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GEGENWIND/607: Der Kampf um einen existenzsichernden Mindestlohn muss weitergehen!


Gegenwind Nr. 312 - September 2014
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Jahrelanger Kampf
Der Kampf um einen existenzsichernden Mindestlohn muss weitergehen!

von Günther Stamer



Mehr als 10 Jahre gingen Gewerkschaften, Arbeitslosen- und Sozialverbände sowie linke Parteien auf die Straßen und forderten einen Mindestlohn. Anfang Juli hat der Bundestag nun endlich einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2015 verabschiedet. (Das Gesetz trägt den blumigen Namen "Tarifautonomiestärkungsgesetz").


Damit ist die Bundesrepublik spät dran, denn in den meisten EU-Staaten gibt es bereits seit Jahrzehnten eine Lohnuntergrenze. Diese liegt beispielsweise in den Niederlanden und in Belgien bei 9,10 Euro; in Frankreich seit Januar 2014 bei 9,53 Euro in der Stunde. Der Mindestlohn soll ab 2016 durch eine Kommission aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern überprüft werden, die erste Erhöhung soll zum 1.1.2017 erfolgen, anschließend soll er alle zwei Jahre steigen.

Doch von einem wirklich umfassenden Mindestlohn ist die gesetzliche Regelung weit entfernt. In den Monaten vor dessen Verabschiedung hatten die Lobbyisten der Konzerne ganze Arbeit geleistet und konnten weitgehende Durchlöcherungen der Lohnuntergrenze durchsetzen. "Das hat mit dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, den die SPD in ihrer Mitgliederbefragung vor der Regierungsbildung zur Abstimmung gestellt hat, nichts mehr zu tun", erklärte ver.di-Vorsitzender Bsirske. Schon in Nahles' Gesetzentwurf waren eine Vielzahl von Ausnahmen vorgesehen: Langzeitarbeitslose, Minderjährige und Beschäftigte, die von Niedriglohntarifverträgen betroffen sind, können vorübergehend oder dauerhaft mit weniger als 8,50 Euro pro Stunde bezahlt werden. So gibt es z.B. in rund 40 Branchen tarifliche Grundvergütungen unterhalb 8,50 Euro. Hier kann bis maximal 1. Januar 2017 noch weniger als 8,50 Euro pro Stunde gezahlt werden, wenn das im Tarifvertrag vereinbart wurde.

Doch damit nicht genug: in letzter Minute vor Verabschiedung des Gesetzes wurden im Windschatten der Fußball-WM (also unter medialem Desinteresse) weitere Ausnahmen für Zeitungsausträger, Saisonarbeitskräfte und Praktikanten in das Gesetz aufgenommenen, dass nun vollends einem Schweizer Käse gleicht. Zeitungsboten können im kommenden Jahr 25 Prozent, 2016 bis zu 15 Prozent der ohnehin unzureichenden 8,50 Euro pro Stunde vorenthalten werden. Geradezu einer Einladung zum Lohndumping kommt die Regelung gleich, bei Saisonarbeitern Unterkunft und Verpflegung auf den Lohn anzurechnen. Damit haben die Unternehmer jede Möglichkeit, die Entgelte beispielsweise mit Hilfe überteuerter Mieten hochzurechnen.

Nach Schätzung der Bundesregierung werden vom 1. Januar 2015 an zunächst 3,7 Millionen ArbeitnehmerInnen in den Genuss des Mindestlohnes kommen, profitieren davon werden vor allem Beschäftigte in der Landwirtschaft und im Gastgewerbe, wo weit über ein Drittel der Beschäftigten bislang weniger als 8,50 Euro erhalten. Als weitere typische Niedriglohnbranchen gelten die fleischverarbeitende Industrie, das Friseur- und das Bäckerhandwerk sowie das Taxigewerbe.

Auf Schlupflöcher zum Umgehen des Mindestlohnes hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hingewiesen (spiegel-online 16.7.14). Demnach könnten rund 1,5 Millionen der heutigen Geringverdiener trotz des Mindestlohns ab dem kommenden Jahr unterm Strich weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen, weil ihre Mehrarbeit nicht oder nur teilweise vergütet wird oder sie gar keine Arbeitszeit vereinbart haben. Wenn dann Überstunden nicht abgegolten werden oder die formale Arbeitszeit einfach verkürzt wird, nützt ihnen der Mindestlohn unter dem Strich nichts. Betroffen sind davon vor allem Berufszweige, bei denen schnell Überstunden anfallen können, so etwa bei Kraftfahrern. Ähnlich problematisch sei es bei Jobs, bei denen es keine vereinbarte Arbeitszeit gibt, sondern beispielsweise ein Stücklohn oder nach Umsatz bezahlt wird.

Die Kontrolle der gesetzlich festgelegten Entlohnung obliegt der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls. Indes hat der Zoll schon eingeräumt, dass ihm für flächendeckende Kontrollen noch auf Jahre hinaus das Personal fehlt. So kann davon ausgegangen werden, dass auch auf Jahre hinaus die Kontrolllöcher für eine Umgehung des Gesetzes von den Unternehmern genutzt werden. Gerade in Kleinbetrieben dürfte es am häufigsten zur Missachtung des Mindestlohns kommen. So sind Geringverdiener zu einem großen Teil in kleinen Firmen beschäftigt, die vielfach keinen Betriebsrat haben und in denen die Mitarbeiter in den häufig familiär geführten Firmen den Konflikt mit ihren Chefs scheuen.

In Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern werden nach DGB-Schätzung mehr als eine halbe Million Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro über die neue Lohnuntergrenze gehoben. "Der unmittelbare Kaufkraftzuwachs für den Norden beträgt mehr als eine Milliarde Euro - das bedeutet auch erhebliche Entlastungen für die Haushalte der Kommunen, da Aufstockungszahlungen verringert werden können. Die befristeten Ausnahmeregelungen und Schlupflöcher im Mindestlohngesetz müssen so schnell wie möglich verschwinden. Wichtig wird ab 2015 eine umfassende Kontrolle der neuen Bestimmungen, damit Lohndumping und Ausnahmetrickserei von Arbeitgebern konsequent unterbunden werden kann" stellt Uwe Polkaehn, Vorsitzender des DGB Nord fest.

Klar positioniert gegen die zahlreichen Ausnahmeregelungen hat sich die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) Schleswig-Holstein. "Auch für die mehr als 5.150 Langzeitarbeitslosen in Kiel sollte der Mindestlohn gelten. Wenn Langzeitarbeitslose oder Jugendliche, die noch keine 18 Jahre alt sind, weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen, dann werden sie zur 'Billig-Lohn-Reserve' in Kiel", so NGG-Geschäftsführer Finn Petersen. Wer nach langer Arbeitslosigkeit die Hoffnung hat, endlich wieder einen Job zu bekommen, wird so über den Tisch gezogen." Was dann passiere, sei klar: "Erst einstellen, dann für einen Billig-Lohn schuften lassen und nach sechs Monaten wieder auf die Straße setzen". Es sei zu befürchten, dass Unternehmen "billige Langzeitarbeitslose" gezielt nutzen würden, um reguläres Personal zu ersetzen. "Auch wenn unter 18-Jährige den Mindestlohn nicht bekommen, droht ein Drehtür-Effekt: Ältere Beschäftigte würden dann durch 'billige Junge' ausgebootet", warnt Finn Petersen. Um jeden Verdrängungswettbewerb zu verhindern, müssten Ausnahmen beim Mindestlohn deshalb grundsätzlich vom Tisch.

Wie wichtig der Kampf um einen existenzsichernden Mindestlohn ist, wird auch daran deutlich, dass immer weniger Menschen in Deutschland direkt in Branchentarifverträgen eingebunden sind. In Westdeutschland gilt dies nur noch für gut die Hälfte der Angestellten, in Ostdeutschland arbeiteten 2013 sogar zwei Drittel in Betrieben ohne Branchentarifbindung wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Juni 2014 in einer Studie feststellt. Zum Zeitpunkt der ersten Datenauswertung 1996 arbeiteten noch 70 Prozent der Angestellten in Westdeutschland in einem Betrieb, der einem Branchentarifvertrag unterstand. In Ostdeutschland waren es damals 56 Prozent. Seitdem hat die Tarifbindung kontinuierlich abgenommen.

Der jahrelange Kampf um den Mindestlohn muss also weitergehen - jetzt gegen Übergangsregelungen, gegen Ausnahmen und für 10 Euro als nächste Stufe. Und es geht um wirksame Kontroll- und Sanktionsmechanismen.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 312 - September 2014, Seite 22-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2014