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GEHEIM/254: BND und Bundeswehr - Vernetzte Operationen


GEHEIM Nr. 3/2009 - 8. Oktober 2009

DEUTSCHLAND
BND und Bundeswehr: Vernetzte Operationen

Quellenauszug über die Bedeutung des Lagebildes für vernetzte Operationen


Der Auslandsnachrichtendienst (BND) der Bundesrepublik Deutschland stand bis 1978 unter militärischer Führung. Der BND ging nahtlos hervor aus der Organisation Gehlen, die im Wesentlichen auf den Materialien und der Expertise der Abteilung "Fremde Heere Ost" in der Wehrmacht aufbaute. Aufklärung galt in erster Linie den gegnerischen Streitkräften und ihren Einsatzplänen; in zweiter Linie dem sie führenden politischen System. Andere Fragestellungen und Weltgegenden außer Sowjetunion und DDR traten in den Hintergrund.

Die DDR hörte auf, als Aufklärungsobjekt zu bestehen. Der Abwicklungsrest wurde zur Aufgabe der Gauck-Behörde. Mit dem Abzug des letzten russischen Soldaten aber war klar, dass das vereinte Deutschland nicht mehr einen raumgreifenden Angriff feindlicher Verbände zu fürchten hatte. Als 2004 sowohl die NATO wie auch die EU - mit einem zweiten Schub 2007 - im wesentlichen alle früheren nichtsowjetischen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes aufnahm, war der Wandel in der strategischen Sicherheitslage Deutschlands vollendet. Deutschland liegt heute geeint in der Mitte eines geeinten Kontinents. Die Nato hat die Schwerpunkte ihrer Aktivitäten verschoben. Die Nato hat den primären Auftrag, die Sicherheit für das Bündnisgebiet gerade auch außerhalb desselben zu erreichen. Kosovo und Afghanistan markieren die entscheidenden Schritte dieser Entwicklung. Russland stellt mit seinen Streitkräften weder von deren Fähigkeiten noch von den politischen Ambitionen der politischen Führung her eine militärische Bedrohung für Deutschland bzw. NATO oder EU dar.

Militärische Konflikte werden nicht mehr durch Kriegserklärungen eingeleitet und durch Friedensschlüsse beendet. Die meisten Konflikte finden überhaupt nicht mehr zwischen regulären Streitkräften in geordneten Gefechten konzentriert in Raum und Zeit auf dem Schlachtfeld statt, sondern in einer Mischung aus regulären und irregulären Kräften, in asymmetrischer Weise, in diffusen räumen und überlange, manchmal sehr lange Zeiträume. Militärische Überlegenheit übersetzt sich nicht mehr automatisch in politischen Erfolg; militärische Unterlegenheit kann bei geschickter Öffentlichkeitsarbeit oft gerade ein Erfolgskriterium für die Gewinnung weltweiter Sympathien und damit für die Internationalisierung eines Konfliktes werden.

"Für die Zeit seit der Kosovo- und der Afghanistan-Operation gilt der Imperativ eines viel breiter angelegten, umfassenderen Lagebildes. Wer eine Sicherheitslage beeinflussen will, benötigt einerseits eine klare, saubere Analyse der Bedrohungen und ihrer Ursachen. Er braucht andererseits eine klare Vorstellung seines strategischen Willens. Er braucht drittens eine nüchterne, illusionsfreie Einschätzung der eigenen und der gegnerischen Fähigkeiten und mobilisierbaren Ressourcen."

"Ich möchte diesen Aspekt besonders betonen, weil ich immer wieder den Eindruck habe, dass bei Rüstungsprojekten und militärischen Operationen gerade die Optionen und Ressourcen der gegnerischen Seite immer wieder stark unterschätzt oder ganz außer Acht gelassen werden. Es fehlt die strategische Tiefe des Denkens, die einen guten Schachspieler auszeichnet, der eben nicht nur seine eigene Strategie entwickelt, sondern Zugfolgen bedenken muss."

Und er benötigt eine Einschätzung des Verhaltens dritter Parteien bzw. der Weltöffentlichkeit, weil die öffentliche Meinung ein Machtfaktor ersten Ranges wird.

Im Gegensatz zum alten Lagebild des Kalten Krieges, muss das Lagebild Deutschlands im 21. Jahrhundert mehrdimensional und vielschichtig sein: Es kann sich nicht mehr auf einen geografischen Sektor verengen, es muss auf die ganze Welt gerichtet sein: "Südamerika wird immer weniger Bedeutung haben als die Nachbarregionen Europas in Nordafrika und Nah- und Mittelost; Australien und Japan bleiben weniger vordringlich als China, Zentral- und Südasien."

Heute kommt Aspekten wie Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Anfälligkeit von Wirtschafts- und Sozialstrukturen, Schutz internationaler Infrastrukturen (Pipelinenetze, Bohrinseln, Meerengen), aber auch Internet- und Kommunikationssicherheit, Sicherheit auf den Freien Meeren gegenüber Piraterie und Terror, Geldwäsche und Dokumenten- bzw. Geldfälschung kaum geringere Bedeutung zu.

Das moderne Lagebild muss auch indirekte Akteure abbilden (...) Moderne Konflikte werden zunehmend auf den Fernsehkanälen und in den meinungsbildenden Blogs entschieden.

"Beim Kampf gegen den weltweit in Zellen operierenden Dschihadismus liegt es auf der Hand, dass die Nachrichtendienste und Ermittlungsbehörden im internationalen Rahmen immer nur auf Erkenntnisfragmente stoßen; erst wenn diese mit den fragmentarischen Erkenntnissen in anderen Ländern zusammengefügt werden, beginnt sich Verständnis der Motive, der Vorgehensweise, der Organisationsstrukturen und der Absichten herauszuschälen."

Moderne Lagebilder sind deshalb komplex, dynamisch und möglichst in Echtzeit zu entwickeln. Auch in der NATO wächst der Ruf nach einheitlichen Lagebeurteilungen. Für vernetzte Operationen brauchen wir aber ein fachlich integriertes Lagebild: Die Sicherheitslage in Afghanistan zum Beispiel wird nur dann halbwegs zuverlässig beurteilt werden können, wenn wir neben militärischen Erkenntnissen auch die von Polizei, Diplomatie und anderen zivilen Experten einfließen lassen. Wer die Ursachen bekämpfen will, muss diese Ursachen ja erst einmal identifizieren.

Vernetzte Operationsführung ist eng verbunden mit wirkungsorientiertem Ansatz. Wer wirkungsorientiert denkt, muss auch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen mit berücksichtigen.

Es war ja nicht nur die inzwischen eingeräumte unzulängliche Planung, sondern es war vor allem eine weit von der sozialen, mentalen und politischen Realität des Irak entfernte, naive und oberflächliche Lageeinschätzung, die für die noch andauernden Schwierigkeiten der USA im Irak verantwortlich war.

Sollten wir uns nicht mehr Gedanken darüber machen, welche rolle Stammesdenken, Clanstrukturen, Regionalstolz, taktisches Lavieren, pure Angst, simpler Opportunismus oder auch kriminelle Strukturen spielen?

Irak: Jahrelang haben amerikanische Experten von Aufständischen gesprochen; teilweise ist das auch heute noch Sprachgebrauch. Werden nicht die Indikatoren übersehen, dass es sich bei den Gewalttaten im sunnitischen Dreieck eben auch um Taten handelt, die nach Zielauswahl eher eine andere Bezeichnung verdienen? Wenn Bewerber oder Angehörige der Sicherheitsorgane gezielt getötet werden - ist das dann nicht eher ein Akt der Rebellion, d.h. des Protestes gegen eine als illegitim empfundene Staatsmacht?

Wir brauchen in den Einsatzgebieten, in denen wir sicherheitspolitisch engagiert sind, Lagebilder von erheblich größerer detailtreue und Tiefenschärfe als dies früher der Fall war.

Wir brauchen Nahaufnahmen unserer Umgebung, Persönlichkeitsprofile ..., Lageeinschätzungen zur Stimmung in der Bevölkerung, zu Wirtschaftsdaten, zu Klientelen, Clans und Patronage, Porträtaufnahmen. Gleichzeitig haben wir es mit Parallelgesellschaften zu tun (...) Die staatlichen Strukturen sind nur die Kulisse, hinter der sich die Kämpfe um Macht, Einfluss und Besitz abspielen. Diese Macht- und Einflussstrukturen können sich rasch verschieben. Fürsten oder Warlords können ihre Position über Nacht verlieren, ermordet oder aufs Kreuz gelegt werden. Ohne sie und ihre Marionettendrähte zu kennen ist wenig auszurichten. - Unser Erfolg hängt davon ab, dass wir die tatsächlichen macht- und Einflussstrukturen kennen. Das setzt Landeskunde, sprachliche und mentale Intuition und Empathie voraus. Erfolg in einer fremden Umgebung hängt davon ab, wie wir das, was wir wollen, in die "Vorstellungswelt und Sprache der Zielbevölkerung hineinprojizieren."

Objektivität erfordert den Mut, eigene operative Ansätze selbstkritisch als fehlgeleitet bzw. nicht zielführend zu erkennen und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Nur ein illusionsloses, vollständiges und dynamisches Lagebild kann zur Grundlage eigenen Lernens werden. "Angesichts der neuartigen Konflikte, in denen wir uns im Ausland befinden, und angesichts der asymmetrischen Natur dieser Konflikte sollten wir nicht zögern, uns lernbereit, flexibel und anpassungsfähig zu zeigen."

Lagebilder dienen dazu, den Erfolg der eigenen Operationen zu messen. "Wer Konfliktprävention betreiben will, braucht ein derartiges Instrumentarium, um Konfliktpotenziale rechtzeitig zu identifizieren." -

"Wir brauchen ein multidimensionales Lagebild, das eben auch nicht-militärische Faktoren wie Wirtschafts- und Sozialdaten, Umweltfaktoren und demografische Trends, Kriminalität und Infrastruktur mit einbezieht. Insofern verfügt die Bundesregierung mit dem BND, der alle diese Fähigkeiten unter einem Dach vereinigt, über ein für diese Herausforderungen bestens ausgerüstetes Instrument." -

Wenn die Lagebeurteilung innerhalb der Regierung von der Lageeinschätzung in der Öffentlichkeit zu sehr divergiert, wird es zunehmend schwerer werden, die notwendige Legitimation, vor allem für riskante Operationen, sicherzustellen.

Die Analyse, auf der ein Lagebild basiert, sollte so objektiv wie möglich sein, also nicht politisch Wünschbares oder Gefälliges reflektieren. - Es darf keine Tabus, keine "political correctness", keine innere Zensur geben!

Lageanalysen sollten nicht direkt an die Öffentlichkeit gegeben werden. - Analytiker und Experten, die Lagebilder erstellen, sollten damit nicht direkt an die Öffentlichkeit gehen, sondern immer die Vermittlung der Politik suchen.

Innere Sicherheit:
Im Bereich der Inneren Sicherheit ist es gelungen, mit dem Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum in Treptow eine Clearingstelle zu schaffen, an der Informationen abgeglichen und ausgetauscht werden. Es besteht die nachrichtendienstliche Lage im Kanzleramt, auf der Lageeinschätzungen der Dienste und des Bundeskriminalamtes ausgetauscht werden. Reicht dieser Unterbau aber aus für den Anspruch, den eine vernetzte Operationsführung erheben muss? Brauchen wir nicht eine viel weitergehende Integration von Erkenntnissen und Lagebeurteilungen, vor allem im Hinblick auf Auslandseinsätze, wo militärische, polizeiliche, diplomatische und entwicklungspolitische Komponenten im Verbund wirken müssen?

(...)

"Auch das Gebiet Nachrichtengewinnung, Nachrichtenbeschaffung und Lageanalyse hat parallel zur Transformation der Bundeswehr tiefgreifende Wandlungen durchgemacht. Wir sind für die neuen Aufgaben gut gerüstet." - "Insofern wird Ihre Aufgabe als für die Lagedarstellung verantwortliche Offiziere reizvoll, herausfordernd und anspruchsvoll bleiben." - "Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!"


Quelle: "Die Bedeutung eines umfassenden Lagebildes für vernetzte Operationen". Aus: Vortrag vor der Tagung von Experten in Berlin am 12. März 2008.

Quellenauszug besorgt von: Reinhold Schramm


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Quelle:
GEHEIM Nr. 3/2009 - 8. Oktober 2009, S. 15-16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2009