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GEGENWIND/374: Nato-Gegner in Straßburg inhaftiert


Gegenwind Nr. 249 - Juni 2009
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

REPRESSION
Nato-Gegner in Straßburg inhaftiert

"Kriegstreiberei wird gefeiert - wer sich wehrt, kommt in den Knast"


Während des Nato-Gipfels Anfang April in Strasbourg wurden über 350 Menschen inhaftiert. Die meisten sind wieder frei, doch 7 Menschen sind exemplarisch und zur Abschreckung immer noch inhaftiert. Unter den Gefangenen befinden sich auch zwei Rostocker. Einige Gefangene haben eine gemeinsame Erklärung zum NATO-Gipfel und zu ihrer Inhaftierung in Straßburg veröffentlicht, aus der wir hier Auszüge dokumentieren (d. Red.).


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Im Gefängnis geht alles nicht so schnell. Wenn man einen Brief schreiben will, müssen erst mal Briefmarken und Papier bestellt werden. Dafür braucht es Geld. Und auch wenn dir Geld zur Verfügung steht, kann es dauern bis die bestellten Dinge da sind. Alle Briefe werden geöffnet und wahrscheinlich gelesen, dass braucht auch seine Zeit. Informationen gelangen nur sehr langsam herein und heraus. - Und so melden wir uns erst jetzt zu Wort.


1, 2, 3 und du bist nicht mehr frei!

Als die NATO am 3. und 4. April 2009 ihren Geburtstag feiern wollte, war sie nicht allein. Zehntausende Menschen fuhren nach Frankreich, um gegen das Kriegsbündnis auf die Straße zu gehen. Tausende deutsche und französische PolizistInnen waren im Einsatz. Das Schengener Abkommen wurde außer Kraft gesetzt und die Stadtzentren von Baden-Baden und Straßburg wurden abgeriegelt. Viele Menschen bekamen Einreiseverbote nach Frankreich und umliegende Länder. Bereits zwei Tage vor dem Gipfel wurde eine ganze Demonstration bei Straßburg eingekesselt und verhaftet, welche sich gegen die tödliche Polizeigewalt beim G20-Gipfel in London gerichtet hatte. Vor der Masseningewahrsamnahme wurden die Menschen mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen durch einen Wald gehetzt. Dabei wurde der Mindestabstand von fünf Meter weit unterschritten, was tödliche Verletzungen zur Folge haben kann. Eine erste medizinische Versorgung der Wunden wurde z. T. erst am nächsten Morgen gewährt. Die nächsten Tage verliefen ähnlich: Über 350 Menschen wurden willkürlich in Gewahrsam genommen und mussten zum Teil mehrere Nächte in überfüllten Sammelzellen verbringen, ohne Essen und teilweise verletzt. Die meisten Menschen wurden wieder frei gelassen, nur einige wenige traf die Polizeiwillkür besonders hart: Neun Menschen sind seit mittlerweile einem Monat im Knast. Wir, die wir diesen Text schreiben, sind einige davon.


Justiz im Auftrag des Präsidenten

Dass ausgerechnet wir hier sind, ist reiner Zufall - jeden hätte es genauso treffen können. Die Medien ereiferten sich über Randalierer. Präsident Sarkozy forderte öffentlich, die Täter so hart wie möglich zu bestrafen. Polizei und Justiz standen unter dem Druck, "Erfolge" ihrer Arbeit zu präsentieren, als zwei Tage nach dem Gipfel die Schnellverfahren stattfanden. So ging es bei den Prozessen im Wesentlichen nicht um die konkreten Tatvorwürfe. Die Urteile orientierten sich stark an den Plädoyers des Staatsanwaltes, dessen Argumentation stützte sich zum großen Teil auf Vermutungen und Behauptungen ohne jede Beweiskraft. Es wurde erst gar nicht versucht den Eindruck eines fairen Verfahrens zu erwecken. Es handele sich um einen "Professionellen", der "vor Gericht Reden hält", so der Staatsanwalt über einen der Angeklagten. Als Beweis reichte ihm die Aussageverweigerung bei der Polizei und die große Distanz, die der Beschuldigte zurück gelegt hatte, um an den Protesten teilnehmen zu können. Es ging hier eindeutig darum, medienwirksam ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Die Äußerungen Sarkozys hatten uns schon im Vorfeld Schlimmes befürchten lassen. Die Strafen und die Härte der Urteile überraschten auch unsere Rechtsanwälte, da es sich um ein Vielfaches des gewöhnlichen Strafmaßes handelte - selbst wenn alle Anschuldigungen wahr gewesen wären. Drei Menschen wurden zu Haftstrafen mit sofortigem Haftantritt verurteilt. Zwei sitzen vorerst 4 Monate in U-Haft. In der populären Straßburger Tageszeitung "DNA", die wir hier zu lesen bekommen, sollte der Eindruck erweckt werden, dass die "Schuldigen" der Ausschreitungen vom 4. April zu "gerechten Strafen" verurteilt wurden. So wurden gezielt Informationen unterschlagen, etwa dass drei der Angeklagten bereits zwei Tage zuvor festgenommen wurden. In einem anderen Fall wurde über einen Angeklagten berichtet, der einen Polizisten gebissen haben soll und behauptete, er habe AIDS. Dazu wurde ein Foto veröffentlicht, dass einen Angeklagten vom Vortag zeigt. Dieser hatte jedoch nichts mit den Vorwürfen zu tun. In der Wirkung ein reiner Rufmord, zumal 90% der hier Inhaftierten die "DNS" lesen.


Die Brandstifter als Friedensstifter

Bei der Medienberichterstattung über die Proteste, soweit wir sie hier mitbekommen konnten, war die berechtigte Kritik an der NATO-Politik völlig aus dem Blick geraten oder wurde gezielt weggelassen. Statt dessen wurden die beteiligten PolitikerInnen als FriedensstifterInnen dargestellt. Der "60. Geburtstag" des Kriegsbündnisses wurde medienwirksam gefeiert und als eine Art Gala der Wohltätigen der westlichen Welt verklärt. Dabei steht die NATO, fast zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges, wie kein anderes Militärbündnis für Aufrüstung, für die Herstellung von mehr und noch "besseren" Waffen und für immer mobilere Armeen, die jederzeit und überall die Machtinteressen der Herrschenden durchsetzen können. Der aktuelle Vorwand kann sich ändern, die Palette reicht hierbei von der sogenannten Durchsetzung von Menschenrechten, der Jagd auf Terroristen oder aktuell der Kampf gegen die Piraten von Somalia.

Die wahren Gründe für Interventionen bleiben die gleichen: Ausweitung der freien Märkte, Rohstoff- und Ressourcensicherung, sowie geopolitisches Machtkalkül. Einige der am NATO-Gipfel Beteiligten sind für Tausende Tote auf der ganzen Welt verantwortlich. Das mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem Gipfeltreffen diskutierte NATO-Strategiepapier "Zu einer Gesamtstrategie in einer ungewissen Welt - Die transatlantische Partnerschaft erneuern" zeigt nicht nur ganz klar die zukünftigen Kriegsschauplätze des Nordatlantik Paktes auf, es nennt auch noch ungeniert die oben bereits erwähnten wirtschaftlichen Gründe für eine militärische Präsenz. Hier wird insbesondere die Bedeutung Afrikas in Bezug auf Ressourcenknappheit, Klimawandel und Migrationskontrolle hervorgehoben. Aktuelle Fragestellungen des 21. Jahrhunderts sollen mit Hilfe einer neuen, gemeinsamen Militärstrategie gelöst werden.

Es bedarf also keines großen Rechercheaufwands, um die NATO als Kriegstreiber in der Pose einer Weltpolizei zu überführen. Umso skurriler erscheint das produzierte Medienbild. Völlig verzerrt, werden auf der einen Seite die NATO-Staaten als "Friedensstifter" dargestellt und auf der anderen Seite die DemonstrantInnen als GewalttäterInnen diffamiert. Das Problem der strukturellen Gewalt eines Kriegsbündnisses wird komplett ausgeblendet. So ist es nicht verwunderlich, dass Kriege relativiert und mit den Ausschreitungen in Straßburg verglichen werden. So gerät eine freie Berichterstattung zur Farce. Egal was man nun von den Ausschreitungen hält, das Verhalten der Medien legt nur einen Schluss nahe, es soll von den wahren Brandstiftern in Form der NATO abgelenkt werden.


Im Knast...

Irgendwie sind wir im Knast weit weg von der Welt und doch mittendrin. Das klingt paradox, doch vor allem hier drin werden die negativen Aspekte unserer Gesellschaft deutlich. Staatlicher Rassismus und totale Kontrolle sind nicht nur Phänomene innerhalb der Knastmauern. Abschiebung, Erfassung biometrischer Daten, Videoüberwachung und das Ausschnüffeln der Privatsphäre sind nur einige Beispiele die auch in der sog. Freiheit allgegenwärtig sind. Auch Methoden zur Widerstandsbekämpfung gibt es im Knast.

So wurde die Polizeieinheit "IRISSE" allein aus dem Grund der Aufstandsbekämpfung gegründet. Zuletzt wurde diese Anfang April im Gefängnis von Mulhouse eingesetzt. Hier wollten Gefangene nach dem Hofgang nicht zurück in ihre Zellen. Die Beamten sind wie die Cops auf der Straße und bei Demos, mit Tasern, Knüppeln und Tränengas ausgestattet. Die meisten Gefangenen, denen wir hier begegnen, sitzen wegen kleinen Delikten ein. Benutzung falscher Papiere um nicht abgeschoben zu werden oder arbeiten zu können. Alkohol am Steuer. Diebstahl und Etikettenschummel, Besitz von kleinen Mengen Drogen.

Viele kamen wie wir per Schnellverfahren direkt in den Knast, für Monate oder gar Jahre. Die meisten sind jung, mit migrantischem Hintergrund und aus den Banlieues. Viele erzählen uns, dass "AusländerInnen" immer die härtere Strafe bekommen. Als Gefangene/r lebt man nicht völlig schlecht. Die Grundbedürfnisse wie Essen, Wärme, Bewegung, Kontakt zu anderen Menschen sowie medizinische Versorgung werden einigermaßen erfüllt - zumindest so lange du dich normgerecht verhältst. Alles hier ist portioniert und rationiert. Wer dreimal nicht zu vorgeschriebenen Zeiten duschen geht, kommt in die Arrestzelle in den Keller. Im Knast in Straßburg sitzen über 700 Gefangene, bei einer eigentlichen Kapazität von 450 Plätzen. Um die chronische Überfüllung möglich zu machen, werden in die meisten Einzelzellen einfach Doppelstockbetten gestellt. So teilen sich 2 Personen etwa neun Quadratmeter - einschließlich Toilette. Die Überbelegung ist aber keine Straßburger Besonderheit.


Solidarität yeah!

Dass Solidarität hilft, können wir hier drin wirklich erleben. Nicht nur die Gefangenen der Proteste, sondern auch die vielen anderen helfen sich gegenseitig: mit Infos, mit Süßigkeiten, mit Zuhören, mit Rat und Tat - und das tut gut. Wir freuen uns über die vielen Solidaritätsbekundungen in den verschiedenen Städten. Über all die Menschen, die uns öffentlich, privat und praktisch den Rücken stärken. Wenn die gegen uns verübte Willkür und Gewalt überall, über Grenzen hinweg Menschen auf die Straße und zusammen bringt, dann geht das geplante Exempel, das die Mächtigen an uns statuieren wollen, nach hinten los.

Einige Gefangene aus Straßburg
Straßburg, den 29.04.2009


Dies ist ein Auszug aus dem Text "Ein Statement aus dem Knast".
Die ungekürzte Fassung und weitere Infos, Kontaktadressen der Gefangenen usw. gibt's auf:
http://breakout.blogsport.de


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Quelle:
Gegenwind Nr. 249 - Juni 2009, Seite 19-21
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2009