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GEGENWIND/520: Sozialverbände nun auf dem Weg in die Offensive?


Gegenwind Nr. 290 - November 2012
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Sozialverbände nun auf dem Weg in die Offensive?
Norbert Blüm muss soziale Gerechtigkeit erklären - Wirkung ungewiss

von Klaus Peters



Die Folgen der Finanz- und Schuldenkrise und die dazu im Frühsommer veröffentlichte Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW) zu den Privatvermögen und den Staatsschulden in Europa (vgl. DIW Wochenbericht Nr. 28 2012) hatte fast 30 Organisationen zu einem Bündnis gegen den Sozialabbau und gegen die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft zusammengeführt. Ein erster Höhepunkt der Kampagne "UMfairTEILEN - Reichtum besteuern" war der am 29. September durchgeführte bundesweiten Aktionstag. Der Aktionstag war im Vorfeld von verschiedene Veranstaltungen und Aktionen begleitet worden.


Der Sozialverband von Deutschland, Landesverband Schleswig-Holstein, hatte für eine Veranstaltung am 25. September in Kiel den Sozialpolitiker und langjährig, bis 1998, amtierenden Arbeitsminister, Dr. Norbert Blüm, eingeladen. Blüm gelang es, den Zuhörern in der fast voll besetzen Halle 400 auf seine bekannt unterhaltsame Art, die von ihm vertretene Sozialpolitik zu erklären. Ausgehend von der beginnenden sozialstaatlichen Ausrichtung der Staaten als Folge der Industrialisierung und Proletarisierung, durch die von Karl Marx initiierte Politisierung der Arbeiter, hätte die Sozialpolitik sich entwickelt und schließlich in den achtziger Jahren - gerade auch wegen der ideologischen Gegensätze in den beiden deutschen Staaten - den bis dahin erreichten Standard zunächst beibehalten können.

Blüm machte dem Publikum nochmals klar, dass die Schuldenpolitik ursächlich mit der Verteilungspolitik zusammenhängt. Die Verantwortlichen und deren willfährige Sachverständige verkörpern für ihn die "Dekadenz des Neoliberalismus". Diesem Neoliberalismus hatte sich der CDU-Politiker allerdings schon früh, beginnend in den siebziger Jahren und schließlich als Regierungsmitglied in den neunziger Jahren unterworfen. Nun, ohne Amt und Mandat, scheute er sich nicht, Staaten, die nicht bereit seien, soziale Gerechtigkeit herzustellen, als "Räuberbanden" zu bezeichnen.

Die Daten des Entwurfs des aktuellen Armuts- und Reichtumsberichts waren für Blüm dann Anlass, auf die Christliche Soziallehre zu verweisen, die grob missachtet werde. Die Christliche Soziallehre beinhalte im Kern, dass sich die Menschen Güter nur durch vom Ertrag ihrer selbst geleisteten Arbeit aneignen dürften.

Im zweiten Teil seiner Rede ging Blüm dann auf die Formen der sozialen Sicherung ein. Die erste, der drei Formen ist die staatliche Zuwendung, die sich in den skandinavischen Ländern am stärksten entwickelt hätte. In den USA würde die soziale Sicherung in. größtem Ausmaß auf die private Initiative abgewälzt. In Deutschland hatte sich das auf Gegenseitigkeit beruhende Genossenschaftsmodell über viele Jahrzehnte bewährt. Dieses Modell sei im Kern zerschlagen, sei durch Kapitaldeckung und Hartz IV ersetzt worden. Die verantwortlichen Politiker und Protagonisten dieser Entwicklung würden sich somit wie Geisterfahrer verhalten, wenn sie ein bewährtes System, dass beispielsweise dem amerikanischen Präsidenten Obama als Vorbild diene, verlassen. Die Gewerkschaften seien in Deutschland als Tarifpartner zudem so geschwächt worden, dass jetzt ein staatlicher Mindestlohn gefordert werden müsse.

Auch die Riester-Rente sei das völlig falsche Modell, da sie zum Lohnabbau und damit auch zur Verringerung der Solidarrente beitrage, zudem sei noch zusätzliche staatliche Hilfe erforderlich. Dieses Modell sei Solidarität für Geisterfahrer. Das seit Menschengedenken bekannte und bewährte Prinzip "Einer für alle, alle für einen" werde grob missachtet. Modernisierung werde im Übrigen fast nur noch mit Privatisierung gleichgesetzt.

Im Zusammenhang mit den Kontrollen von Hartz IV-Betroffenen bezeichnete Blüm den Staat als Nachfahren eines Polizeistaates. Die Armut würde schließlich nicht nur massive finanzielle Einschränkungen bedeuten, die betroffenen Menschen würden auch aus Lebenszusammenhängen gerissen. Insgesamt sei die Politik der letzten Jahre mit einer negativen Entwicklung der Kultur verbunden.

Als exzellenter Kenner der Materie konnte Blüm den Zuhörern auch sehr schnell klarmachen, wie kompliziert, unsolidarisch und unzureichend die neuen Pläne für die zukünftigen Renten seien. Zuschussrente (Mitfinanzierung durch Beitragszahler) oder Betriebsrenten (Lohnentnahme bei Mitarbeitern in öffentlichen Einrichtungen oder Großbetrieben) seien zur Absicherung der Grundrente völlig ungeeignet. Für Mitarbeiter kleinerer und mittlerer Betriebe käme dieses Modell ohnehin nicht in Frage. Der Beitragssatz stieg durch die Riester-Rente bereits auf 26 % anstelle der offiziell genannten 22 %, wobei der Arbeitgeberanteil nur 11 % betrage. Gewinner seien also schon jetzt nur die Arbeitgeber und die privaten Versicherer. Berücksichtigt werden müssten auch die deutlich höheren Verwaltungskosten der privaten Versicherer.

Diese neoliberale, zutiefst ungerechte Entwicklung sei massiv von der Bild-Zeitung, dem "Zentralorgan der Volksverdummung" unterstützt worden. Das hohe Risiko der kapitalgedeckten Rente hätte sich nicht zuletzt in der Finanzkrise gezeigt; in den USA hätten weniger als ein Viertel der Pensionsfonds überlebt.

Gesellschaftspolitisch erwartet Blüm eine starke Gegenbewegung, die wesentlich von den Gewerkschaften getragen werden müsse. Produktivität und Bildung müssten in die richtige Richtung verbessert und weiter entwickelt werden. Bildung sei mehr als Wissensanhäufung. Die Gesellschaft sei auf den demografischen Wandel noch immer unzureichend vorbereitet, die kulturelle Dimension werde zu wenig erkannt.

Verstärkte Migration sei keine Lösung, man könne die Menschen nicht wie Zugvögel behandeln. Es sei auch reiner Zynismus, gut ausgebildete Kräfte aus weniger entwickelten Ländern abzuziehen.

Wenn immer wieder von der Zukunft der Gesellschaft als Dienstleistungsgesellschaft geredet werde, stehe vielfach das in völligem Gegensatz zur Realität. Die Menschen würden zu Schnäppchenjägern gemacht. Der Abbau von Dienstleistungen zeige sich besonders deutlich beim Angebot der Bahn. Die Bahn habe immer mehr Personal abgebaut, so dass ältere Menschen schon private Hilfe benötigen, um mit den Automaten klar zu kommen. In der Erziehung müssten die Rücksichtnahme und die Solidarität wieder eine starke Rolle spielen. Ohne Solidarität hätte der Sozialstaat keine Zukunft.

Welche Wirkung Blüms Rede hatte, haben kann, lässt sich nicht sagen. Die bisherige Entwicklung zeigt, dass auch gute Reden oder Konzepte die Menschen nicht gleich umstimmen, dass sich ihre Haltung, ihr Wahlverhalten damit nicht unmittelbar und grundlegend ändert. Was sollen sie machen, wenn ihnen ein CDU-Mann seine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit buchstabiert, die seine eigene Partei und fast alle anderen Parteien grob missachten? Sollen, werden sie Die Linke wählen? Für die Mehrheit gilt wahrscheinlich: leider nein. Es gibt zu viele durch die Massenmedien geschürte Vorbehalte. Viele, vielleicht noch mehr als bisher, gehen nicht zur Wahl oder hoffen (glauben), dass sich doch irgendwie zumindest kleinere Fortschritte einstellen. Deshalb müssen einfach mehr Menschen durch mehr Aktive aufgeklärt und motiviert werden, ihr Verhalten zu ändern.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 290 - November 2012, Seite 42-43
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2012