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GEGENSTANDPUNKT/173: Die geistige Bewältigung der Finanzkrise


GEGENSTANDPUNKT
Politische Vierteljahreszeitschrift 4-2008

Die geistige Bewältigung der Finanzkrise

In der Not zeigt der marktwirtschaftliche Expertenverstand, was er vermag


Im Herbst 2008 stellt sich im Herzen Europas eine bestürzende Einsicht ein: Die Wertevernichtung im Finanzsektor, die eineinhalb Jahre zuvor als "Subprime-Hypothekenkrise" in den USA angefangen hat, löst sich, entgegen allen hoffnungsvollen Erwartungen und Beschwörungen, doch nicht in Wohlgefallen und eine "Wiederbelebung der Finanzmärkte" auf. Sie ist nicht zu bremsen, im Gegenteil. Diesseits wie jenseits des Atlantik und überhaupt weltweit läuft die Kette von Entwertungen, Kursabstürzen, eingetretenen und abgewendeten Bankpleiten und anderen Unglücksfällen auf eine Katastrophe zu, die - irgendwie - das Weiterfunktionieren der globalen Marktwirtschaft in Frage stellt.

Überhaupt nicht in Frage gestellt ist damit die fachliche Kompetenz der Experten und professionellen Interpreten des marktwirtschaftlichen Geschehens, die das Kreditgewerbe bei jeder Gelegenheit als Motor der Wirtschaft gepriesen, seine Renditen bewundert und noch alle Fortschritte der Krise dahingehend analysiert haben, im Grunde sei das Bankensystem "gesund", in Deutschland jedenfalls und "im Kern". Auf dem Markt der öffentlichen Meinungen sind die Fachleute unverzüglich mit Deutungen der Lage präsent, die bei allem Pluralismus so sinnreich zusammenpassen, als hätten die Autoren verabredet, arbeitsteilig vorzuführen, wie Erklären im Geiste der Verantwortung für die zu erklärende Sache funktioniert - wahrscheinlich wieder mal so ein Fall von "invisible hand".

Logischerweise am Anfang, dem Ausmaß der Katastrophe durchaus angemessen, steht die Systemfrage. Genauer gesagt: Der marktwirtschaftliche Sachverstand stemmt sich mit all seiner publizistischen Macht dagegen, dass die Systemfrage in kritischer Absicht aufgeworfen wird. Mitten in seiner ausufernden Krise wird das kapitalistische System, das unter Verzicht auf Beschönigungen offensiv bei seinem lange verpönten Namen genannt wird, über den grünen Klee gelobt - für "Jahrzehnte des Wohlstands" - und seine Alternativlosigkeit beschworen, so als hätten radikale Kritiker die Herrschaft des kapitalistischen Eigentums über Arbeit und Konsum angegriffen und als müssten deren Adressaten gegen falsche kommunistische Gedanken immunisiert werden. Das hat insofern etwas Komisches an sich, als von einer solchen Kritik, geschweige denn von einer Gegnerschaft, die das System an seinem reibungslosen Funktionieren hindern würde, weder dies- noch jenseits des Atlantik etwas zu spüren ist. Es sind ja überhaupt nicht böse Linke und eine von denen verführte Arbeiterbewegung, die das Funktionieren des Kapitals praktisch in Frage stellen, sondern die Chefmanager des Finanzkapitals, die Charaktermasken der Krone der marktwirtschaftlichen Schöpfung. Die haben es aber tatsächlich dahin gebracht, dass ihr Gewerbe kaputtgeht und dessen Zusammenbruch allen Ernstes die Systemfrage heraufbeschwört. Die selber haben das Kreditwesen so ins Schleudern gebracht, dass das Allerheiligste der bürgerlichen Welt, das in Geld gemessene Privateigentum, und mit ihm die funktionstüchtige Herrschaft des Geldes, der für "die Wirtschaft" und deren staatlichen Standortverwalter so enorm produktive Sachzwang des Geldverdienens, das Abpressen von Geld aus jeder Arbeit und jeder Lebensregung, in Gefahr geraten sind. Das, immerhin, haben die geistigen Charaktermasken dieses Systems gemerkt. Und der Schreck darüber ist ihnen offensichtlich so heftig in die Glieder gefahren, dass sie eben als Erstes, reflexartig und noch vor jeder anderen Überlegung, das aber immer wieder, das System in Schutz nehmen und sich gar nichts daraus machen, dass der ganze Laden durch ganz andere Leute und Machenschaften kaputt gemacht wird als durch die Einwände, gegen die sie ihren Schutzwall aus Lobpreisungen errichten.

Dies getan, bleibt noch ein Zweites zu erledigen. Weil für sie stets der Erfolg des Systems das Argument seiner unbedingten Befürwortung ist, sehen die Apologeten der Marktwirtschaft im unabweisbaren Misserfolg unmittelbar die Gefahr einer Blamage des Objekts ihrer Verehrung heranziehen. Also machen sie sich an die ungewohnte Aufgabe, den Kapitalismus geistig vor dem Ruin durch seine eigene maßgebliche Elite zu retten, und auch die wird mit Bravour erledigt; in einem arbeitsteilig perfekt ausgewalzten Dreischritt.

Als Erstes bemühen sich die geistigen Sachwalter der kapitalistischen Klassengesellschaft, einen theoretischen Keil zwischen das System und seine finanzkapitalistischen Häuptlinge zu treiben. Zu diesem Zweck schrecken sie auf der einen Seite nicht davor zurück, die neulich noch bewunderten, für zutiefst vertrauenswürdig befundenen Helden des großen und schnellen Geldes der Misswirtschaft bis hin zur kriminellen Veruntreuung des globalen Volksvermögens zu bezichtigen und die gesamte ehrenwerte Geschäftssphäre zu verteufeln, in der mit Spekulieren Kapital vermehrt wird. Auf der anderen Seite schmieden sie ideell eine Volksfront der Betroffenen, wobei speziell die Figur des Sparers, der um das Seine fürchten muss, als die personifizierte Parteilichkeit fürs System des Eigentums und Inbegriff der Schönheiten des Geldes im Mittelpunkt steht. Die Inhaber kleiner, aber redlich stets von neuem aufgefüllter Girokonten und eines vom Munde abgesparten Sparbuchs repräsentieren da gemeinsam mit den Arbeitsplätze schaffenden Unternehmern, die womöglich den Kredit nicht mehr kriegen, mit dem sie ihre Belegschaften so weltrekordmäßig ans Lohnarbeiten gekriegt haben, den guten Kapitalismus, an dem dessen Spitzenkräfte sich versündigt haben. Damit diese Solidarität der Betroffenen, ihr Zu sammenschluss gegen die Nieten und Lumpen in den Chefetagen auch gefühlsmäßig als die in der Krise angesagte Frontstellung einleuchtet, geben die Hersteller des öffentlichen Volksempfindens die Parole Volkszorn aus und pflegen Gewaltfantasien gegen die bösen Superreichen - selbstverständlich in der bürgerlich manierlichen Form dringender Appelle an die öffentliche Gewalt, gegen die Unsitten des Finanzgewerbes so gründlich durchzugreifen, dass "denen" jede Lust auf eine nächste Krise vergeht.

Ohne dass davon etwas zurückgenommen werden müsste, erfolgt daneben als Zweites, nicht minder ausführlich und eindringlich, die Warnung, es mit der Entzweiung zwischen dem niedlichen Kapitalismus der kleinen Leute und dem Rechtsstaat als deren Volkstribun auf der einen, den pflichtvergessenen eigensüchtigen Bossen und Spekulanten auf der anderen Seite nicht zu übertreiben. Die finanzkapitalistische Elite wird schließlich weiterhin gebraucht, bleibt also im Prinzip ein ehrenhafter Stand. Das Fußvolk soll sich mal an die eigene Nase fassen und eingestehen, dass es im Grunde seines Herzens nicht minder eigensüchtig ist als die verachteten Yuppies und gerne auch spekulativ unterwegs wäre. So relativiert sich der neu aufgemachte Klassengegensatz zwischen den Bankvorständen und der betrogenen Massenbasis des Systems doch schon ganz erheblich. In diesem Sinne muss auch "die Politik" sich sagen lassen, dass sie versagt, falsche Anreize gestiftet, selber Bankgeschäfte in den Sand gesetzt hat und insofern auch nicht einfach der Erzengel ist, der die großen Sünder verhaftet und ins Fegefeuer der neuen Bescheidenheit schickt.

Diese dialektische Gedankenbewegung mündet zielstrebig in den konstruktiven Vorschlag ein, die verantwortlichen Inhaber der Gewalt, ohne die die Herrschaft des Geldes im Moment völlig aufgeschmissen wäre, möchten doch alles tun, damit diese Herrschaft wieder funktioniert; aber bitte mit einfühlsamen Reformen, die den freien Markt nicht zerstören, sondern seine positiven Kräfte freisetzen. Bedingungslose Parteilichkeit für das kapitalistische System im Allgemeinen, zu dem es im ganzen Kosmos keine bessere Alternative gibt, verbindet sich da mit größter Hochachtung vor dem System der Kreditwirtschaft im Besonderen, das wie jedes höhere Kunstwerk ein enorm hohes Maß an Umsicht, Einsicht und Tugendhaftigkeit erfordert, um erfolgreich dirigiert zu werden.

Innerhalb dieses grandiosen theoretischen Dreischritts des marktwirtschaftlichen Sachverstandes bleibt für den Pluralismus, den eine freiheitliche Demokratie sich schuldig ist, viel Platz. Die Öffentlichkeit bietet Freiraum für die gröbsten Tiefsinnigkeiten, die einseitigsten Zuspitzungen, sogar für Übertreibungen, die geeignet sind, das dialektische Gesamtbild ein bisschen originell auszuschmücken. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für demokratische Diskussionskultur bietet dabei der unversöhnliche Kampf zweier ideologischer Linien in dem letzten Punkt, der Aufforderung zur Systemoptimierung an die Adresse der Staatsgewalt. Dass das System in seiner Krise staatliche Gewalt braucht, um zu überleben, ist ebenso allgemeiner Konsens wie die Gewissheit, dass das weder gegen das Regime des Geldes spricht noch gegen den Staat, der es seiner Gesellschaft gewaltsam aufoktroyiert. Schärfste Differenzen tun sich jedoch in der Frage auf, ob das System eigentlich ganz gewaltfrei segensreiche Dienste tut und den Staat nur dann als Nothelfer braucht, wenn und solange die Not kein Gebot kennt; oder ob umgekehrt erst die Staatsmacht mit ihren Eingriffen den Segen erweckt, der im Markt liegt, im kapitalistischen Betrieb aber nur allzu leicht verschütt geht. Zwischen diesen beiden kongenial affirmativen Dummheiten verläuft derzeit die Front zwischen Freiheit und Sozialismus.


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Über die Erträge der Forschung nach den Ursachen der derzeitigen Systemkrise des Finanzkapitals gibt die folgende Bestandsaufnahme einen Überblick. Der anschließende Griff in den Papierkorb der Weltpresse mag als Anleitung zum besseren Verständnis der mitunter etwas verworrenen Aufklärungen dienen, die Deutschlands öffentliche Meinung dem lesenden und fernsehenden Volk in schwerer Stunde zu bieten hat.


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Quelle:
Gegenstandpunkt 4-08, S. 9 - 12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2009