Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GLEICHHEIT/3374: Generalstreik legt Portugal lahm


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Generalstreik legt Portugal lahm

Von Paul Mitchell
26. November 2010


Der Generalstreik gestern in Portugal hat das Land zum Stillstand gebracht. Millionen Arbeiter aus dem privaten und dem öffentlichen Sektor blieben der Arbeit fern, um vor der Abstimmung im Parlament gegen die Haushaltskürzungen und die Sparpolitik der Sozialistischen Partei (PS) zu protestieren.

Der Generalstreik wurde von dem der Kommunistischen Partei (PCP) angeschlossenen Gewerkschaftsverband CGTP und der kleineren, mit der PS verbündeten UGT ausgerufen. Es ist der erste gemeinsame Generalstreik der beiden Verbände seit 22 Jahren.

"Wir glauben, das ist der größte Streik überhaupt", erklärte UGT-Chef Joao Proenca. CGTP-Generalsekretär Manuel Carvalho da Silva fügte hinzu: "Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die sich so stark mit den Zielen eines Streiks identifiziert haben."

Vertreter der CGTP gaben an, 75 Prozent aller Arbeiter des Landes hätten sich an dem Streik beteiligt. Arbeitsministerin Maria Helena Andre gab zu: "Auch die Privatwirtschaft ist stark betroffen."

Das ist eine neue Entwicklung. Bis jetzt waren Streikmaßnahmen hauptsächlich auf den öffentlichen Bereich beschränkt.

Premierminister José Sócratres von der Sozialistischen Partei (PS) behauptet, die Sparpolitik seiner Regierung sei nötig, um das Haushaltsdefizit von 9,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahre 2009 auf 7,3 Prozent dieses Jahr und dann auf drei Prozent in 2012 zu senken. Das ist der höchste Wert, der nach den Stabilitätskriterien der Europäischen Union erlaubt ist. Sócrates erklärt: "Das wichtigste Ziel ist, das Land vor der internationalen Finanzkrise zu schützen. Wir wollen diesen Haushalt bis Ende nächsten Jahres durchhalten und dann eines der niedrigsten Defizite in ganz Europa haben." Er warnte, Portugal könne gezwungen sein, sich aus dem Euro zurückzuziehen, wenn der Haushalt für 2011 nicht verabschiedet werde.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Arbeiterklasse leiden. Die jüngsten Sparmaßnahmen sind schon die dritte Sparrunde innerhalb eines Jahres. Sie beinhalten eine bis zu zehnprozentige Lohnsenkung im öffentlichen Dienst, eine zweiprozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 23 Prozent (für einige Lebensmittel steigt sie von sechs auf 23 Prozent), das Einfrieren der Renten, eine Kürzung des Familiengeldes, weitere Kürzungen bei der Gesundheitsversorgung, der Bildung und den Mitteln für die Kommunen, sowie weitere Privatisierungen von Staatsvermögen. Außerdem gibt es Überlegungen, die Vereinbarungen über den Mindestlohn zu kündigen, der nächstes Jahr von 475 Euro auf 500 Euro steigen soll.

Sócrates nennt die gegenwärtige Lage "die schlimmste Krise seit achtzig Jahren" und warnt: "Das Land kann seine Unabhängigkeit verlieren, wenn es die Geldmärkte nicht überzeugen kann." Damit meint er, dass sich Portugal eventuell an den Internationalen Währungsfond (IWF) und die Europäische Zentralbank wenden muss, um den Staatsbankrott abzuwenden, wie es Irland diese Woche und Griechenland im Mai tun mussten.

Die Geldmärkte und Rating-Agenturen setzen die Staatsanleihen in einer konzertierten Kampagne unter Druck und treiben die Länder in Richtung Staatsbankrott. Aus diesem Grund hat die irische Regierung offiziell ein Bailout-Paket von bis zu neunzig Milliarden Euro von der Europäischen Union und dem IWF beantragt. Im Mai erhielt Griechenland einen 110 Milliarden Euro Kredit.

Die rechte Opposition von der sozialdemokratischen PSD hat die PS lautstark kritisiert, weil sie Staatsausgaben nicht genug gekürzt und die Verluste von Staatsunternehmen bei der Staatsverschuldung nicht mitgerechnet habe. Die PSD behauptet, die Staatsverschuldung betrage 112 Prozent des BIP statt der 82 Prozent, die die Regierung angibt, und sei damit wesentlich höher als in Irland.

Der Führer der PSD, Pedro Passos Coelho, hat seine Abgeordneten im Parlament allerdings angewiesen, sich am Freitag bei der Abstimmung im Parlament über den Haushalt zu enthalten. Er weiß, dass eine Niederlage der PS-Minderheitsregierung Sócrates zum Rücktritt zwingen würde und er selbst das Amt übernehmen und seine angebliche Opposition gegen die Sparpolitik bloßstellen müsste. In der Zwischenzeit würde der portugiesische Kapitalismus weiter politisch destabilisiert. Das Parlament müsste zu einem Zeitpunkt aufgelöst werden, in dem Neuwahlen nach der Verfassung sechs Monate vor der im Januar anstehenden Präsidentschaftswahl nicht zulässig sind.

Westliche Regierungen, Finanzinstitutionen und die Anleihemärkte haben den Druck auf die PS erhöht, ihren Angriff auf die Arbeiterklasse zu verstärken. US-Präsident Barack Obama nahm sich am Rande des Nato-Gipfels am Wochenende in Lissabon die Zeit, sich mit Sócrates zu treffen. Er lobte ihn, weil er so entschlossen sei, "kraftvolle wirtschaftliche Maßnahmen" zu ergreifen.

Die jetzigen Sparmaßnahmen sind nur ein Anfang. Der IWF erklärte schon, dass nächstes Jahr weitere Schritte notwendig sein würden. Er kritisierte Portugal für sein "in der Eurozone unflexibelstes Arbeitsrecht". Die Arbeitsproduktivität betrage nur 64 Prozent des europäischen Durchschnitts. Daran habe sich seit Anfang der 1990er Jahre nichts geändert, als das Land zahlreiche technisch anspruchlose Arbeitsplätze an Osteuropa und China verlor. Der Präsident der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, erklärte, das Land müsse "weitere ambitionierte Strukturreformen in Angriff nehmen. Dabei müssen der verknöcherte Arbeitsmarkt und die Tarifrituale im Zentrum stehen".

Die Anleihemärkte haben die Zinssätze, die Portugal bieten muss, auf historische Höhen getrieben. Der Zinssatz für zehnjährige portugiesische Anleihen ist inzwischen auf fast sieben Prozent gestiegen, gegenüber acht Prozent für Irland und mehr als elf Prozent für Griechenland. In Deutschland beträgt er nur 2,7 Prozent.

Im Moment beträgt Portugals Staatsverschuldung 165 Milliarden Euro. Das entspricht in etwa seinem BIP des Jahres 2009. Die aktuellen Maßnahmen reduzieren die Staatsausgaben nur um zwölf Milliarden Euro. Zusätzlich ist die private Verschuldung in Portugal mit 239 Prozent eine der höchsten weltweit. Gläubiger sind großenteils ausländische Finanzhäuser.

In vieler Hinsicht befindet sich Portugal in einer schlechteren Position als die anderen Länder mit Staatsschuldenkrisen. Das BIP pro Kopf beträgt nur 16.200 Euro, verglichen mit 30.570 Euro in Irland und 23.100 Euro in Griechenland. Die OECD erwartet, dass die portugiesische Wirtschaft 2011 um 0,2 Prozent schrumpfen wird, nachdem sie dieses Jahr um 1,5 Prozent wächst.

Die Arbeitslosigkeit steht schon bei fast elf Prozent oder 610.000 arbeitslosen Menschen. Das ist der höchste Stand seit zwei Jahrzehnten. Das Arbeitslosengeld wurde gekürzt, und die Arbeitslosen sind gezwungen, jeden Job anzunehmen, wenn sie nicht ihr Anrecht auf Unterstützung verlieren wollen.

Die Arbeiterklasse will gegen diese Angriffe der Regierung kämpfen. Im März streikten 500.000 öffentlich Bedienstete für 24 Stunden. Zehntausende demonstrierten am 29. September, dem so genannten Aktionstag des Europäischen Gewerkschaftsbunds, durch Lissabon, Porto und andere Städte und eine ähnlich große Anzahl am 6. November. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Zustimmung zur PS um mehr als zehn Prozent auf 25 Prozent gefallen ist, seit sie vor sechs Jahren an die Regierung kam. Sócrates' persönliche Werte sind auf 17,8 Prozent gefallen. Vergangenes Jahr verlor die PS bei den Parlamentswahlen ihre absolute Mehrheit zu Gunsten von Gewinnen der PSD, der Kommunistischen Partei (PCP) und des Linken Blocks (BE), der die Zahl seiner Abgeordneten auf sechzehn verdoppeln konnte. Die Wahlenthaltung betrug vierzig Prozent.

Der Unmut der Arbeiter hat die beiden Gewerkschaften, den CGTP und die kleinere UGT, gezwungen, den ersten gemeinsamen Generalstreik seit mehr als zwanzig Jahren auszurufen. 1983 gelang es den Gewerkschaften, eine Welle sozialer Unruhen aufzufangen. Sie wurde durch die schlechte Wirtschaftslage ausgelöst, die zu einer Intervention des IWF führte. Die PS kam an die Regierung, und Mario Soares wurde ihr Ministerpräsident, der dann dazu überging, die Diktate des IWF umzusetzen. Von 1985 bis 1995 war Soares Präsident. Heute wird er als einer der "historischen Repräsentanten" der Linken gehandelt.

Kürzlich kritisierte Soares den Haushalt der Regierung und nannte ihn eine "Zeitbombe", die für "die sozialen Beziehungen unvorhersehbare Konsequenzen" haben werde. Er warnte die portugiesischen Parteien und Gewerkschaften, "ob in der Regierung oder der Opposition", die öffentliche Meinung nicht gegen die "ökonomistischen" Methode der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Union aufzubringen. "Sonst werden die Jugend, die Arbeitslosen oder einfach alle, die die Ungerechtigkeit der Einschränkungen fühlen, zu gewaltsamen, unkontrollierbaren oder verzweifelten Aktionen greifen, wie wir das in Frankreich sehen."

Die Gewerkschaften versuchen, ein solches Szenarium zu verhindern. Eine wichtige Rolle, um diese Politik der Gewerkschaften zu verschleiern, spielen die pseudolinken Gruppen. Wichtiger Bestandteil des Linken Blocks ist der pablistische "Rat des Revolutionären Sozialistischen Politischen Zusammenschluss'", ehemals als Revolutionäre Sozialistische Partei (PSR) bekannt. Dieser "Rat" argumentiert, dass man nicht viel machen könne. "Wir müssen verstehen, dass unsere Möglichkeiten heute geringer sind als von fünf oder zehn Jahren", erklärt er. Er versucht, seine Kapitulation vor der Regierung mit den Worten zu rechtfertigen: "Der Linke Block wird selbst beizeiten über die Form der Konfrontation mit der Regierung entscheiden."

Die portugiesische Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale, Socialismo Revolucionario (SR) kritisiert den CGTP und die UGT weil sie monatelang untätig geblieben seien und nicht "die enormen Möglichkeit genutzt haben, am 29, September einen Generalstreik gleichzeitig mit dem spanischen Generalstreik zu organisieren". Die PCP und den Linken Block kritisiert sie, weil sie "ihre einflussreiche Position kaum genutzt haben, die Menschen zu mobilisieren und die Proteste bekannt zu machen". Im nächsten Atemzug erklärt sie: "Wir rufen die CGTP und die linken Parteien, d.h. die PCP und den Linken Block auf, gemeinsam der Masse der Arbeiterklasse und der Jugend einen klaren Aktionsplan vorzulegen."

Die Geschichte zeigt - und Millionen Menschen in Europa machen die Erfahrung -, dass Organisationen wie die PCP und der Linke Block niemals einen "klaren Aktionsplan" vorlegen werden. Der Hauptgrund, warum die militanten Aktionen der Arbeiter in Griechenland, Frankreich und anderswo nichts bewirkt haben, ist die bankrotte Perspektive der kleinbürgerlichen Organisationen, Druck auf die Gewerkschaftsführer und die stalinistischen Parteien auszuüben. Sie lehnen eine wirklich effektive Bewegung der Arbeiterklasse rundheraus ab. Eine neue sozialistische Partei und neue Kampforganisationen werden gebraucht, die in der Lage sind, breite Schichten der Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Regierungen in Streiks und politische Kämpfe zu führen und in ganz Europa und weltweit zu vereinen.


*


Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.

Copyright 1998-2010 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten


*


Quelle:
World Socialist Web Site, 26.11.2010
Generalstreik legt Portugal lahm
http://www.wsws.org/de/2010/nov2010/port-n26.shtml
Deutschland: Partei für Soziale Gleichheit
Postfach 040144, 10061 Berlin
Tel.: (030) 30 87 24 40, Fax: (030) 30 87 26 20
E-Mail: info@gleichheit.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2010