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GEGENWIND/506: Die Invasion der Schuldenbremsen


Gegenwind Nr. 284 - Mai 2012
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Die Invasion der Schuldenbremsen

von Thomas Herrmann



Jetzt soll er also kommen, der europäische Fiskalpakt. Wie schon die Fiskalregeln im Lissabon- und Maastrichtvertrag wird das als ganz große Finanzpolitik gehandelt. Im Folgenden geht es um die Frage, was im Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion, kurz Fiskalpakt, drin steht. Da dieser Vertrag eine Reihe von restriktiven Finanzregeln formuliert, geht es dann um die Frage, was das für die Finanzpolitik in Schleswig-Holstein bedeutet.


Bereits 2011 verhandelten die europäischen Regierungschefs über ein Abkommen, das die Haushaltspolitiken der einzelnen Staaten einer stärkeren Kontrolle und Restriktion unterwerfen sollte. Im Januar wurde der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt) vom Europäischen Rat beschlossen. Anfang März unterzeichneten dann auf dem EU-Gipfel 25 von 27 europäischen Regierungschefs den Fiskalpakt. Dieser soll bereits am 1. Januar 2013 in Kraft treten, wenn bis dahin 12 der 17 Euroländer Ratifikationsurkunden hinterlegt haben. Noch vor Sommeranfang sollen nach dem Willen der politischen Führung von CDU, SPD, FDP und Grünen in Bundestag und Bundesrat Entscheidungen über den Europäischen Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion, kurz den Fiskalpakt mit Zwei-Drittel-Mehrheiten herbeigeführt werden.

Das gilt nach allgemeiner Lesart als Einführung der Schuldenbremsen in anderen europäischen Ländern auch. Da Deutschland mit einer Verfassungsänderung im Jahr 2009 bereits eine hat, möchte man meinen, dass sich für die Bundesrepublik wenig ändert. Dem ist aber nicht so, denn der europäische Fiskalpakt wird, wenn es nach dem Willen der europäischen Regierungschefs geht, kurze Übergangsfristen kennen. Die Bundesschuldenbremse greift für den Bund (0,35% Defizit) erst ab 2016, für die Länder (0-Defizit) ab 2020. Des Weiteren wird im Fiskalpakt nicht nur das Defizit von Bund und Ländern eingerechnet, sondern auch die Schulden von Kommunen und Sozialversicherung gehen in die Berechnung ein. Alle zusammen müssen dann frühestens ab 2013 in Deutschland mindestens einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Das bedeutet in der Praxis, dass das strukturelle Defizit für Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen zusammen einen Wert von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes nicht überschreiten darf. Die Ausnahme bilden Mitgliedsstaaten mit einem Schuldenstand von unterhalb 60 Prozent des BIP. Diese dürfen jährlich ein Prozent strukturelles Defizit aufbauen.

Da die europäischen Staaten mit durchaus differenzierten Finanzsystemen und daraus abgeleiteten verschiedenen und damit kaum vergleichbaren Finanzstatistiken arbeiten, werden die Referenzwerte nun aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung entnommen, die europäisch weitgehend normiert ist.

Der Fiskalpakt orientiert sich an den vorhergehenden finanzpolitischen Abreden im Lissabon- und Maastrichtvertrag. An der dort festgelegten Fiskalregel, dass das staatliche Gesamtdefizit 60 Prozent nicht übersteigen darf; wird mit einer Dreijahresfrist festgehalten. Die überschießende Verschuldung soll innerhalb von 20 Jahren, jährlich mit jeweils einem Zwanzigstel des Wertes abgetragen werden. Darauf bezieht sich die Rede von Gregor Gysi im Bundestag. Bei einer Verschuldung von knapp über 2 Billionen Euro, was etwa 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes entspricht, müssten in 20 Jahren etwa 500 Milliarden Euro Schulden zurückgeführt werden. Das ergibt einen zusätzlichen Konsolidierungsbedarf von 25 Milliarden Euro im Jahr. Die entscheidende Variable stellt dabei allerdings das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes dar. Denn wenn es gelingt, den Schuldenstand tatsächlich lediglich im Rahmen von 0,5 Prozent zu steigern und gleichzeitig ein kontinuierliches Wachstum des BIP von 2 Prozent zu erzeugen, liegt die Staatsschuldenquote Deutschlands im Jahr 2033 ohne Kürzungen unter 60 Prozent. Bei einer Verschuldung von 60 Prozent des BIP lag das Land allerdings zuletzt 2001, vor der Steuergeschenkorgie für Besserverdienende von Rot-Grün.

Das Ganze ist allerdings realistisch über einen so langen Zeitraum gar nicht abschätzbar. Das Wachstum des BIP betrug in Deutschland in den 90er Jahren etwa 1,6 Prozent und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts etwa ein Prozent. Tendenz fallend. Das reicht dann nicht, weil ohne Zutun der Schuldenstand lediglich auf 72 Prozent abzuschmelzen ist. Um auf den Stand von 60 Prozent zu kommen müsste dann sogar ein Konsolidierungsbetrag von 700 Milliarden Euro in 20 Jahren erbracht werden, weil die Schulden im Zähler und das BIP im Nenner steht. Dies entspräche einer jährlichen Kürzung von sogar 35 Milliarden. Da alle Staatshaushalte ökonomisch endogen sind, wirken Haushaltskürzungen zusätzlich negativ auf das Wachstum des BIP (siehe Griechenland, Spanien, Großbritannien, Irland, Portugal ....). Und wenn es erwartungsgemäß zu konjunkturellen Einbrüchen kommt, erzeugen diese dann - quasi automatisch - neue und wahrscheinlich dramatische Konsolidierungsbedarfe in den Staatshaushalten in Situationen in denen es eher expansiver Finanzstrategien bedürfte.

Insgesamt verschärft der Fiskalpakt die Finanzreglungen an einer entscheidenden Stelle. Der Mechanismus negativer Sanktionen kann nun sehr viel schneller in Gang gesetzt werden. In der alten Regelung brauchte es vorher eine qualifizierte Mehrheit im Rat zur Einleitung eines Defizitverfahrens, welches letzten Endes zu finanziellen Sanktionen fuhren kann. Jetzt reicht die umgekehrt qualifizierte Mehrheit.

Praktisch wird der Bundestag, wie alle anderen betroffenen europäischen Parlamente auch durch den Fiskalpakt in der zentralen politischen Frage der Haushaltsautonomie entmachtet. Mit der Aufgabe der Budgethoheit des Parlaments als Kernbestandteil der Demokratie wird die Demokratie selbst zur Disposition gestellt. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könnte die Zustimmung zum Fiskalpakt Verfassungsbruch sein. Die demokratisch nicht hinreichend legitimierte europäische Exekutive erhält durch den Vertrag in Fragen der nationalen Haushaltsaufstellungen eine starke Vetoposition. Auch das ist mit der demokratischen Tradition Europas nicht vereinbar.

Der Fiskalpakt sieht keine Kündigungsmöglichkeiten vor. Er müsste einstimmig geändert werden. Da das ganz unrealistisch ist, bekommen die neuen europäischen Fiskalregeln die gleiche Ewigkeitsgarantie wie die Artikel 1 - 20 im Grundgesetz. Es ist schon merkwürdig, wenn neben Würde, Freiheit und Gleichheit nun auch eine Schuldenregel als unveränderbarer Verfassungsgrundsatz erscheint.

Die Haushaltsplanung in Schleswig-Holsteins ist ständig im Fluss. Plante der Finanzminister noch 2011 mit einem konjunkturellen Defizit von 65 Millionen Euro, so sind daraus ex post ein konjunktureller Überschuss von 379 Millionen geworden. Damit überbrückt er den Schätzfehler von 800 Millionen Euro bei den Steuereinnahmen. Diese liegen jetzt nur noch um 444 Millionen höher als im November 2010 angenommen.

Die neuen Fiskalregeln werden kaum in die Haushaltsplanungen für 20 13/14 einfließen können, weil der Abstimmungsbedarf relativ hoch ist. Hinzu kommen die offensichtlichen Schwierigkeiten des Saarlandes auch nur theoretisch bereits die Regeln der Bundesschuldenbremse einhalten zu können.


Die Folgen für Schleswig-Holstein

Eine finanzielle Entspannung als Folge des Fiskalpaktes ist ausgeschlossen, weil sich die Schuldenbremsen des Bunds und des Landes durch den europäischen Fiskalpakt nicht lockern können. Also können nur Verschärfungen erwartet werden. Diese sind auch nicht irreal, wie ein Blick auf die Entwicklung der Länderhaushalte zeigt. Der Finanzierungssaldo des Bundes betrug 2011 minus 25,3 Milliarden Euro, der der Ländergesamtheit minus 9,4 Milliarden Euro, der der Kommunen minus 5,7 Milliarden und der der Sozialversicherungen plus 15,1 Milliarden Euro. Das sind insgesamt 27 Milliarden Defizit, was einem BIP-Anteil von einem Prozent entspricht. Da am Überschuss der Sozialversicherungen politisch rumgefummelt wird, könnte der Überschuss der Sozialversicherungen abschmelzen und das Gesamtdefizit in 2012 treiben. Geht man nur von der Lage 2011 aus und rechnet bei konstantem Sozialversicherungsüberschuss den anteiligen Konsolidierungsbedarf bei Bund, Ländern und Kommunen zusammen, so liegt dieser bei 13,5 Milliarden Euro, um ad hoc die neuen Verschuldungsregeln des Fiskalpaktes einzuhalten. Davon würde nach Teiler auf den Bund, die Länder und Kommunen ein Konsolidierungsbedarf von einem Drittel entstehen. Die Länder müssten also zusätzlich 3,1 Milliarden Euro aus ihren Haushalten kürzen.

Für Schleswig-Holstein wären dann knapp 100 Millionen Euro fällig. Es ist allerdings so, dass der Finanzminister im Konsolidierungsbericht vom 10. April 2012 eine Unterschreitung der Defizitvorgabe für 2011 von 223 Millionen ausgeflaggt hat. Das ist eine merkwürdig paradoxe Folge der Schwarzmalerei des Finanzministers in Sachen Landesfinanzen. Um die Lage besonders düster darzustellen hat er die Ausgabenplanung besonders hoch und die Einnahmeentwicklung besonders niedrig angesetzt. Andere Finanzminister haben anders geplant, und so haben die Finanzminister Hessens und Rheinland-Pfalz einen Brandbrief an Wolfgang Schäuble geschrieben. Das Handelsblatt vom 10.04.2012 berichtet unter der Überschrift: "Bundesländer fürchten europäischen Fiskalpakt":

"Konkret fürchten die Länder unabhängig von der politischen Farbe ihrer Regierung, dass sie schneller schuldenfreie Etats erreichen müssen, als es die deutsche Schuldenbremse bis 2020 vorschreibt. Außerdem fürchten sie, dass ihnen der Fiskalpakt ein neues Haftungsrisiko für die Schulden der Kommunen aufbürdet."

Das dürfte für manche Länder arg werden. Ärger ist allerdings das Problem, schon ausgeglichene. Haushalte zu haben. Sachsen zum Beispiel ist das Musterbundesland. Seit sechs Jahren fahren die Sachsen Haushaltsüberschüsse. Man hat zwei Milliarden für die Pensionslasten zurückgelegt und 1,6 Milliarden für die Haftungsrisiken bei der an die Landesbank Baden-Württemberg abgegebene Sachsen LB. Kürzlich ist der sächsische Bildungsminister Wöller zurückgetreten. Er könne mit den Mitteln, die ihm der Finanzminister zuteile, keine Bildungspolitik machen. Der sächsische Haushalt ist auch deshalb ausgeglichen, weil das Land seinen Lehrerinnen und Lehrern ein Drittel weniger zahlt als andere Länder. In der Folge verlässt wer kann den sächsischen Schuldienst in Richtung Westen, Norden und Süden. Die Folge ist rasender Unterrichtsausfall, dem der Bildungsminister nicht abhelfen kann, weil er die Mittel nicht hat. In Leipzig verlässt mittlerweile jede fünfte Schülerin und jeder fünfte Schüler die Schule ohne Schulabschluss und bleibt in der Folge auch ohne Ausbildungs- und Beschäftigungschancen. Was die Schuldenbremse also bringen wird ist eine massive Belastung der kommenden Generationen. Die werden zwar keine Schulden mehr haben aber dafür ungeheure Soziallasten.


Thomas Herrmann
Wissenschaftlicher Referent für Wirtschaft und Finanzen in der Landtagsfraktion Die LINKE

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Quelle:
Gegenwind Nr. 284 - Mai 2012, Seite 24-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2012