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EXPRESS/775: Muster-Integration


express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 11/2015

Muster-Integration
Integration von Flüchtlingen per Betriebsvereinbarung?

Fragen an Peter Bremme


Was die gewerkschaftliche Solidarität mit Flüchtlingen angeht, ist der Fachbereich 13 von ver.di Hamburg schon seit Langem die fortschrittliche Speerspitze der Bewegung. Um eine Diskussion über Handlungsmöglichkeiten von GewerkschafterInnen im Betrieb anzustoßen, hat der FB 13 Hamburg nun eine Musterbetriebsvereinbarung »Integration von Flüchtlingen in das Arbeits- und Berufsleben« entworfen, die sich mit den Möglichkeiten befasst, im Betrieb Beschäftigte mit bezahlter Freistellung auszustatten, um die Voraussetzungen für eine Integration von Flüchtlingen zu schaffen und abzusichern. Sie nimmt, so die Erklärung auf der Homepage von ver.di Hamburg, auch bewusst Themen auf, die über das eigentliche Geschäftsfeld des Unternehmens hinausgehen, »weil der Wirkungskreis einer Firma weiter reichen kann und muss«. Diese freiwillige Betriebsvereinbarung, die auch als Grundlage für eine Dienstvereinbarung im öffentlichen Dienst genommen werden kann, ist einerseits Ideensammlung für ein Gespräch mit der Belegschaft, andererseits dient sie als Leitfaden für offizielle Gespräche mit der Geschäftsleitung, ArbeitsdirektorInnen oder Personalverantwortlichen. Das vielzitierte »Wir schaffen das« der Kanzlerin kann nur Wirklichkeit werden, wenn es auch oder gerade im Arbeitsleben gilt. »Die Debatte um Integration im Betrieb wird umso wichtiger, je mehr die 'Pegidarisierung' der Gesellschaft voranschreitet und sich Rassismus und Neofaschismus in der Mitte der Gesellschaft ausbreiten«, so unser Interviewpartner Peter Bremme, Landesfachbereichsleiter des FB 13 von ver.di Hamburg.


express: Eure Musterbetriebsvereinbarung sieht vor, dass Unternehmen und Betriebsrat gemeinsam nach Beschäftigungsmöglichkeiten für Flüchtlinge im jeweiligen Unternehmen suchen. Fehlt es nicht vielen Flüchtlingen an der dafür erforderlichen Arbeitserlaubnis?

Peter Bremme: Ein so tiefes Verständnis von Sozialpartnerschaft konnten wir bisher nicht entwickeln. Bei Unternehmen nach Arbeitsplätzen in einer Grauzone bis hin zur Schwarzarbeit zu fragen, haben wir uns nicht getraut. Doch jetzt mal ernsthaft. Systembedingt können wir nur Menschen mit den entsprechenden Papieren einen direkten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt eröffnen. Jenseits dieser Schwelle gibt es verschiedene Möglichkeiten. Für Menschen mit einem Arbeitsplatzzugang könnte für den internen Arbeitsmarkt in einem Unternehmen ein Stufenmodell umgesetzt werden:

In der ersten Stufe geht es um die Feststellung der formalen und der realen Qualifikation, in der folgenden Stufe um eine Angleichung der realen Qualifikation an die branchenüblichen Standards und um die Absicherung der formalen Qualifikation durch Anerkennungsverfahren. Stufe 3 beinhaltet das Angebot eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses inklusive einer Perspektiventwicklung. Und für die Stufe 4 stellen wir uns vor, dass die eingestellte Person als Multiplikator für weitere Einstellungen von Flüchtlingen tätig wird. Menschen, die wenig formale Qualifikation mitbringen, könnten Praktika mit Berufsperspektive im eigenen Unternehmen angeboten werden. Sie könnten auch bei externen Dienstleistern von Unternehmen, also z.B. in Reinigungs- und Sicherheitsfirmen, Caterern etc., als Auszubildende einsteigen.

Bei Menschen ohne formale Qualifikation könnte folgendes Stufenschema greifen: Auf Stufe 1 ginge es darum, anhand der jeweiligen Berufsbiographie festzustellen, welche Qualifikation vorliegt. Auf Stufe 2 müssten der interne Arbeitsmarkt und die Dienstleistungsunternehmen bzw. Zulieferer des Unternehmens nach Einsatzmöglichkeiten gescannt werden. Auf Stufe 3 wird das Unternehmen aufgefordert, berufsfördernde Praktika bereitzustellen und / oder der Dienstleister durch Erweiterung der Dienstleistungsverträge verpflichtet, Flüchtlingen einen Einstieg in die Berufswelt zu geben. Warum sollte die outgesourcte Kantine in einer Versicherung nicht Küchenkräfte einstellen, die dann vom Kantinenbetreiber ausgebildet werden? Auf der letzten Stufe wird die Ausbildung durch eine Expertengruppe aus dem Auftragsunternehmen begleitet.

express: Ist der Vereinbarungsentwurf in Zusammenarbeit mit Betriebsräten oder anderen betrieblichen Akteuren entstanden? Gibt es gar Unternehmen, auf die als vorbildliche Beispiele verwiesen werden kann?

Peter Bremme: Die Idee zu diesem Entwurf entstand im Zusammenhang mit der Frage nach Berufsperspektiven der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«. Ein Zusammenhang, der sich »Lampedusa Professions« nennt, hatte damit begonnen, die Berufsbiographien der Gruppenmitglieder zu untersuchen, um Anschlussperspektiven auszumachen. Einige aus der Gruppe, die den Status einer Duldung haben, konnten wir bei ihrer Berufswahl unterstützen. Hier haben auch Betriebsräte mitgewirkt. In diesem Zusammenhang tauchte immer wieder die Frage auf, was denn Betriebsräte dazu beitragen könnten, dass Flüchtlinge eine Arbeit finden. Apropos Lampedusa: Es ist kaum zu glauben, aber eine Forderung, die wir für die Lampedusa-Gruppe entwickelt haben, die europäische Arbeitserlaubnis, wird ein Jahr später, repressiv gewendet, zur Forderung des ersten Bürgermeisters von Hamburg: »Ihr müsst zwar das Asylverfahren in dem Land durchführen, das Euch zugewiesen wurde. Im Gegenzug erhaltet Ihr aber im Fall Eurer Anerkennung als Flüchtling ähnliche Freizügigkeitsrechte wie ein EUBürger. Das heißt, ein anerkannter Flüchtling kann sich anderswo nach Arbeit umsehen. Hat er dort Erfolg, kommt er in das angestrebte Land. Wenn nicht, bekommt er dort auch keine Leistung.« (FAZ vom 7. November 2015) Damit wird der selektive und instrumentelle Charakter der »Willkommenskultur« offensichtlich.

express: Neben den Beschäftigungsmöglichkeiten beinhaltet der Entwurf auch die Institutionalisierung betrieblicher Sach- und Geldspendensammlungen. Warum haltet Ihr es für sinnvoll, so etwas parallel zu den bestehenden zivilgesellschaftlichen Willkommensinitiativen zu machen?

Peter Bremme: Wir glauben, dass es richtig ist, eigene solidarische Strukturen in Unternehmen aufzubauen. Viele Unternehmen, Betriebsräte oder auch Gewerkschaften denken, es sei schon viel erreicht, wenn eine Adressliste von bestehenden Willkommensinitiativen im Betrieb bekannt gemacht wird, dann kann ja jeder und jede nach ihren Möglichkeiten helfen. Weitreichender und nachhaltiger ist es doch, wenn Betriebsräte und andere Gewerkschaftsmitglieder direkt mit den Initiativen zusammenarbeiten und eigene Bezüge zu beispielsweise Flüchtlingsunterkünften aufbauen und Flüchtlinge mit in den Betrieb holen. Es ist doch eine gute Idee, einen Teil des Weihnachtsgeldes für Freizeitaktivitäten für Flüchtlingskinder zu spenden. Und warum sollen die eigenen Kinder nicht gemeinsam mit den Flüchtlingskindern ein Spaßbad besuchen? Und niemand hindert Betriebsräte daran, auch bestehende Strukturen durch Geldoder Sachspenden zu unterstützen.

express: Wichtiges Element der Vereinbarung ist die Schaffung eines betrieblichen Gremiums, für das sich KollegInnen auf freiwilliger Basis von der Arbeit freistellen lassen können. Gibt es Arbeitgeber, die Euch bereits Bereitschaft signalisiert haben, eine solche Vereinbarung abzuschließen? Mit welchen Argumenten oder anderen Mitteln sollen die Unternehmen dazu gebracht werden?

Peter Bremme: Meines Wissens nach nicht. Die Vereinbarung ist ja auch erst gerade veröffentlicht. Ich weiß jedoch von gemeinsam mit der Geschäftsleitung entwickelten Initiativen bei Eon/HHLA, die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen eine Ausbildungschance im Betrieb geben.

Als Argumente, die Arbeitgeber überzeugen könnten, fallen mir folgende ein:

• Wenn das Unternehmen nicht jetzt Menschen qualifiziert, dann sinken die Chancen, in der Zukunft neue Arbeitskräfte zu finden.

• Viele, vor allem größere Unternehmen fühlen sich der CSR (Corporate Social Responsiblity) verpflichtet. Sinngemäß übersetzt heißt das die »Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkung auf die Gesellschaft«. Hier gibt es tausend Anknüpfungspunkte für Betriebsräte.

• Wenn jetzt nicht eine flüchtlingsfreundliche Politik im Unternehmen vorangebracht wird, dann wird tendenziell das Potential für eine Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik größer.

express: Mit welchen Widerständen rechnet Ihr für Betriebsräte, die das angehen wollen - von Unternehmensseite oder aus der Belegschaft?

Peter Bremme: Ich rechne mit Verständnis und Zustimmung in den Betrieben, bei denen ein selbstverständlicher Umgang mit migrantischen Beschäftigten zum Alltag gehört. Das sind überwiegend Großbetriebe in der industriellen Produktion. Wenn es gut verankerte Betriebsräte in Dienstleistungsunternehmen gibt, könnten diese ebenfalls ihr Gewicht in die Waagschale werfen. Ich habe aus meinem Wirkungsfeld positive Signale erhalten aus der Zeitarbeit, der Touristik und der Wohnungswirtschaft. Auf der anderen Seite der Skala könnten auch Betriebe, die aus alternativen Zusammenhängen groß geworden sind, diesen Weg mitgehen, selbst wenn sie keinen Betriebsrat haben.

Positive Erfahrungen habe ich auch in Diskussionen mit ArbeitsdirektorInnen gemacht, die ja berufsbedingt einen sensiblen Blick für die Weiterentwicklung und Zukunftschancen haben.

Mit Widerstand rechne ich in den Bereichen, in denen wenige MigrantInnen in der Belegschaft auf deutschnationales Bewusstsein und Verlustängste von Vorstadthausbesitzern treffen. Doch genau das ist die Herausforderung.

express: Welche Rolle kann die Gewerkschaft dabei spielen?

Peter Bremme: Die Gewerkschaft sollte für ein solches Vorgehen werben und sensibilisieren. Ich freue mich über Veranstaltungen, in denen Gehversuche in die Richtung, die die BV aufzeigt, gemeinsam mit anderen Betriebsräten, Vertrauensleuten und Aktiven reflektiert werden und Hindernisse gemeinsam angegangen werden. Ich freue mich, wenn Gewerkschaften mit ihren gut geschulten Betriebsräten und auch Hauptamtliche Basiswissen im Arbeitsrecht in Flüchtlingsunterkünften vermitteln und den gewerkschaftlichen Gedanken - Solidarität - praktisch werden lassen. Hier könnten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden über Betriebe, die beispielsweise unter Mindestlohn zahlen. Wenn dann auch noch Flüchtlinge in die Gewerkschaft einexpress treten, umso besser. Ich freue mich über eine gewerkschaftliche Vernetzung mit Flüchtlingsinitiativen, die sich auf gemeinsame Projekte verständigen.

express: Wie ist die Initiative in ver.di bzw. in anderen Gewerkschaften aufgenommen worden? Gibt es Resonanz aus anderen ver.di-Fachbereichen?

Peter Bremme: Ich habe bisher nur positive Resonanzen erhalten, von ver.di-Gliederungen über Teile der IG Metall bis hin zum DGB. Auf ihren Webseiten erscheint die BV und sie soll als gute Initiative in den Veranstaltungen vorgestellt werden. Lasst mich an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass wir diese BV nicht als der Weisheit letzter Schluss begreifen, sondern als work in progress. Ihr seid alle dazu aufgerufen, sie zu ergänzen und zu verbessern. Ich freue mich auf Eure Vorschläge!

express: Vielen Dank und viel Erfolg für die Initiative!


Die Musterbetriebsvereinbarung findet sich auf der Internetseite von ver.di Hamburg unter Themen/Nachrichten.

Erfahrungen im Betrieb und Feedback bitte an Peter Bremme:
peter.bremme@verdi.de

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express 11/2015 - Inhaltsverzeichnis der Printausgabe
Gewerkschaften Inland
  • »Muster-Integration«. Interview mit Peter Bremme zum Entwurf einer Betriebsvereinbarung zur Integration von Flüchtlingen
  • Peter Birke: »Monster, Opfer, Superprofis«. Zur Diskussion über den SuE-Streik
  • Gisela Notz: »Freiwilligendienste für alle?« Über's Ehrenamt zur Prekarisierung
Betriebsspiegel
  • Michael Clauss: »Das Beste oder nichts?«. »Gemeinschaftsunternehmen« - Neuer Spartrick bei Daimler
  • »Arbeit nach Bedarf?« Interview mit drei Aktivisten des Kasseler »Forum Assistenzkräfte«
Internationales
  • Peter Nowak: »Auf dem Weg zum transnationalen Streik?« Über eine Konferenz im polnischen Poznan
  • Transact: »Über das Recht zu bleiben und zu gehen«. Von Ougadougou über Mytilini nach Nickelsdorf und weiter
  • Rainer Thomann: »Griechenland und die enttäuschten Hoffnungen«. Ein politischer Reisebericht
  • StS: »Showdown bei Vio.Me?« Fabrikbesetzer wehren sich gegen Zwangsversteigerungen
  • Thorsten Schulten: »Chancen für einen Wiederaufbau?« Über das griechische Tarifvertragssystem nach dem dritten Memorandum
  • Roman Danyluk: »Post-Majdan-Blues«.Über die soziale Krise und ArbeiterInnenproteste in der Ukraine, Teil II
Rezension
  • Joel Schmidt: »Alle Spätis stehen still?« Über einen Sammelband zu neuen Streikstrategien von Peter Nowak

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Quelle:
express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 11/2015, 53. Jahrgang, Seite 1-3
Herausgeber: AFP e.V.
"Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der politischen Bildung" e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2016

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