Gegenwind Nr. 287 - August 2012
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern
LANDTAGSWAHL SH
Was wird aus dem Koalitionsvertrag?
"Bündnis für den Norden - Neue Horizonte für Schleswig-Holstein"
von Klaus Peters
Ein Koalitionsvertrag mit einem schönen Titel liegt vor, aber wie steht es mit den Inhalten und was kann wirklich umgesetzt werden? Vieles wollen die Koalitionäre zunächst einmal wieder auf rot-grünes Niveau zurückführen. Der Bewegungsspielraum ist durch den Finanzrahmen, durch bundespolitische Entscheidungen, abgeschlossene Planungen, durch Beschlüsse, durch tradiertes Verwaltungshandeln und durch verfassungsrechtliche Zuständigkeiten, generell durch das Finanzkapital und seine Auguren, stark eingeengt.
Der einfache Politik- und Personenwechsel beruhigt mit kräftiger Unterstützung der bürgerlichen Medien leider schon viele Bürger. Von Aufbruchsstimmung dürften außerhalb der Koalitionsparteien nur wenige erfasst sein. Für Menschen ohne halbwegs angemessen bezahlte Arbeit und andere sozial Benachteiligte besteht dazu - insbesondere auch wegen der begrenzten Zuständigkeiten - jedenfalls wenig Veranlassung. Ein grundlegender Politikwechsel, eine Politik konsequenter sozialer Gerechtigkeit und wirklich nachhaltiger Entwicklung fand keine Mehrheit.
Der Koalitionsvertrag der Dreier-Koalition enthält teilweise anspruchsvolle Ziele und Absichtserklärungen in über 100 Abschnitten auf 61 Seiten. Erstaunlich und anerkennenswert, der Hinweis, dass über die kommende Legislaturperiode hinaus gedacht werden soll: "Wir sind auch über die Zeit hinaus für das verantwortlich, mit dem was wir jetzt tun". Allerdings fehlen Prioritäten, Zeitrahmen und die Erläuterung möglicher Hindernisse der Umsetzung von Vorhaben, die in einer Legislaturperiode nicht oder nicht vollständig umgesetzt werden könnten.
Was ist nun von der Dreier-Koalition in den nächsten Jahren zu erwarten? Welche Konkretisierungen werden Parlament und Regierung vornehmen? Was steht im Zentrum, müsste eigentlich umgesetzt werden? Ein besserer Politikstil, ein besserer Umgang mit den Bürgern, dem Parlament, den Sozial- und Umweltschutzverbänden, mehr Offenheit und Beteiligung wird erwartet und an mehreren Stellen versprochen. Eine sozial-ökologische Vorbildfunktion des Landes und seiner Einrichtungen ist nicht zu erkennen (Einführung eines Umweltmanagementsystems, Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten). Ohne Engagement, auch verstärktes Engagement von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen ist zu befürchten, dass die Umsetzung der vielen wenig konkreten Ziele auf den entsprechenden Politikfeldern nicht, nur abgeschwächt oder verzögert erfolgt. Bequemlichkeit, eigene Interessen, Verdrängung oder die Durchsetzung von Prestigeprojekten sind Versuchungen, denen prinzipiell alle Entscheidungsträger ausgesetzt sind, sie führen zu Verzögerungen und Veränderungen oder sogar dazu, Vorhaben wegzudrücken. Deshalb sind das Engagement, die Unterstützung und auch der Gegendruck durch Bürgerinitiativen und von anderen Nichtregierungsorganisationen so wichtig. Nach Aussage des neuen Ministerpräsidenten sollen neben der Finanzpolitik, Bildung und Energie auch das Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit zentrale Felder der zukünftigen Landespolitik sein. Natur- und Umweltschutz und andere nicht genannte Politikfelder dürfen nicht zu untergeordneten Politikfeldern werden. Und neue Herausforderungen, wie die Zukunft des privatisierten, Finanzinvestoren überlassenen Wohnungsbestandes stehen vor der Tür.
Es werden zusätzliche Mittel z.B. für die Frauenberatungsstellen, den ökologischen Landbau oder den Ersatz von Elternbeiträgen von Hartz-IV-Betroffenen benötigt. Eingespart werden soll beim Personal (10 %), auch bei Lehrerstellen, jedoch nur hälftig bezogen auf den Rückgang der Schülerzahlen, und der Organisation der Verwaltung, abgeschafft werden Kultur- und Minderheitsbeauftragte, der Förder-Zins für Erdöl soll erhöht werden. Einsparungen ergeben sich auch durch die Verkleinerung des Landtags. Ferner sind Verkäufe der Anteile der HSH-Nordbank und der Verkauf der Spielbanken geplant. Über Bundesratsinitiativen soll der Druck zu höheren Steuern von Spitzenverdienern und zur Wiedereinführung der Vermögenssteuern verstärkt werden.
Vom Bund und den übrigen Bundesländern werden "Deutschlandbonds" für Bund und Länder und eine gemeinsame Altschuldenregelung für Länder und Kommunen gefordert.
Die Bildung soll im Zentrum der Politik der Koalitionäre stehen. Von den Kindertagesstätten über alle Schulformen, die berufliche Ausbildung und die Lehrerausbildung, bis zu den Hochschulen, sind Reformen vorgesehen. Selbst die Bibliotheken sollen gestärkt werden, allerdings fehlen dazu konkretere Angaben. Was "gute" Bildung sein soll, wird nicht erklärt, vielleicht bringt die beabsichtigte Bildungskonferenz mehr Klarheit über Inhalte.
Die Energiewende steht neben der Bildung ebenfalls im Zentrum des Koalitionsvertrages. Es werden, wie auf anderen Politikfeldern, diverse Kompromisse notwendig sein. Die Voraussetzungen sind schwierig und widersprüchlich. Die wesentlichen Kompetenzen sind in einem Ministerium zusammengefasst worden, das aber gleichzeitig für den Natur- und Umweltschutz und die Landwirtschaft zuständig ist. Die Neuorganisation wird zunächst einmal viel Zeit und Energien verbrauchen. Mit der pauschalen Aussage: "Sonne, Wind und Wasser sind im Überfluss vorhanden", werden natürlich keine Probleme gelöst. Die Vorgaben und Versäumnisse früherer Regierungen zur Energiepolitik stellen eine komplexe Herausforderung dar:
Wie der beklagte Energiekostenanstieg verhindert werden soll, wird nicht mitgeteilt. Welche Ergebnisse in den nächsten Jahren tatsächlich erreicht werden, ist letztlich nicht vorherzusagen.
In den Bereichen Agrarpolitik und Tierschutz wäre ebenfalls genauso dringlich ein grundlegender Politikwechsel erforderlich. Die bisherige Agrarpolitik verdrängt seltene Tierarten, führt zu viel zu hohem Verbrauch von Chemie und Energie, ist für einen unnötig hohen Treibhausgasausstoß verantwortlich. Die industrialisierte Landwirtschaft mit Massentierhaltung und Monokulturen, letztere in den letzten Jahren durch die von Rot-Grün eigeleitete verfehlte Förderpolitik zur Produktion von Agrotreibstoffen auf immer mehr Flächen entstanden, ist mit unverantwortlichen Tierschutz-, Umwelt- und Gesundheitsproblemen verbunden. Der sogenannte Strukturwandel hat bereits zu einer erheblichen Konzentration der Agrarproduktion auf immer weniger Betriebe geführt. Die notwendigen Veränderungen sind auch von der Neukonzeption der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) abhängig. Darüber hinaus von Entscheidungen der Bundesregierung und des Bundestags. Das Land muss seine eigenen Möglichkeiten ausschöpfen, einschließlich geeigneter Bundesratsinitiativen. Die Wiedereinführung der Beibehaltungsprämie für Biobetriebe oder eine "Eiweißinitiative", durch die der Anbau von Eiweißpflanzen gefördert werden soll, um problematische Soja-Importe zu verringern, sind zwar sehr zu begrüßen, reichen aber nicht aus, um eine Agrarwende einzuleiten. Es bleibt viel zu tun:
Anerkannte Tierschutzverbände sollen das Verbandsklagerecht erhalten.
Der Abschnitt zu den ländlichen Räumen ist im Koalitionsvertrag mit viereinhalb Zeilen auffällig kurz, ländliche Räume werden jedoch auch an anderer Stelle genannt, z.B. im Abschnitt Wirtschaft, dort wird dem Handwerk aber eine übertrieben universelle Bedeutung für die ländlichen Räume zugesprochen. Es besteht wenig Klarheit über das tatsächliche Wertschöpfungspotenzial, deshalb müsste auf der Basis vorliegender Konzepte umgehend eine Umsetzungsstrategie für die nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume erarbeitet und umgesetzt werden. Die Defizite sind eklatant. Grundsätzlicher Handlungsbedarf:
Im Abschnitt Verkehr wird erstaunlich ausführlich auf Lärmbelastungen eingegangen, die abgebaut werden sollen. Die Tatsache, dass die Straßenverkehrssicherheit, steigende Unfallzahlen (120 Getötete in Schleswig-Holstein) und die volkswirtschaftliche Kosten der Verkehrsunfälle überhaupt nicht erwähnt werden, weist auf ein generelles gesellschaftliche Unvermögen hin, Risiken rational einzuschätzen und rational zu handeln. Sicherheitspotenziale sind offenbar nicht bekannt oder werden ignoriert. Was ist beabsichtigt:
Kürzungen werden prinzipiell zurückgenommen. Darüber hinaus werden verschiedene Verbesserungen genannt, deren Konkretisierung und zeitliche Umsetzung ist jedoch wie in anderen Fällen ungewiss:
Der Anspruch ist enorm: "Fortschritt und Veränderung dürfen nicht gegen die Interessen der Natur gerichtet sein!" Dieser Anspruch ist mit dem vorliegenden Koalitionsvertrag nicht zu erfüllen. Zu einzelnen Aussagen bzw. Defiziten:
Für Alleen und die Straßenrandbepflanzung soll ein Bewirtschaftungskonzept erarbeitet werden - die Straßenverkehrssicherheit wird ausgeblendet.
Erfreulich ist, dass die Wirtschaftsförderprogramme konsequent an sozialen und ökologischen Kriterien ausgerichtet sein sollen. In welchem Umfang und m welcher Qualität das gelingt, bleibt wieder abzuwarten. Es soll ein norddeutsches Hafenkonzept erarbeitet werden. Einer weiteren Elbvertiefung wird nicht zugestimmt. Darüber hinaus ist u.a. vorgesehen:
Auf wesentliche negativen Auswirkungen des Tourismus wird nicht angemessen reagiert: steigende Wohnraumknappheit bzw. steigende Immobilien- und Mietpreise, Überhang von Zweitwohnungen und -häusern, Strandbefahrung. In der Nordsee soll alles wie bisher plus Windenergie und nachhaltiger (nicht sanfter) Tourismus möglich sein. Gleichzeitig sollen Kultur und regionale Identität im Kontext mit dem Schutz der Nordsee gestärkt werden?
Die Koalition setzt auf größere Kommunen, Zusammenschlüsse sollen freiwillig erfolgen, zusätzliche Fördermittel sollen Anreize schaffen. Die Bürgermeisterwahl wird wieder modifiziert. Die kommunalen Gesellschaften sollen paritätisch mit Frauen besetzt werden.
Die angekündigte Rücknahme der Streichung von über 120 Millionen Euro für den kommunalen Finanzausgleich wird nur teilweise erfolgen und ist zur Finanzierung von Betreuungsangeboten für Kinder im Vorschulalter vorgesehen [15 Millionen bis 80 Millionen (2017)].
Das Denkmalschutzgesetz soll wieder qualitativ verbessert werden. Vorgaben für eine höherwertige Bebauung und Ortsgestaltung zur Initiierung einer anspruchsvollen, einer potenziell denkmalschutzwürdigen Baukulturentwicklung ist nicht vorgesehen (entsprechende Richtlinien- und Satzungsvorschläge gab es schon einmal), offensichtlich soll sich alles der optimalen Nutzung unterordnen.
Bürgerbegehren werden erleichtert.
Die Verpflichtung zur Bestellung von hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten wird auf Kommunen mit 10.000 Einwohnern abgesenkt.
Die Landesplanung soll wie bisher vom Land durchgeführt werden (die bisherige Koalition hatte eine Kommunalisierung vorgesehen).
Trotz mehrfacher Betonung von internationalem Austausch und internationaler Kooperation ist die Förderung von Partnerschaften (Städte, Gemeinden, Kreise) kein Thema. Angesichts der gerade in Rio de Janeiro stattgefundenen internationalen Konferenz für Umwelt- und Entwicklung (Rio+20) hätte eine klare Aussage zur Befürwortung und Unterstützung lokaler Agenda 21-Prozesse ein deutliches Zeichen für Nachhaltigkeit und Bürgerbeteiligung gesetzt werden können.
Das Wahlrecht wird auf 16 Jahres herabgesetzt. Das bedeutet trotzdem, dass zur nächsten regulären Wahl Wähler, die heute 16 Jahre alt sind, erst mit über 20 Jahren wählen können. Weitere Wahlrechtsänderungen, wie die Möglichkeit der Stimmenhäufung und das Stimmensplitting oder die Aufhebung der Sperrklausel sind nicht vorgesehen.
Einige interessante Einzelaspekte, deren Umsetzung allerdings zu hinterfragen wäre, da die Strategien dazu nicht klar sind:
Erhöhung der Wahlbeteiligung, Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, ökologische Folgekosten berücksichtigen, soziale Gerechtigkeit Maßstab für politisches Handeln, "Schleswig-Holstein soll ein solidarisches Land werden, in dem die soziale Gerechtigkeit und die gesellschaftliche Teilhabe Aller Maßstab für politisches Handeln ist", Einsatz für Teilhabe und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen.
In öffentlichen Kantinen soll ein vegetarisches Gericht angeboten werden, vorrangig sollen regionale und saisonale Produkte, möglichst aus dem ökologischen Anbau, verwendet werden.
Der Koalitionsvertrag ist durch eine relative Unübersichtlichkeit gekennzeichnet, die meisten Zielsetzungen sind erwartungsgemäß nicht sehr konkret, durch einige übertriebene Aussagen soll Optimismus geweckt werden. Wer sich davon nicht beeindrucken lässt, dem genügen vielleicht einige Ankündigungen von Einzelprogrammen, Berichten und Projekten. Eine Fortführung der in Ansätzen vorhandenen Nachhaltigkeitsstrategie oder die Anknüpfung an die, unter der früheren rot-grünen Bundesregierung vorgelegte Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes, bleiben unerwähnt. Um die zukünftige Regierungspolitik angemessen bewerten zu können, müsste zunächst eine schonungslose Bilanz vorgelegt werden. Wenn interessierte Bürger dann wirklich die Möglichkeit erhalten sollen, sich auf "Augenhöhe" zu beteiligen, ist eine mit großer Sorgfalt zu entwickelnde und umzusetzende Strategie erforderlich. Dazu gehören Ressortprogramme und nachvollziehbare Zwischenberichte.
Wünschenswert wäre eine koordinierte kritische Begleitung der Regierungsarbeit durch Experten, kritische Nichtregierungsorganisationen und interessierte Bürger.
Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass sich die in diesem Koalitionsvertrag angelegten Ziele nach Ablauf der jetzt laufenden Legislaturperiode fortführen lassen. Im Bund regiert vorraussichtlich Rot-Grün oder Rot-Schwarz. Die Piraten und die Linkspartei könnten es wieder schaffen, in den Landtag zu kommen, eine Regierungsbeteiligung dieser beiden Parteien ist aus heutiger Sicht aber eher unwahrscheinlich, Tolerierungen sind dagegen nicht auszuschließen. Für die FDP werden die Aussichten ohne ihren derzeitigen Frontmann ungünstiger.
Für die politischen Mitkonkurrenten (Linke) kommt es darauf an, die Nichtregierungsorganisationen dort zu unterstützen, wo Gemeinsamkeiten bestehen oder entstehen können. Gleichzeitig sind die Missstände, deren Ursachen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die Machtverhältnisse und Möglichkeiten zu deren Überwindung, aufzuzeigen. Das politische Bewusstsein, die politische Bildung ist auf ein signifikant höheres Niveau anzuheben, damit Bürger Defizite, Potenziale der realen Politik, deren Ursachen und Alternativen erkennen. Die Bereitschaft zur Wahl zu gehen und sich politisch zu engagieren, muss deutlich gesteigert werden. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist auch eine stärkere Bereitschaft zur Solidarisierung, zum gemeinschaftlichen Handeln mit den außerparlamentarischen Kräften.
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Quelle:
Gegenwind Nr. 287 - August 2012, Seite 12-16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2012