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GLEICHHEIT/3602: Ägyptisches Militär stürmt Meidan al-Tahrir nach friedlichen Massenprotesten


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Ägyptisches Militär stürmt Meidan al-Tahrir nach friedlichen Massenprotesten

Von unserem Korrespondenten
12. April 2011


"Mubarak ist seit fast zwei Monaten gestürzt, aber immer noch frei. Streiks und Proteste sind per Gesetz verboten. Die neue Regierung ist den USA und Israel genau so hörig wie die alte. Das Militär versucht die Revolution zu töten, aber die Revolution wird weitergehen", sagte Ahmed, ein Student der Universität Helwan, während der Massenproteste in Kairo am vergangenen Freitag. Seine Worte sollten schon wenige Stunden später ihre dramatische Bestätigung finden.

In der Nacht von Freitag auf Samstag griff das ägyptische Militär Hunderte friedliche Protestierende an, die auf dem Meidan al-Tahrir verblieben waren, um für die Fortsetzung der Revolution zu demonstrieren. Bei den brutalen Angriffen mit gepanzerten Militärfahrzeugen, Schlagstöcken, Tasern und scharfer Munition gab es Tote und Verletzte. Während der Attacke befanden sich ganze Familien auf dem Meidan al-Tahrir und schliefen in Zelten. Am nächsten morgen suchten Frauen nach ihren Kindern, die während des Massakers verschwunden waren. Mehrere Dutzend Personen, darunter Kinder und Jugendliche, sind von der Militärpolizei festgenommen und weggeschafft worden. Sie sollen, wie viele andere in den letzten Wochen, vor Militärgerichte gestellt werden.

Die brutale Gewalt ist die Antwort des Militärs auf die größten landesweiten Proteste seit dem 18. Februar, als das Land den Sturz des Diktators Hosni Mubarak feierte. Allein auf dem Meidan al-Tahrir in Kairo versammelten sich etwa eine Million Menschen. In der Mittelmeermetropole Alexandria gingen mehr als 100.000 auf die Straße, und auch in anderen Städten gab es große Demonstrationen.

In der vergangenen Woche hatte eine neue Streikwelle das Land erfasst und der Revolution nach den Massenprotesten der letzten Woche weiteren Schwung gegeben. In Suez befinden sich Tausende Kanalarbeiter im Streik, und auch in den Zentren der Textilindustrie rumort es. In Shibin El Kom, der Haupstadt der Provinz Menoufiya im Nildelta, versammelten sich am Dienstag Hunderte von Textilarbeitern der Shibin El Kom Textiles Company, um gegen das Management, weitere Massenentlassungen und Korruption zu demonstrieren.

Die Arbeiter in Shibin El Kom wurden von Arbeitern aus Mahalla El Kubra unterstützt, einem weiteren Industriezentrum des Nildeltas, in dem es 2008 zu massiven Streiks und Straßenschlachten mit Sicherheitskräften gekommen war. Gemeinsam zogen die Arbeiter von der Fabrik in einem Protestzug vor das Regierungsgebäude der Provinz Menoufiya, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die ägyptische Tageszeitung Al Ahram berichtete, dass die Arbeiter auch Slogans gegen das Regime anstimmten.

Die Arbeiter waren mit einer massiven Militärpräsenz konfrontiert. Ein Offizier drohte, scharf schießen zu lassen, falls der Protest nicht sofort abgebrochen werde. Videos auf Youtube zeigen, wie Soldaten auf Panzern provokativ Maschinengewehre vor den protestierenden Arbeitern laden. Diese ließen sich jedoch nicht einschüchtern und beschlossen, ihren Protest am Freitag auf dem Meidan al-Tahrir fortzusetzen. Sie fordern unter anderem einen Mindestlohn von 1200 Pfund (140 Euro), eine Obergrenze für Gehälter, die Auflösung des staatlichen Gewerkschaftsverbandes und die Wiederverstaatlichung privatisierter Fabriken.

Im Mittelpunkt der Proteste vom Freitag, dem so genannten "Tag der Säuberung", stand die Forderung nach einer sofortigen Abrechnung mit den Vertretern des alten Regimes. Der Oberste Militärrat, der das Land seit dem Sturz Hosni Mubaraks diktatorisch regiert, hat bislang nur wenige Handlanger Mubaraks verhaftet, die das Land geplündert, die ägyptische Bevölkerung terrorisiert und den Tod von mehr als 800 Menschen während der Revolution zu verantworten haben.

Die Wut der Protestierenden richtet sich vor allem gegen die Generäle des Obersten Militärrats. Ein junger Demonstrationsteilnehmer sagte im Gespräch mit der WSWS: "Die Generäle im Militärrat sind die Generäle Mubaraks. Es ist kein Wunder, dass sie ihre alten Freunde nicht wirklich zur Rechenschaft ziehen. Sie vertreten nicht die Interessen der Revolution, sondern ihre eigenen. Deshalb bin ich heute hier. Unsere Forderung war und ist der Sturz des Regimes."

Die Stimmung auf dem Meidan al-Tahrir gegenüber den Militärs war so feindselig wie nie zuvor. Zehntausende skandierten: "Das Volk will den Sturz des Feldmarschalls" und "das Volk will den Sturz des Regimes". Andere Sprechchöre waren gegen Israel gerichtet und die jüngsten tödlichen Angriffe des israelischen Militärs auf Palästinenser. Im weiteren Verlauf des Tages zog ein Teil der Demonstranten vor die israelische Botschaft in Giza und forderte das sofortige Ende aller wirtschaftlichen und politischen Beziehungen Ägyptens zu Israel.

Gegen Nachmittag schlossen sich einige junge Offiziere den Protestierenden auf dem Meidan al-Tahrir an. Sie wurden von der Menge frenetisch begrüßt. Sie sagten, sie teilten alle Forderungen der Revolution, und betonten: "Wir werden hier bleiben bis der Feldmarschall gestürzt ist und Mubarak verfolgt wird." Sie erklärten, dass sie keine Angst vor möglichen Konsequenzen hätten. Der Oberste Militärrat hatte allen, die sich in Uniform an den Protesten beteiligen, mit der Überstellung an ein Militärgericht, gedroht.

Ein Augenzeuge berichtete der WSWS, ein Offizier habe sein mutiges Verhalten bei den Angriffen mit dem Leben bezahlt und sechs weitere Personen seien ums Leben gekommen. Die anderen seien verhaftet und in einem Militärfahrzeug abtransportiert worden. Offizielle Quellen sprechen von drei Toten und über 70 Verletzten.

Laut Aussage des Augenzeugen sind die meisten Opfer durch scharfe Munition, die vom Militär und Sicherheitskräften direkt auf die Demonstranten gefeuert wurde, umgekommen. Zum Beweis verwies er auf ein Schussloch in einem Geländer am Rande des Meidan al-Tahrir, das sich etwa auf Brusthöhe befindet. Das Geschoss sei im Geländer stecken geblieben und habe so wahrscheinlich einem Kollegen das Leben gerettet.

Das Massaker des Militärs an friedlichen Protestierenden und übergelaufenen Soldaten zeigt, dass der Oberste Militärrat und die neue Regierung die Interessen der ägyptischen herrschenden Klasse und des Imperialismus mit denselben Mitteln verteidigen wie der gestürzte Diktator Mubarak. Ministerpräsident Essam Sharaf war früher Mitglied der Mubarak-Partei NDP.

Das brutale Vorgehen der Armee erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem alle innen- und außenpolitischen Kernfragen der Revolution erneut massiv aufbrechen.

In wirtschaftlicher Hinsicht hat sich seit dem Sturz Mubaraks nichts verändert. Arbeiter werden nach wie vor zu Hungerlöhnen ausgebeutet, und die große Mehrheit der Jugendlichen ist arbeitslos. Die neuen Machthaber haben von Anfang an deutlich gemacht, dass sie nicht bereit sind, daran auch nur das Geringste zu ändern. Am 14. März veröffentlichte das Finanzministerium ein Statement, in dem es heißt: "Die neue Regierung unter Premierminister Dr. Essam Sharaf ist fest entschlossen, alle erreichten ökonomischen und finanzpolitischen Reformen nicht rückgängig zu machen."

Die angesprochenen "Reformen" sind die brutale Liberalisierung der ägyptischen Wirtschaft zu den Konditionen des Internationalen Währungsfonds. Unter Mubarak hat die ägyptische Elite Staatsunternehmen verscherbelt, alle Beschränkungen für ausländisches Kapital aufgehoben und die Steuern für Reiche gesenkt. Diese neoliberale Wirtschaftspolitik hat zur Verarmung von Millionen ägyptischer Arbeiter geführt und war letztlich die Hauptursache für die Revolution. Die neue Regierung will diese Politik in Absprache mit dem internationalen Finanzkapital fortsetzen und sogar noch verschärfen. Arbeiter, die sich dem widersetzen, müssen mit brutaler Gewalt rechnen.

Ebenso wenig geändert hat sich die Rolle des ägyptischen Regimes als Handlanger des Imperialismus in der Region. Alle außenpolitischen Verträge und "Verpflichtungen" werden aufrechterhalten, darunter die unbeliebten Gaslieferungen an Israel und der Friedensvertrag mit dem zionistischen Staat. Auch die Grenze zum Gazastreifen wird weiterhin abgeriegelt. Palästinensischen Flüchtlingen ist es nicht erlaubt, nach Ägypten einzureisen.

In den letzten Wochen waren zahlreiche hochrangige Vertreter der USA, darunter Außenministerin Hillary Clinton und der ehemalige Präsidentschaftskandidat John Kerry nach Ägypten gereist, um sicher zu stellen, dass dieser Status Quo erhalten bleibt. Das ägyptische Militär wird größtenteils mit Geldern aus den USA finanziert und stimmt alle schwerwiegenden Entscheidungen mit der US-Regierung und Militärführung ab. An dem Tag, an dem der Gesetzesentwurf für ein Anti-Streik- und Protestgesetz vorgelegt wurde, befand sich US-Verteidigungsminister Robert Gates zu Gesprächen mit Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi in Kairo. Wahrscheinlich haben die USA auch grünes Licht für den tödlichen Angriff auf friedliche Protestierende am Freitag gegeben.

Die ägyptische Revolution tritt damit in die nächste Phase. Die unterschiedlichen Klassenkräfte sind deutlicher sichtbar als zu Beginn der Revolution. Die revolutionären Forderungen der ägyptischen Arbeiter und Jugendlichen stellen die Interessen des Imperialismus und die Vorherrschaft des Kapitalismus in der Region immer direkter in Frage. Die ägyptische Bourgeoisie und ihre imperialistischen Hintermänner setzen zunehmend auf Gewalt, um die Revolution zu stoppen.

Das gilt auch für bürgerliche Oppositionspolitiker. Mohamed El Baradei erklärte am Tag der tödlichen Attacke das Vertrauen in die Armee zu einer "roten Linie", die im Interesse der "Einheit der Nation" nicht überschritten werden dürfe. Die Muslimbruderschaft (MB) versicherte der Armee am Samstag in einer Erklärung, sie wisse ihre Rolle beim "Schutz der Revolution" zu schätzen und trete für den Bestand der Einheit der Bevölkerung mit der Armee ein. Die Bruderschaft verdammte alle Versuche von Vertretern des alten Regimes, diese Einheit zu zerstören.

Auch andere führende Vertreter der ägyptischen Bourgeoisie warnten die Protestierenden vor Versuchen, "einen Keil zwischen die Bevölkerung und das Militär zu treiben". Das Militär habe die Forderungen der Revolution vom ersten Tag an unterstützt. Die Zusammenstöße seien Teil eines Schemas, das versuche, Animositäten zwischen den Protestierenden und dem Militär zu schüren. Zu den Unterzeichnern dieser schändlichen Erklärung gehören unter anderem Essam El Erian (MB), George Ishak (Mitglied von El Baradeis Nationaler Allianz für den Wandel), Amr Hamzawy (Führer der neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei), die Autoren Gamal Fahmy und Sekina Fouad und Nasser Abdel Hamid (25 January Revolution Coalition).

Die Erklärungen zeigen, auf welcher Seite die selbsternannten Vertreter der neuen ägyptischen Demokratie wirklich stehen. Sie argumentieren wie der Militärrat und das staatliche Fernsehen und behaupten mehr oder weniger offen, die friedlich Protestierenden seien Schläger des alten Regimes und selbst für die Angriffe verantwortlich. Um die Revolution mit Gewalt zu beenden, schreckt die herrschende Klasse Ägyptens vor keinem noch so schmutzigen Propagandatrick zurück.

Um die Konterrevolution zu stoppen und den begonnen Kampf erfolgreich weiterzuführen, muss die ägyptische Arbeiterklasse nun daran gehen, unabhängige Massenorganisationen aufzubauen und für ein internationales sozialistisches Programm einzutreten. Nur die Vereinigung aller Unterdrückten in der Region auf einer solchen Grundlage kann die Massen in die Lage versetzen, mit den brutalen Regimes und ihren imperialistischen Unterstützern Schluss zu machen und ihre Forderungen nach sozialer Gleichheit, Freiheit und wirklicher Demokratie umzusetzen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.04.2011
Ägyptisches Militär stürmt Meidan al-Tahrir nach friedlichen Massenprotesten
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2011