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GEGENWIND/473: Atom - Schluss mit den Spielchen!


Gegenwind Nr. 272 - Mai 2011
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

ATOM
Schluss mit den Spielchen!
Reden wir endlich über die Chancen des Atomausstiegs

Von Karl-Marin Hentschel


Manchmal denke ich, dass ich träume! Egal welchen Sender ich einschalte - überall nur noch Atomkraftgegner. Die gleichen Herren und die kanzelnde Dame, die den Grünen seit Jahren vorgeworfen haben, sie seien wirtschaftspolitisch ahnungslos, sind jetzt ihre besten Freunde. Wirklich? Es lohnt sich schon zweimal hinzuhören - denn schon erwachen die Bedenkenträger wieder aus ihrer Amnesie. Der Wirtschaftsminister Brüderle ist zum Ausstieg bereit, erklärt den Bürgern aber schon mal, dass es teuer wird. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Steinmeier malt gar die Deindustrialisierung Deutschlands an die Wand. Die Atomwirtschaft warnt vor den Importen von Atomstrom aus Frankreich. Der Umweltminister Röttgen erklärt eindringlich, warum wir jetzt doch Kohlekraftwerke und die CCS-Technologie brauchen. Und Merkel gibt den Grünen die Schuld, wenn es nicht voran geht, weil sie den Klimawandel fordern, aber hintenrum den Ausbau der Stromtrassen verhindern. Da frage ich mich: Warum redet eigentlich niemand von den Chancen der Energiewende?


Verkehrte Welt? Oder werden da schon die Schützengräben für die nächste Runde der Auseinandersetzung mit dem Stromoligopol gegraben? Tatsächlich sind die Ängste ja alle berechtigt: Die Stromversorgung ist zur Lebensader der Zivilisation geworden. Ohne Strom geht fast nichts mehr - kaum ein Herd, kaum eine Heizung, kein Wasserhahn, kein Telefon. Wenn in den kommenden Jahrzehnten auch noch die Autos mit Strom fahren und die gut gedämmten Häuser mit elektrischen Wärmepumpen geheizt werden, dann wird die Stromversorgung mit Erneuerbaren Energien endgültig zur Gretchenfrage werden, die über Wohlstand und Konkurrenzfähigkeit von Staaten entscheidet.

Die Frage lautet also: Können die Erneuerbaren genug Strom liefern, um die Atomkraftwerke in wenigen Jahren abzuschalten und zugleich die Klimaschutzziele zu erreichen? Die Antwort lässt sich in zahlreichen Gutachten nachlesen, die in den letzten Jahren angefangen vom Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung bis hin zu einer ganzen Reihe von renommierten Forschungsinstituten erstellt wurden. Das übereinstimmende Ergebnis lautet: Es gibt quantitativ kein Problem. Der Zuwachs des Stromangebots aus Erneuerbaren Energien hat alle Vorraussagen übertroffen und Deutschland immer mehr zum Stromexporteur gemacht. Selbst wenn wir heute alle Atomkraftwerke abschalten würden, hätten wir genug Strom - aber - und das ist der kritische Punkt - leider nicht zu jedem Zeitpunkt.


Der Teufel steckt im Detail

Im Kern geht es um zwei eng zusammenhängende Probleme: Das Angebot an Windstrom und Solarstrom ist unregelmäßig und erheblichen Schwankungen unterworfen. Zugleich schwankt auch die Nachfrage zwischen 40 Gigawatt nachts und über 80 Gigawatt während der täglichen Stromspitzen. Und die Leitungskapazitäten reichen heute schon nicht aus, um den erzeugten Windstrom von der Küste in die industriellen Zentren im Rheinland und in Süddeutschland zu transportieren. In Schleswig-Holstein mussten deshalb im letzten Jahr regelmäßig die Windkraftparks an der Nordsee bei gutem Wind abgeschaltet werden, so dass 20 % des Stroms verloren ging. Wir brauchen also: Erstens: Genügend regelbare Kraftwerke, die man schnell hochfahren kann, wenn mehr Strom benötigt wird. Zweitens: Mittelfristig, wenn das Windstromangebot bei gutem Wind die Nachfrage übersteigt, brauchen wir die Möglichkeit, Strom zu speichern. Und drittens brauchen wir Stromkabel, um den Strom jeweils dorthin zu transportieren, wo er benötigt wird.

Völlig ungeeignet zur Lösung dieses Problems sind Atomkraftwerke. Im Gegenteil - sie sind ein Hindernis. Bereits 2015 wird soviel Windstrom im Netz sein, dass die Atomkraftwerke bei gutem Wind regelmäßig abgeschaltet werden müssten. Das geht aber nicht, da das Wiederanlaufen drei Tage dauert. Auch die trägen Braunkohlekraftwerke sind dazu nicht in der Lage. Die Atomkraftwerke sind keine Brückentechnologie - sondern vielmehr ein Hindernis für die Energiewende. Deswegen war die Laufzeitverlängerung auch aus rein technischer Sicht Unsinn. In Frage kommen für die Aussteuerung der Schwankungen nur Speicherkraftwerke, schnell steuerbare Gaskraftwerke, Biomasse-Kraftwerke oder eben auch solarthermische Kraftwerke mit Wärmespeichern, wie sie jetzt schon in Spanien gebaut werden.

Die einfachste und schnellste Möglichkeit, diese Probleme zu lösen, besteht jedoch in der Einbindung der skandinavischen Wasserkraftwerke an das mitteleuropäische Netz. Norwegen allein beherbergt in seinen Stauseen über die Hälfte aller Wasserspeicherkapazitäten von ganz Europa. Die Kapazität der norwegischen Stauseen würde ausreichen, um Europa über zwei Wochen vollständig mit Strom zu versorgen. Wir könnten immer dann, wenn an der Küste guter Wind weht, Norwegen mit Strom versorgen. Die Wasserkraftwerke könnten dann abgeschaltet werden. Wenn aber ein Hochdruckgebiet über Norddeutschland uns eine Flaute beschert, würden die Norweger ihre Stauseen öffnen und uns den benötigten Strom liefern. Diese Variante ist schneller und auch finanziell viel günstiger zu realisieren, als der Bau von großen und teuren Speichern in Deutschland. Aber diese Variante erfordert nach Berechnungen des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU) mindestens eine Verfünffachung der Leitungskapazität zwischen Skandinavien und Deutschland.


Die Politik muss die Weichen stellen

Das größte Problem der Energiewende in den kommenden zehn Jahren ist also nicht der Zubau von genügend Erneuerbaren Energien. Für den ausreichenden Zubau sorgt schon das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das allerdings noch mal gründlich überarbeitet werden sollte. Das größte Problem ist vielmehr der Ausbau der Netze - von Deutschland nach Skandinavien und innerhalb von Deutschland von der Küste nach Süden. Und es sind nicht die Grünen und die Umweltverbände, die diesen Netzausbau blockieren, wie Frau Merkel nicht aufhört zu behaupten. Sowohl die Grünen, Greenpeace wie auch viele andere Verbände haben längst die Brisanz erkannt und klare Beschlüsse dazu gefasst. Es sind auch nicht die Bürgerinitiativen vor Ort, die zu Recht ordentliche Planungsverfahren einklagen und wo möglich in Siedlungsnähe die Verlegung von Leitungen unter die Erde fordern. Das ist übrigens in Dänemark längst Standard - warum nicht bei uns? Die eigentlichen Bremser sind die Energiekonzerne.

Die Atomkraftbetreiber wissen sehr gut: Der einzige Grund, warum sie in den kommenden Jahren ihre Großkraftwerke überhaupt noch profitabel betreiben können, sind die Netzengpässe. Denn diese gewährleisten, dass bei viel Wind genügend Windkraftwerke abgeschaltet werden, damit die Atomkraftwerke weiter laufen können. Die Atomkraftkonzerne blockieren auch seit Jahren den Bau von Leitungen nach Skandinavien. Das geschieht mit aktiver Unterstützung der Bundesregierung, die den Norwegern seit Jahren eine Zusage für die Einspeisung von norwegischem Wasserstrom ins deutsche Netz verweigert.

All das ist sehr schnell lösbar - es müssen nur endlich die Entscheidungen gefällt werden. Was bleibt sind die Befürchtungen verschiedener Herren von Steinmeier bis Brüderle, dass die deutsche Wirtschaft darunter leiden könnte. Bis vor wenigen Jahren gingen tatsächlich die meisten Experten noch davon aus, dass ein Alleingang einer Nation oder gar der Europäischen Union beim Klimawandel zu teuer wäre. Aber die Situation hat sich grundlegend geändert. So sind die erneuerbaren Energien in den letzten Jahren bereits zunehmend günstiger geworden. Auch in der Wirtschaft spricht sich immer mehr rum, welche strategische Bedeutung die Erneuerbare-Energien-Technologien haben werden. Tatsächlich hat die Vorbereitung den Wettlauf um die Zukunftstechnologien bereits begonnen und immer mehr Firmen stehen in den Startlöchern. Selbst die Internationale Energie Agentur IEA, bis vor wenigen Jahren Vertreterin der Kohle- und Öllobby schlechthin, hat eine Kehrtwende vorgenommen und warnte in Cancun, dass jede Verzögerung des Klimaabkommens um ein Jahr die Welt jeweils eine Billion Dollar kostet. Es wird Zeit, dass sich die Politik nicht mehr von den Lobbyisten einer einzigen Branche - dem Stromoligopol - an der Nase herumführen lässt.


Die Welt steht in den Startlöchern

Ausgerechnet die Hauptbremser bei den Klimakonferenzen, die USA und China, sind schon dabei, Europa einzuholen. Im Krisenjahr 2009 wuchs der Weltmarkt für Windkraftwerke gegen den Trend um 31 Prozent. Davon wurde ein Drittel allein in China aufgebaut - ein weiteres Viertel in den USA.

Über 40 Staaten haben das deutsche Erfolgsmodell EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz) kopiert, das dafür sorgt, dass Erneuerbare Energien im Netz Vorrang haben. Auch in den USA hat die Mehrzahl aller Staaten engagierte Klimagesetze verabschiedet. Bei der Installation von Windkraftanlagen hat die USA Deutschland bereits überholt - mit Texas und Kalifornien an der Spitze. Hawaii hat sich per Gesetz verpflichtet, bis 2030 die CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung um 70 Prozent zu senken. Dagegen ist das von Präsident Obama propagierte nationale Atomenergieprogramm zum Scheitern verurteilt. In den USA müssen Atomkraftwerke nämlich versichert werden. Und das ist der Grund, warum seit dem Unfall in Harrisburg kein AKW in den USA in den Bau gegangen ist. Die Wallstreet hat Obama bereits abgewinkt - das Risiko ist zu groß - und das wird sich nach Fukushima nicht ändern.

Auch China, das seinen Strom heute zu 80 Prozent mit Kohle erzeugt, hat bereits die Wende eingeleitet. Im Jahre 2009 wurden Windkraftwerke mit einer Leistung von 13 Gigawatt ans Netz gebracht - das ist mehr Kapazität als die aller neun chinesischen Atomkraftwerke zusammen - und das nur in einem Jahr. Jetzt nach Fukushima soll das Atomprogramm noch mal überprüft werden. Bei solarthermischen Anlagen für Haushalte ist China bereits Weltmeister und hat fünfmal soviel Anlagen installiert wie ganz Europa. Außerdem hat China die größten Wasserkraftreserven der Welt: 67 Gigawatt sind im Bau, weitere 100 Gigawatt in Planung. Sogar beim Netzausbau ist China schon weiter als Europa. Während bei uns noch über die Notwendigkeit diskutiert wird, ein neues Gleichstrom-Overlay-Netz, das so genannte Supergrid, zu bauen, um den Strom der Erneuerbaren ohne große Verluste quer durch Europa zum Kunden zu bringen, handelt China. Über 10.000 Kilometer HGÜ-Leitungen (Hochspannungsgleichstromübertragung; mit geringen Verlusten) wurden bereits in Betrieb genommen.

China und die USA stehen mit diesem Engagement nicht allein. Brasilien, Kanada und Indien sind in die Spitzengruppe der Windkraftbauer vorgedrungen. Länder wie Mexiko, die Türkei und Marokko haben Zuwachsraten von über 100 Prozent. Auch Südafrika hat einen Einspeisetarif eingeführt.


Deutschland Vorreiter

Nach dem Scheitern der Klimakonferenz von Kopenhagen hatte ich eine Umfrage zur Klimastrategie bei Experten aus Wissenschaft und Politik gemacht. Angesichts der oben geschilderten Entwicklung ist es kein Wunder, dass die Mehrzahl der befragten Experten für einen Strategiewechsel plädierte. Europa solle mit Deutschland an der Spitze vorangehen, anstatt auf den Konferenzen um Klimaziele zu pokern. Konkret heißt das, zu beschließen, in den kommenden 30 Jahren einseitig die komplette Stromversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen und dafür alle Weichen zu stellen. Die Befürchtung, dass wir uns damit eine viel zu teure Energieversorgung anschaffen, ist überholt. Im Gegenteil: Wenn Deutschland, das führende Maschinenbauland der Welt, loslegt, ist das ein Startsignal. China und Indien, Ägypten und Marokko, Brasilien und Mexiko und viele US-Staaten beobachten sehr genau, was hier in Europa geschieht. Selbst in den Atomhardliner-Staaten Japan und Frankreich beginnt nun die Diskussion. Eine Entscheidung in Deutschland wird einen Wettlauf um die Erneuerbaren weltweit auslösen. Jeder will dabei sein, niemand will die Entwicklung versäumen.

Wird eine solche Entwicklung erst einmal eingeleitet, dann kann die Umstellung viel schneller erfolgen, als die Experten bislang für möglich hielten. Prof. Schellnhuber, der Direktor des Klimaforschungsinstituts in Potsdam, spricht vom Selbstbeschleunigungspotenzial solcher Innovationsprozesse. Noch vor fünf Jahren hielten die meisten Experten eine CO2-freie Stromversorgung frühestens Ende des Jahrhunderts für möglich. Nun liegen bereits mehrere Studien vor, nach denen die Umstellung bereits 2050, 2040 oder gar sogar 2030 abgeschlossen werden kann. Die Stellungnahme des Sachverständigenrates der Bundesregierung rechnet vor, dass ab 2030 die Strompreise der Erneuerbaren bereits niedriger liegen als die aus noch nicht abgeschriebenen fossilen und nuklearen Kraftwerken. Wer wird bei solchen Aussichten noch Kohle- oder Atomkraftwerke bauen?

Hinzu kommt: Deutschland hat ideale Vorraussetzungen, um loszulegen. Denn es liegt zwischen den größten Wasserspeichern Europas: den Stauseen in Skandinavien und den Alpen. Wenn diese Speicher durch neue "Super-Strom-Leitungen" verfügbar gemacht werden, um die Schwankungen der Windkraftparks auszugleichen, dann kann bereits 2020 über die Hälfte des Stroms in Deutschland aus Erneuerbaren gewonnen werden. Dies sollte im Rahmen einer abgestimmten EU-Strategie geschehen. Parallel dazu sollte dann der Ausbau von Speichern vor Ort - zum Beispiel Druckluftspeicher oder auch Wasserstoffspeicher - und die Einbindung von thermischen Solarkraftwerken in Nordafrika beginnen.


Was ist zu tun?

Wir haben alle Chancen. Für die Wirtschaft wird die Energiewende ein Impulsprogramm. Die Kosten für Strom werden mittelfristig sogar niedriger liegen, als wenn wir die Energiewende verschleppen. Klimapolitisch besteht so die Möglichkeit, auch ohne Klimaabkommen zum Durchbruch der Erneuerbaren Energien zu kommen. Dafür müssen nun die Weichen gestellt werden.

Deutschland sollte sich zum Ziel setzen, bis 2020 die Treibhausgasemissionen um 40% zu reduzieren und in einem abgestimmten Plan die Atomkraftwerke zwischen 2015 und 2020 abzuschalten. Wann das möglich ist, wird vor allem vom Ausbau der Netze in Deutschland und nach Skandinavien abhängen. Dazu muss das gesetzliche Regelwerk einschließlich des EEG novelliert und optimiert werden, um die Ziele möglichst effizient zu erreichen.

Eine engagierte Klimapolitik und der Atomausstieg sind eine große Herausforderung. Sie sind aber auch eine große Chance. Da beide Herausforderungen unvermeidlich auf uns zukommen, sollten wir die Gelegenheit jetzt beim Schopf ergreifen. Die deutsche Wirtschaft lebt vom Export von Technologien. Wenn die Erneuerbaren Energien die Schlüsseltechnologien der kommenden Jahrzehnte werden, dann lohnt es sich, uns bei der Energiewend an die Spitze setzen. Über die Risiken des Atomausstiegs ist genug geredet worden. Reden wir endlich über die Chancen!


Vgl. auch Seite 76/77


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Quelle:
Gegenwind Nr. 272 - Mai 2011, S. 21-24
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2011