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GEGENWIND/639: "Sie haben uns in die Falle gelockt"


Gegenwind Nr. 324 - September 2015
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

BUCH
Yanis Varoufakis: "Sie haben uns in die Falle gelockt"

Besprechung von Günther Stamer


"Es gibt zwei Wege, eine Nation zu erobern und zu versklaven. Der eine ist durch das Schwert, der andere durch Verschuldung."
Adam Smith (1723-1790), schottischer Ökonom und Philosoph


"Lesen und weinen", sagt Yanis Varoufakis zur Vereinbarung des Eurogipfels vom 13. Juli. Er hat die Vereinbarung kommentiert - eine Vereinbarung, die nach Meinung des ehemaligen griechischen Finanzministers als die "Kapitulationsurkunde Griechenlands" in die Geschichte eingehen wird.[1]

Nach fünf Monaten autoritär und arrogant geführter Verhandlungen haben 18 Staats- und Regierungschefs der Eurogruppe unter der Führung des deutschen Finanzministers der demokratisch gewählten Regierung Griechenlands ein Abkommen aufgezwungen, das dem Wahlprogramm Syrizas widerspricht und das Ergebnis des Referendums der griechischen Bevölkerung vom 5. Juli negiert. Alexis Tsipras hat dieses Sogenannte "Abkommen" akzeptiert, unter der Drohung finanzieller Erdrosselung, des kompletten wirtschaftlichen Zusammenbruches und einer humanitären Katastrophe.

In einem Interview mit dem "The New Statesman" vom (13.7.15) [2] weist Varoufakis nach, dass Deutschland nie ernsthafte Verhandlungen zuließ, sondern auf Zeit und die Bankenschließung spielte, um die Linksregierung in Athen zu stürzen und Griechenland aus dem Euro zu katapultieren. In diesem Interview erläutert er auch, welche Verhandlungsoptionen die griechische Regierung seiner Meinung nach gehabt hätte.

"Mein Standpunkt, den ich gegenüber der Regierung vertreten habe, war, dass, falls sie versuchen sollten, unsere Banken zu schließen, was ich als ein aggressives Manöver von unglaublicher Wucht einschätzte, wir auch aggressiv antworten sollten, allerdings ohne den Point of no Return zu überschreiten."

"Wir sollten unsere eigenen Schuldscheine ausgeben oder wenigstens verkünden, dass wir unsere eigene, an den Euro gebundene Währung einführen; wir sollten einen Schuldenschnitt an den griechischen Anleihen vornehmen, die seit 2012 von der EZB gehalten werden oder ankündigen, dies zu tun; und wir sollten die Kontrolle der Griechischen Zentralbank übernehmen. Das war das Tryptichon, das waren die drei Dinge, mit denen ich glaubte, auf eine Bankenschließung in Griechenland durch die EZB reagieren zu können", sagt der Ex-Finanzminister über seinen Plan, der aber im griechischen Kabinett keine Mehrheit fand.

Auf die Frage, ob er über einen Grexit nachgedacht habe, antwortet er: "Unsere Regierung wurde mit einem Mandat gewählt, Verhandlungen zu führen. Unser wichtigstes Mandat war, Zeit und Raum für Verhandlungen zu schaffen und zu einer anderen Übereinkunft zu kommen. Das war unser Mandat - unsere Aufgabe war es zu verhandeln, es ging nicht darum, sich mit den Gläubigern zu überwerfen. Die Verhandlungen dauerten ewig, weil die andere Seite sich weigerte, zu verhandeln." Varoufakis betont, dass es nicht seine Absicht war den Grexit auszulösen. "Ich wollte nicht, dass das zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. ... Aber ich habe ebenfalls in dem Moment geglaubt, an dem die Eurogruppe die Banken geschlossen hat, dass wir diesen Prozess vorantreiben sollten."

Soweit zu aktuellen Sichtweisen des Ex-Finanzministers auf die gegenwärtige Politik der Euro-Gruppe und als eine Art "Vorspiel" zur Rezension seines im Januar 2015 in deutscher Sprache erschienen Buches über Vorschläge zur Lösung der Eurokrise, das er gemeinsam mit seinen Ökonomie-Kollegen Stuart Holland und James Galbraith verfasst hat.

In dem Vorwort begründet er die Absicht dieser kleinen Schrift mit den Worten: "Der vielleicht deprimierendste Aspekt des unsinnigen Umgangs mit der unvermeidlichen Eurokrise war das Beharren, der eingeschlagene politische Weg sei 'alternativlos'. Und so begann ich, weil ich diesen toxischen Fatalismus nicht hinnehmen wollte, Anfang 2010 die Ausarbeitung des 'Bescheidenen Vorschlags'." (S. 7)

Sein Resumee der Vorschläge: "Kurz gesagt, beinhaltet unser Vorschlag einen neuen 'europäischen New Deal'. Franklin D. Roosevelts New Deal (...) stabilisierte den amerikanische Sozialstaat nach dem Crash von 1929. In ähnlicher Weise und unter Berücksichtigung der Besonderheiten der aktuellen Situation in Europa würde die Umsetzung des 'Bescheidenen Vorschlags' innerhalb nur weniger Monate echte Fortschritte ermöglichen durch politische Strategien, die genau auf die Struktur der europäischen Institutionen abgestimmt sind." (S. 13)

Im ersten Teil des Buches skizzieren die Autoren die Felder der ökonomischen Krise in der Eurozone: Bankenkrise, Schuldenkrise, Investitionskrise und soziale Krise, um dann schnell zum eigentlichen Kern der Schrift zu kommen: "Das Anliegen ist es, die Krise zu beherrschen, die sich gegenwärtig ungehindert in allen vier Bereichen gleichzeitig immer weiter zuspitzt. (...) Die Lösung der Krise kann nicht im Widerspruch zu den Verträgen und Postulaten stehen, die Berlin, Paris, Brüssel und der Europäischen Zentralbank heilig sind. (...) Das bedeutet nicht, dass wir diese Postulate klug finden. Dennoch sind wir der Meinung, dass man sie als gegeben ansehen und die vorgeschlagene Lösung innerhalb der bestehenden EU-Institutionen umsetzen sollte." (S. 25)

Der erste Vorschlag, das "Fall-zu-Fall-Programm für die Banken", soll eine Alternative zur vereinbarten Bankenunion sein, die von den Autoren zu Recht als unzureichend angesehen wird, da sie "die tödliche Umarmung zwischen bankrotten Banken und bankrotten Mitgliedstaaten noch verstärkt und in der Folge die Krise der Euro-Zone ausweitet." (S. 31). Kritisiert wird der Widerspruch zwischen der neugeschaffenen Aufsicht der Banken durch die Europäische Zentralbank (EZB) und der weiter bestehenden Verantwortung der Mitgliedsländer, insolvente Banken zu rekapitalisieren; Dies führe regelmäßig dazu, dass die EZB kaum jemals eine Bank für bankrott erklären werde, da ihre Rettung die Haushaltsprobleme des betroffenen Landes vergrößert und damit die Schuldenkrise in der Euro-Zone weiter verschärft.

Verlangt wird statt dessen, auch die Rekapitalisierung bzw. Abwicklung insolventer Banken auf die europäische Ebene zu verlagern: "Wenn die Kontrollmechanismen der EZB feststellen, dass eine Bank in der Euro-Zone unterfinanziert ist, kann der Mitgliedstaat, in dem die Bank ihren Sitz hat, um die sofortige Rekapitalisierung der Bank aus dem ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus, G.St.) bitten (...). In diesem Fall bekommt der ESM Anteile an der fraglichen Bank (entsprechend der Höhe der erforderlichen Kapitalspritze), und die EZB ernennt einen neuen Verwaltungsrat (...)." (S. 32). Außer Acht lassen die Autoren allerdings, dass durch die Einschaltung des ESM zwar vermieden wird, dass die Euroländer direkt weiteres Steuergeld für die Bankenrettung aufwenden, denn der ESM borgt sich das Geld auf den Finanzmärkten, doch die Länder und damit die Steuerzahler bürgen für dessen Kreditaufnahmen. Die Schulden der privaten Banken würden auf diesem Weg europäisiert und damit endgültig sozialisiert werden.

Als zweite Strategie wird von den Autoren "ein begrenztes Umschuldungsprogramm" vorgeschlagen: Danach soll die EZB gegenüber einem verschuldeten Mitgliedstaat auf die Rückzahlung eines Teils ihrer Kreditforderungen verzichten, und zwar bis zur Höhe der Staatsverschuldung von 60 Prozent, der Obergrenze der "Maastricht-konformen Schulden". Dieser Teil soll auf ein Konto des Landes gezahlt werden, und "das Land wird zu gegebener Zeit seine Schulden begleichen müssen, verzinst" (S. 34). Neben der EZB soll der ESM eingeschaltet werden: "Außerdem schlagen wir vor, dass die EZB-Bonds durch den ESM abgesichert werden für den Fall, dass ein Mitgliedsland sie nicht zurückzahlt." (S. 35).

Mit diesen Vorschlägen zur begrenzten Umschuldung bewegen sich die Autoren allerdings weit hinter der Programmatik von Syriza und anderer linker Parteien, die zu Recht die Streichung eines großen Teils der griechischen Schulden und einen europaweiten Schuldenschnitt verlangt hatten.

Als dritte Strategie wird "ein investitionsgestütztes Rettungs- und Konvergenzprogramm - ein europäischer New Deal" vorgeschlagen. Danach soll ein "europaweites Investitionsprogramm in Höhe von 8 Prozent des BIP der Eurozone und die Ausreichung von Investitionsprogrammen an die Länder der Peripherie der Eurozone in Höhe ihrer jeweiligen Arbeitslosenquoten" aufgelegt werden. (S. 40)

Damit greifen die Autoren Forderungen linker Parteien, Gewerkschaften und Organisationen wie ATTAC auf; allerdings werden in dem Buch keine Angaben gemacht, was wie wachsen soll.

Schließlich wird ein "Notprogramm für soziale Sicherheit" gefordert: "Ein europaweites Programm wird a) nach dem Vorbild des Lebensmittelhilfeprogramms in den Vereinigten Staaten den Zugang zu Nahrung garantieren und b) die Grundbedürfnisse bei Energie und Verkehr (Strom, Heizung und öffentlicher Verkehr) abdecken." (S. 48).

Das Buch schließt mit folgender Bemerkung: "Unser Bescheidener Vorschlag ist aus politischer und institutioneller Sicht ein minimalistisches Projekt. Er erfordert keine neuen Verträge (...) In diesem Sinne zielt unser Vorschlag zwar auf die Überwindung der Eurokrise ab, aber ist trotzdem sofort umsetzbar." (S. 59).

Geschrieben wurde dieses Buch von dem Wissenschaftler Varoufakis - sechs Monate später muss der zwischenzeitliche Politiker Varoufakis konstatieren, dass auch noch die kleinsten alternativen Vorstellungen in der Euro-Gruppe unter Federführung des deutschen Finanzministers eiskalt abserviert werden. Statt Keynes gibt der Berlin-Boy des Neoliberalismus für die EU die Richtung vor. Das ist für die Lebenslage der griechische Bevölkerung der GAU und lässt für Resteuropa das Schlimmste befürchten. Denn Griechenland ist das europäische Versuchslabor. "Die eiskalte Gewalt (...) zielt nicht nur auf die Arbeiter von Piräus, die Studenten von Athen oder die Putzfrauen der griechischen öffentlichen Dienste. Sie zielt indirekt auf die deutschen Eisenbahner und die britischen Demonstranten gegen die Sparpolitik, auf die empörten jungen Spanier und die französischen Fortschrittskräfte, auf die belgische Metallarbeiter und die italienischen Intellektuellen, darauf, der Hoffnung auf ein Europa der Solidarität, der Brüderlichkeit und einer vollendeten Demokratie den Mut zu nehmen. (Leitartikel der "Humanité" vom 13. Juli unter der Überschrift "Eine kaltblütige Diktatur" [3])


Yanis Varoufakis, Stuart Holland, James K. Galbraith:
Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise.
Verlag Antje Kunstmann, München
2015, 64 Seiten, 5 Euro


Anmerkungen:

1. http://www.neues-deutschland.de/artikel/978365.ein-karthagischer-frieden.html?action=print.

2. http://www.neues-deutschland.de/artikel/977827.sie-haben-uns-in-die-falle-gelockt.html

3. http://www.kommunisten.de/index.php?option=com_content&view=article&id=5605:pcf-pierre-laurent-zum-ergebnis-des-euro-gipfels&catid=37:kommentare&Itemid=69

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Quelle:
Gegenwind Nr. 324 - September 2015, Seite 65 - 66
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2015

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