien - Die politischen Fragen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Proteste in Bulgarien: Die politischen Fragen

Von Christoph Dreier
7. März 2013



Am vergangenen Sonntag kam es in Bulgarien erneut zu Massendemonstrationen gegen die horrenden Energiepreise und die korrupten politischen Parteien des Landes. Während sich die Teilnehmer gegen die von IWF und EU verordneten Sparmaßnahmen und die bittere Armut zur Wehr setzen, dominieren unter den Organisatoren kleinbürgerliche Kräfte, die selbst an die Fleischtöpfe gelangen wollen.

Vor zwei Wochen hatten Massenproteste die konservative Regierung von Premier Bojko Borissow (GERB) zu Fall gebracht. Demonstranten griffen die Büros der großen Energiekonzerne an und strömten zu Zehntausenden auf die Straßen. Nun versammelten sich erneut mehrere Zehntausend Menschen in insgesamt 25 Städten des Landes.

Es handelte sich bei diesen Protesten um einen fundamentalen sozialen Aufstand. Bulgarien ist das ärmste Land der EU. Die Arbeitslosigkeit ist im Januar offiziell auf 12,4 Prozent, unter Jugendlichen sogar auf 28,3 Prozent gestiegen. Laut Caritas haben 40 Prozent der Kinder nicht genug zu essen.

Diese humanitäre Katastrophe ist das direkte Resultat der Sparpolitik der Regierung, die dem Land erst vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und später von der EU vorgeschrieben wurde. Obwohl Bulgarien mit 16,3 Prozent des BIP einen extrem niedrigen Schuldenstand hat, fordert die EU immer neue Reformen und Deregulierungen. Erst 2005 waren die Elektrizitätsunternehmen privatisiert und den neuen Besitzern eine sechzehnprozentige Profitgarantie zugesichert worden. Kurz nach dem Beitritt zur EU im Jahr 2008 reduzierte das Land dann sämtliche Steuern auf einen Satz von zehn Prozent.

Die Teilnehmer der Proteste wenden sich primär gegen diese schreiende soziale Ungleichheit, doch politisch werden sie von wohlhabenden Elementen der Mittelklasse dominiert, die Nationalismus schüren und die Bewegung nutzen, um ihre eigene Stellung im politischen und wirtschaftlichen Gefüge zu verbessern. Den sozialen Interessen der großen Mehrheit der Arbeiter in Bulgarien sind sie hingegen feindlich gesonnen.

Seit die Proteste im Februar zum Massenphänomen wurden, waren diese Tendenzen bemüht, die soziale Frage in den Hintergrund zu drängen und stattdessen Fragen der Bürgerbeteiligung, der Regierungsumbildung und der Regulierung von Monopolen ins Zentrum zu stellen.

Am 24. Februar schrieb eine Gruppe von Demonstranten, unter denen sich auch zahlreiche Initiatoren der Proteste befanden, einen offenen Brief an Staatspräsident Rossen Plevneliev, der von den Medien begierig aufgegriffen wurde und seitdem quasi als Programm der Demonstrationen gilt.

Während die große Mehrheit der Demonstrationsteilnehmer auf die Straße geht, weil sie nicht mehr bereit ist, die horrenden Rechnungen zu bezahlen, und eine Verstaatlichung der Unternehmen fordert, spricht der Brief lediglich von der Verstaatlichung der Energieauslieferung, und zwar "in Übereinstimmung mit den EU-Normen und Direktiven". Die Klagen gegen säumige Elektrizitätskunden sollen nicht eingestellt, sondern lediglich aufgeschoben werden, bis die Legitimität der Rechnungen festgestellt ist.

Die Autoren des Briefes fordern außerdem die Öffnung des Energiesektors für den freien Markt. Der Brief spricht sich auch explizit gegen die Subventionierung der Kohleproduktion aus, von der tausende Arbeitsplätze im Land abhängen. All dies sind Forderungen, die von der EU schon seit Jahren an Bulgarien gerichtet werden und die sich direkt gegen die sozialen Rechte der Arbeiter richten.

Dieses rechte, arbeiterfeindliche Programm geht mit Attacken auf demokratische Rechte einher. Der Brief wehrt sich nach dem Rücktritt der Regierung gegen die Auflösung des verhassten Parlaments. Dieses solle vielmehr im Amt bleiben und eine "Programm-Regierung" unterstützen. Eine solche Regierung solle ihrerseits die Politik umsetzen, die ein "Bürgerrat aus Experten" beschließe.

Als wichtigste Aufgaben der Regierung bezeichnet der Brief die Ablösung des Verhältniswahlrechts durch ein Mehrheitswahlrecht, das lokale Kandidaturen auch ohne Parteilisten zulässt, und eine Bürgerbeteiligung in öffentlichen Ämtern und den Ministerien. Ein Mehrheitswahlrecht würde die Chancen kleinerer Parteien und von Minderheiten, im Parlament vertreten zu sein, drastisch reduzieren und die großen Parteien stärken.

Präsident Plevneliev hat auf den Brief reagiert, indem er der Forderung nach einem Bürgerrat nachkam. In dem sogenannten Gesellschaftsrat, den er ins Leben gerufen hat, befinden sich neben Unternehmern, Wissenschaftlern und Gewerkschaftern auch Vertreter der Proteste. Von zehn geladenen Demonstranten weigerten sich nur drei, an dem Gremium teilzunehmen.

Der Bürgerrechtler Yanko Petrov, der Umweltaktivist Angel Slavchev und Doncho Dudev erklärten, dass sie nicht bereit seien, mit den Oligarchen zu verhandeln, und verließen den Rat auf der ersten Sitzung am letzten Freitag. Alle drei bekräftigten aber noch einmal die bereits in dem Brief formulierten Forderungen.

Am Montag bauten einige der Aktivisten ein kleines Protestcamp vor dem Parlamentsgebäude auf, um den Forderungen des Briefes Nachdruck zu verleihen. Sie kündigten an, die Zelte erst abzubauen, wenn die Punkte erfüllt seien.

Die Organisatoren des Camps, zu denen einige Mitglieder des Gesellschaftsrats zählen, haben sich den Namen "Adlerbrücke" gegeben, nach einer zentralen Brücke in der bulgarischen Hauptstadt, auf der in den letzten Wochen zahlreiche Proteste stattfanden. Für den 9. März lädt die Gruppe zu einer nationalen "Protestkonferenz" in die Arena Armeets, das größte und modernste Multimediazentrum der Stadt, was bereits zu Spekulationen über sehr finanzkräftige Hintermänner geführt hat. Eingeladen sind Vertreter aus 25 Städten des Landes, die der Bewegung ein Programm geben sollen.

Zentrales Ziel dieser Veranstaltung ist die Stabilisierung der Lage und das Abwürgen ernsthafter Proteste gegen die soziale Katastrophe. Der Widerstand soll dem Parlament untergeordnet werden. Yanaki Ganchev, ein Organisator des Protestcamps, betonte: "Wir sagen, dass wir die Arbeitgeber des Parlaments sind. Sie sollten bis zum 12. Mai [dem Wahltermin] daran arbeiten, diese Dinge zu erledigen."

In dem Maße, wie diese kleinbürgerlichen Kräfte die Demonstrationen dominieren, fühlen sich auch die Ultranationalisten ermutigt, die Proteste für ihre Propaganda zu nutzen. Zwar wurden Mitglieder der faschistischen Ataka vereinzelt von Demonstranten vertrieben, doch konnten sie sich häufig in einem Meer bulgarischer Fahnen frei bewegen. Die Organisatoren hatten die letzten größeren Proteste bewusst auf den Nationalfeiertag am 3. März gelegt und immer wieder betont, dass sie insbesondere die ausländischen Monopole im Energiesektor nicht akzeptieren wollen.

Das Programm der kleinbürgerlichen Tendenzen, die bei den Protesten politisch die Oberhand haben, ist den Interessen der Arbeiter diametral entgegengesetzt. Es handelt sich häufig um Kleinunternehmer oder Mitarbeiter von EU-finanzierten Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die enge Verbindungen zur europäischen Elite halten und in Bulgarien die Dominanz der Oligarchen und Politikerkaste als Hindernis für ihr eigenes Fortkommen sehen. Die EU-Politik der Sparmaßnahmen und sozialen Angriffe unterstützen sie hingegen.

Sie haben die weit verbreitete Wut der Bevölkerung gegen alle politischen Parteien des Landes aufgegriffen, um ein extrem undemokratisches und arbeiterfeindliches Programm durchzusetzen. Nun spielen sie eine Schlüsselrolle dabei, die Proteste unter Kontrolle zu bringen und in harmlose Kanäle zu lenken.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 08.03.2013
Proteste in Bulgarien: Die politischen Fragen
http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/07/bulg-m07.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2013