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GLEICHHEIT/2729: Vor Gericht, weil sie Flüchtlingen das Leben retteten


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Der Fall des Cap-Anamur-Präsidenten Elias Bierdel und seiner Crew
Vor Gericht, weil sie Flüchtlingen das Leben retteten

Von Stefan Steinberg
10. Oktober 2009
aus dem Englischen (9. Oktober 2009)


Am Mittwoch sprach ein Gericht in Sizilien den ehemaligen Präsidenten der Hilfsorganisation Cap Anamur, Elias Bierdel, und zwei seiner Mitarbeiter frei, die nach einem Zwischenfall 2004 angeklagt worden waren, illegale Einwanderer unterstützt zu haben. Das "Vergehen" Bierdels und seines Kapitäns Stefan Schmidt und des ersten Offiziers Wladimir Daschkewitsch bestand darin, afrikanische Einwanderer aus einem Boot zu retten, mit dem diese im Mittelmeer in Seenot geraten waren.

Am 20. Juni 2004 rettete das Rettungsschiff Cap Anamur 37 Flüchtlinge nahe der italienischen Insel Lampedusa aus einem sinkenden Schlauchboot aus dem Mittelmeer. Als die Cap Anamur im nächstgelegenen italienischen Hafen Empedocle auf Sizilien anlegen wollte, wurde sie von italienischen Kriegsschiffen, Hubschraubern und der Küstenwache gezwungen, wieder auf die offene See abzudrehen.

Zwölf Tage lang kreuzte die Cap Anamur, ein umgebauter Frachter, in internationalen Gewässern vor der sizilianischen Küste. Die Lage an Bord verschlechterte sich täglich. Einige der Geretteten verloren die Nerven und wollten sich über Bord werfen.

Erst als der Kapitän einen Notruf absetzte, erhielt er die Erlaubnis, in den Hafen einzufahren, aber die Hilfe währte nur kurz. Elias Bierdel, Schmidt und sein russischer Erster Offizier wurden verhaftet, sobald sie ihren Fuß auf italienischen Boden setzten. Sie wurden der Fluchthilfe für illegale Einwanderer beschuldigt. Das Schiff wurde beschlagnahmt und die übrige Besatzung angewiesen, das Schiff zu verlassen.

Die Flüchtlinge, von denen Hilfsorganisationen annahmen, dass sie aus dem Sudan geflohen waren, wurden in das Auffanglager in Agrigent gebracht und dann zwei Tage später nach Caltanisseta. Ihre Asylanträge wurden in Eilverfahren abgeschmettert. Keiner der Flüchtlinge hatte einen Rechtsbeistand. Alle Flüchtlinge wurden in ihre Heimatländer zurückgebracht.

Obwohl sie ohne Zweifel das Leben der Flüchtlinge gerettet hatten, wurden Bierdel und seine Mitarbeiter umgehend mit fünf Tagen in einem italienischen Gefängnis belohnt. Eineinhalb Jahre später, im November 2006 eröffnete das Gericht in Agrigent das Verfahren gegen die drei Männer. Der Staatsanwalt forderte vier Jahre Gefängnis und 400.000 Euro Geldstrafe für Bierdel.

Am Ende entschied das Gericht zugunsten der Angeklagten. Die Entscheidung der Richter ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Strafverfolgung der drei Cap Anamur Mitarbeiter ein Skandal ist, für den die höchsten politischen Kreise in Italien und Deutschland die Verantwortung tragen.

Nach dem Zwischenfall von 2004 waren sich die Innenminister Deutschlands und Italiens, Otto Schily (SPD) und Guiseppe Pisanu (Forza Italia) einig, dass die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer nicht zu einem "Präzedenzfall" werden dürfe. Wenn man den Argumenten Schilys und Pisanus folgt, dann hätte die Cap Anamur Crew die schiffbrüchigen Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen sollen.

In 2004 lehnte Otto Schily jede Verantwortung der deutschen Behörden für die Asylanträge der Flüchtlinge ab, obwohl die Cap Anamur unter deutscher Flagge fuhr und die Anträge schriftlich vorlagen. Nach der Rettung nannte der Sprecher des deutschen Innenministeriums, Rainer Lingenthal die Ankündigung Bierdels, weitere Missionen im Mittelmeer zu starten, um Flüchtlinge aus Seenot zu retten, "verantwortungslos". Die italienischen und die deutschen Behörden übten Druck für ein "Testverfahren" gegen Bierdel und Schmidt aus.

Nach dem Freispruch am Mittwoch sagte Bierdel zur Presse, dass er über das Urteil natürlich erfreut sei, es aber keinen Grund zum Jubeln gäbe. Er sei in den letzten fünf Jahren als Krimineller behandelt und von Teilen der Medien gejagt worden. Kapitän Stefan Schmidt sagte nach der Entscheidung des Richters, dass er wieder genauso handeln würde, wenn er noch einmal mit einer ähnlichen Situation konfrontiert wäre. Es ist aber noch keineswegs sicher, dass der Fall erledigt ist. Der Staatsanwalt hat neunzig Tage Zeit, gegen das Urteil Berufung einzulegen.

Die skandalöse Behandlung Bierdels und seiner Mannschaft ist das direkte Resultat der kriminellen Einwanderungspolitik der EU, die Europa in eine Festung verwandeln soll. In Wirklichkeit sollten die Vertreter der EU-Regierungen, die für diese Politik verantwortlich sind, für ihre Verbrechen vor Gericht gestellt werden

Als Teil der im Vertrag von Lissabon festgelegten Einwanderungspolitik der EU haben die Küstenwachen der an das Mittelmeer grenzenden Staaten alles getan, um Flüchtlinge aus der EU fernzuhalten. Mit Milliarden Steuergeldern sind die Küsten Spanien, Italiens und Griechenlands mit einem engmaschigen Zaun aus patrouillierenden Schiffen und Hubschraubern der Küstenwachen umgeben worden, durch den nicht mal ein kleine Schaluppe unbemerkt hindurchschlüpfen kann. Flüchtlinge sollen um jeden Preis daran gehindert werden, europäischen Boden zu erreichen. Das Recht auf Asyl existiert in der EU nur noch auf dem Papier. Flüchtlinge können Europa auf legalem Weg nicht mehr erreichen.

Mit Unterstützung von Nato-Schiffen werden überladene, gebrechliche Boote gestoppt und wieder in afrikanische Gewässer zurückgezwungen. Die Leichen der auf der Flucht umgekommenen werden schließlich an den europäischen Küsten angeschwemmt. Bierdel beziffert die dokumentierte Opferzahl der europäischen Flüchtlingspolitik in den letzten zehn Jahren auf 15.000. Aber er nennt diese Zahl nur "die Spitze des Eisbergs". Die wirkliche Zahl liege mit Sicherheit viel höher. Dieses Jahr wurden bereits 400 Tote auf See gezählt.

Bei einem jüngeren Zwischenfall ertranken im August 73 afrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer, als sie von Libyen aus nach Italien gelangen wollten.

Der Bericht von fünf Überlebenden macht deutlich, dass die Einschüchterungstaktik der europäischen Gerichte und Grenztruppen zu wirken beginnt. Die fünf erschöpften Überlebenden erklärten, dass mehrere Schiffe ihre Route gekreuzt hätten, aber keines Anstalten gemacht hätte, sie zu retten. Ein Patrouillenboot ließ sich herbei, ihnen Treibstoff und Rettungswesten zu überlassen, "machte sich dann aber davon und ließ uns trotz unseres Zustand zurück".

Innenminister Schily von der rot-grünen Koalition (1998-2005) erklärte arrogant, er sei über die Zahl der Opfer unter den Flüchtlingen, die versuchen, Europa zu erreichen nicht informiert. Tatsächlich aber besteht die Politik der deutschen und der anderen EU-Regierungen darin, die Operationen ihrer Marineeinheiten (der so genannten FRONTEX) im Mittelmeer mit dem Mantel des Schweigens zu verhüllen.

In einem kürzlichen Interview im Deutschlandradio erklärte Bierdel, seine Hauptsorge sei, dass Informationen über die Aktivitäten der FRONTEX-Grenztruppen nicht zugänglich seien. Ihr Hauptquartier ist in Warschau. Bierdel zitierte Flüchtlinge, die berichtet hatten, ihr Boot sei sogar von einem FRONTEX-Schiff gerammt worden. Einen solchen Vorwurf muss die Behörde nicht kommentieren. Sie beharrt darauf, dass ihre Operationen der Geheimhaltung unterliegen und weigert sich, den Medien oder auch anderen politischen Stellen Auskünfte zu erteilen.

Die endlose Jagd auf Flüchtlinge, die verzweifelt einen sicheren Hafen in Europa suchen, geht derweil weiter. Am Tag des Cap Anamur Urteils deportierte Italien achtzehn Ägypter, die am Vortag an der sizilianischen Küste gelandet waren. In wenigen Monaten wird das gleiche Gericht das Urteil in dem Prozess gegen sieben tunesische Fischer fällen, deren Verbrechen darin besteht, im August 2007 44 Flüchtlinge vor der Küste von Lampedusa gerettet zu haben.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 10.10.2009
Der Fall des Cap-Anamur-Präsidenten Elias Bierdel und seiner Crew
Vor Gericht, weil sie Flüchtlingen das Leben retteten
http://wsws.org/de/2009/okt2009/anam-o10.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2009