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DIE ROTE HILFE/005: Zeitung der Roten Hilfe e.V. 4.2009


Die Rote Hilfe 4.2009
Zeitung der Roten Hilfe e.V.


INHALT

IN EIGENER SACHE
Editorial
Geld her! Dafür brauchen wir euer Geld - ausgewählte Unterstützungsfälle

SCHWERPUNKT: REPRESSION GEGEN ANTIFASCHISTEN/-INNEN
- Antifaschismus unerwünscht! Von Markus Bernhardt und Johann Heckel
- Brutale Repression in der bayerischen Provinz
- Die bayrische Reaktion Demo gegen den Coburger Convent
- OLG Thüringen: Nazis soll man Nazis nennen

REPRESSION
Repressionswelle gegen Berliner Linke
Der Staatsschutz in Wilhelmshaven - Ein Gedächtnisprotokoll
Eingeschränktes Wahlrecht für Gefangene - Von Thomas Meyer-Falk
Die Zukunft der Überwachung
Staatliche Repression - Kontinuitäten und Diskontinuitäten
"Hört auf zu heulen..." - Irrungen und Wirrungen der Solidaritätsarbeit.
Von Gruppe Solidarischer Diskussionsbedarf
Versuch einiger Entwirrungen in Sachen Solidaritätsarbeit
Isolation der § 129b-Gefangenen verschärft - Von Carsten Ondreka
Die Nächsten bitte: Neue § 129b-Anklagen gegen türkische Linke
Interview mit Ellen von der Prozessbeobachtungsgruppe
Hamburger Polizei verwehrt Anwälten/-innen gezielt den Zugang zu Gefangenen

GET CONNECTED
Vertrauen unter GenossInnen
Reclaim your data! Den Datensaugern auf die Pelle rücken!
Von Heiner Busch
Unsere Daten gehören uns! Von Ulla Jelpke

AZADI

INTERNATIONALES
Der Kampf geht weiter! Zur abgelehnten Begnadigung von Leonard Peltier
Obamas politischer Gefangener - Von Leonard Peltier
Macht euch bereit für die Notfallproteste!
250 Millionen Dollar für eine Hinrichtung
Englands Gesetzeshüter außerhalb des Gesetzes
"Anti-Terror-Gesetze" füllen griechische Gefängnisse mit Linken.
Von Heike Schrader
Gemeint sind wir alle! Von Valerie Smith
Hilfe für Flüchtlinge und Gefangene - Aus der Arbeit der Roten Hilfe Österreichs.
Von Nick Brauns

REZENSIONEN
- Der Hunger des Staates nach Feinden
- Kurt Wyss: Workfare

IMPRESSUM

LITERATURVERTRIEB


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Zum Titelbild

Der altgediente Staatsschützer erkennt es auf den ersten Blick: Die antifaschistischen "Herrschaften" auf unserem Titelbild sind böse. Warum? Weil sie schwarz gekleidet sind. So einfach ist das.

So einfach war das vielleicht früher mal. Heute gilt: Jeder Antifaschist ist gefährlich und zu bekämpfen. Die Unterscheidung von Polizei und Geheimdiensten zwischen autonomen, revolutionären Antifaschisten auf der einen und bürgerlichen, empörten Antifaschisten auf der anderen Seite fällt zusehends weg.

Daher gilt nun auch für den jungen Antifaschisten ganz rechts oben in der Ecke mit der roten Jacke: böse.

Antirepressionsdemo in Hamburg, 15.12.2007

Raute

EDITORIAL

Liebe Genossinnen und Genossen,

die Zeit vergeht, und die RHZ wird älter. Zumindest einige ihrer Leserinnen und Leser. In letzter Zeit haben wir mehrfach Zuschriften bekommen, in denen sich Mitglieder über die kleine und so nur noch schwer lesbare Schrift in der RHZ beklagt haben. Ein Problem, das wir nun behoben haben: Mit der vorliegenden Ausgabe haben wir die Schriftgröße um 0,5 Punkt erhöht. Wir hoffen, dass unsere Zeitung nun wieder für alle Genossinnen und Genossen so leicht wie gern zu lesen ist. Auf derart kleine Nuancen achten zumindest die Repressionsorgane nicht (mehr). Egal ob blockschwarz, clownsfarbig oder bürgerlichbunt - wer sich antifaschistisch engagiert, bekommt auf die Mütze. Warum das so ist, warum frühere Unterscheidungen zwischen bösen, weil revolutionären und guten, weil bürgerlichen Antifas nicht mehr gelten und warum der Staat Antifaschismus als Gefahr betrachtet, das und vieles andere lest Ihr in diesem Heft.

In der nächsten Ausgabe wollen wir uns die Anwälte der Roten Hilfe in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anschauen. Warum sind linke Anwältinnen und Anwälte so wichtig für uns, was bedeutet die Rote Hilfe e.V. für ihre Arbeit und überhaupt was ist eigentlich ein linker Anwalt? Dazu und zu allem anderen, was Repression betrifft, dürfen wir Euch wie immer um Beiträge bitten. Redaktionsschluss für die Ausgabe 1/10 ist am 15. Januar.

Bis dahin: Zieht Euch warm an, kommt gut durch den Winter und lasst Euch nicht kaltstellen.

Euer Redaktionskollektiv


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IN EIGENER SACHE

Zehn Jahre Rote Hilfe in Hannover - einen solchen Jahrestag übergeht man nicht einfach. Mit einem ausgesprochen umfangreichen politischen wie kulturellen Programm hat die Ortgruppe im Sommer dieses Jubiläum gefeiert. 40 Gruppen und Organisationen sowie eine eigens herausgebrachte Broschüre unterstützten und begleiteten die Festwochen. Doch neben Workshops, Filmen und Vorträgen zu historischen und aktuellen Themen galt es vor allem Eines nicht zu vergessen: das Feiern! Unser Bild zeigt "ewo2, das kleine Weltorchester, das mit seiner experimentellen elektronischen Verarbeitung von Arbeiterliedern für ein kulturelles Ereignis der besonderen Art sorgte.


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"Rechtshilfe ist auch für uns wichtig."

Robin Wood zur Roten Hilfe e.V.

In der letzten Ausgabe der RHZ hatten wir unter dem Schwerpunkt "Die Wahrnehmung der Roten Hilfe durch die Außenwelt" beschrieben, wie verschiedene politische und gesellschaftliche Gruppen die Rote Hilfe e.V. sehen. Dazu erreichte uns nun ein Nachtrag von Ute Bertrand, der Pressesprecherin der Umwelt- und Naturschutzorganisation Robin Wood. Wir geben euch diesen Brief hier leicht gekürzt zur Kenntnis.

"(...) Ich habe in der jüngsten RHZ-Ausgabe den Artikel "Zahlreiche Berührungspunkte" gelesen.

Darin wird erwähnt, dass die wenigen Antworten auf die Anfrage der Roten Hilfe, wie andere die Organisation sehen, auch "eine Art Stellungnahme" sei.

Ich möchte - wenn leider auch zu spät, sorry! - kurz erläutern, dass es bei uns keine Beschlüsse zum Verhältnis von Robin Wood zur Roten Hilfe gibt. Da auch Robin Wood-AktivistInnen nach Aktionen immer mal wieder staatliche Repression zu spüren bekommen, ist das Thema Rechtshilfe selbstverständlich auch für uns wichtig. Wir finden es zudem wichtig, dass dazu eine kritische Öffentlichkeit existiert.

Der Kenntnisstand unter unseren Mitgliedern über die Rote Hilfe ist sicher sehr unterschiedlich. Welche Kontakte es zwischen einzelnen Robin Wood-Mitgliedern und der Roten Hilfe gibt, ist der Eigeninitiative Einzelner überlassen. Da fehlt uns ein vereinsweiter Überblick."

Raute

IN EIGENER SACHE

Geld her!

Insgesamt wurden 30.415,09 Euro an Unterstützungsgeldern bewilligt.

Insgesamt wurden im Berichtszeitraum 30.415,09 Euro an
Unterstützungsgeldern gezahlt. Rote Hilfe hilft!

Auf den Letzten beiden Sitzungen des Bundesvorstands wurde über 94 Unterstützungsanträge entschieden. 56 davon wurden mit dem Regelsatz von 50 Prozent unterstützt, zwölf Anträge sogar mit 100 Prozent. Ebenfalls 12 Antragsteller_innen erhielten eine allgemeine Zusage. Sieben Fälle mussten wegen offener Nachfragen zurückgestellt werden, vier Anträge wurden abgelehnt. Kürzungen des Regelsatzes gab es zwei Mal.

Wie mensch einen Antrag stellen kann, ist auf unserer Homepage zu erfahren:
http://rote-hilfe.de/infos-hilfe/unterstuetzungsantrag/antrag-stellen

Bitte denkt immer daran, dass die Unterlagen vollständig sein müssen, damit das Verfahren nicht unnötig lange dauert!


Hausprojekt geschützt

Am 5. März 2009 zog eine Nazidemo an einem linken Hausprojekt in Chemnitz vorbei. Da das Haus in der Vergangenheit mehrfach von Nazis angegriffen wurde, schützen es die Bewohner_innen und deren Unterstützer_innen während die Demo vorbeizog. Die Antragstellerin soll sich dabei vermummt haben. Das Urteil in dem Verfahren steht noch aus, daher hat die Rote Hilfe e.V. eine allgemeine Zusage gegeben.


Genossin mit Biss

Auf einer Demo gegen Studiengebühren in Freiburg am 26. Januar 2009 biss eine Genossin einem Polizeibeamten angeblich mehrfach in die Finger, als dieser dem Fronttranspi zu nahe kam. Wegen ihrer Verteidigung des Transparentes und der anschließenden "Randale" im Streifenwagen sind ihr Anwalts- und Gerichtskosten neben der Geldstrafe entstanden, von denen die Rote Hilfe e.V. 50 Prozent übernimmt.

Die Schmerzensgeldforderung des Beamten in Höhe von 350 Euro zahlen wir nicht, da wir keine Kosten aus Zivilverfahren übernehmen und zudem kein Geld an Bullen zahlen.


Vergeblich vermummt

Als 200 Demonstrierende der revolutionären 1. Mai-Demo in Ulm eingekesselt wurden, vermummte sich der Antragsteller, damit ihn die Bullen, die eifrig ihre Kameras zückten, nicht erkannten. Zu blöd nur, dass er bei der Auflösung des Kessels festgenommen wurde und einen Strafbefehl erhielt. Mit Hilfe eines Anwalts konnte das Verfahren gegen eine Auflage von 150 Euro eingestellt werden. Die Rote Hilfe e.V. unterstützt den Antrag zwar mit 50 Prozent, ermahnt jedoch den Genossen, dass sein Vorgehen nicht sehr sinnvoll war.


Telefonüberwachung rechtmäßig?

Im Kontext der verschiedenen "mg"-Verfahren geriet auch ein Genosse in das Visier der Fahnder_innen, gegen den das Verfahren letztes Jahr sang- und klanglos eingestellt wurde. Aufgrund einer Hausarbeit über Karl Marx wurde er jahrelang überwacht. Um die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen in Frage zustellen, beauftragte er eine Anwältin. Die dadurch entstandenen Kosten in Höhe von 606,90 Euro trägt die Rote Hilfe e.V. zur Hälfte.


Der DVU den Strom abgestellt

Als die DVU in Potsdam eine Wahlkampfveranstaltung unter freiem Himmel abhielt, wollte ein einfallsreicher Antifa-Aktivist der Nazi-Partei den Strom abstellen. Er versuchte einen Stromaggregator wegzutragen, scheiterte aber an den aufgestellten Zäunen. Also entschloss er sich spontan dazu, das Gerät unbrauchbar zu machen. Die Aktion hatte war insofern erfolgreich, da die Veranstaltung damit abgebrochen wurde. Die Staatsanwaltschaft ermittelte jedoch wegen Diebstahls und Sachbeschädigung, das Verfahren wurde aber nach dem Jugendschutzgesetz gegen 50 Arbeitsstunden eingestellt. Die entstandenen Anwaltskosten in Höhe von 476 Euro übernimmt die Rote Hilfe e.V. nach Regelsatz zu 50 Prozent.


Mordvorwurf

Am 1. Mai 2009 wurde im Anschluss an die revolutionäre 1. Mai-Demo ein Schüler festgenommen und in U-Haft gesteckt. Ihm wird vorgeworfen, einen Molotowcocktail auf Polizeibeamte geworfen zu haben, der jedoch wenige Meter vor den Polizisten auf den Boden einschlug. Verletzt wurde dabei allerdings eine Passantin, die von der im Flug heraustropfenden brennenden Flüssigkeit getroffen wurde. Brisant an dem Fall ist der Versuch der Staatsanwaltschaft, aus dem Molotowcocktail-Wurf den Vorwurf "versuchter Mord" zu konstruieren. Aufgrund der Bedeutung, die eine Verurteilung für andere Fälle hätte, unterstützt die Rote Hilfe die Verteidigung durch die Zusage der Übernahme von 100 Prozent der Kosten für eine zweite Anwältin und der Kosten für notwendige Gutachten.


Gefangenenbefreiung

Am 13. September fanden in München Gegenaktivitäten gegen einen Naziaufmarsch statt. Der Genosse beobachtete, wie eine Zivilpolizistin eine junge Frau an den Haaren zu Boden zog und ihr Pfefferspray ins Gesicht sprühte. Als er sich näherte, stürmte eine USK-Einheit auf ihn zu und stieß ihn um. Auf der Wache wurde ihm dann erklärt, er hätte Polizeibeamte angegriffen. Er erhielt einen Strafbefehl wegen Gefangenenbefreiung und Widerstands, gegen den er Widerspruch einlegte. Im Prozess wurde das Verfahren schließlich eingestellt. Die Rote Hilfe unterstütze den Genossen mit der Übernahme des Regelsatzes von 50 Prozent auf die Rechtsanwaltskosten von 357,00 Euro.


"Freiheit für Faruk!"

Weil er im Zuschauerraum beim § 129b-Prozeß gegen Faruk E. "Freiheit für Faruk!" gerufen haben soll, erhielt der Antragsteller ein Ordnungsgeld in Höhe von 103,50 Euro. Die Rote Hilfe unterstützte den Antragsteller mit der Übernahme von 100 Prozent des Ordnungsgeldes.


Versammlungsleiter

Am 1. März fand ein Landesparteitag der faschistischen DVU statt. In Winsen/Luhe sollten dazu Teilnehmer mit dem Bus abgeholt werden. Am Sammelpunkt der Faschisten stellten sich mehrere Leute mit einem antifaschistischen Transparent auf die Straße. Auf die Frage eines Polizisten nach einem Versammlungsleiter meldete sich der Antragsteller. Hinterher erhielt er eine Vorladung wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Das Verfahren wurde schließlich nach Intervention seines Anwaltes eingestellt. Die Rote Hilfe übernahm in diesem Fall 289,79 Euro von den Anwaltskosten in Höhe von 579,57 Euro.


Französische Hakenkrallen

Im Zusammenhang mit dem in Frankreich geführten "Terrorverfahren" wegen Hakenkrallenanschlägen (das sogenannte "tarnac-Verfahren") lud die deutsche Staatsanwaltschaft auf ein Rechtshilfeersuchen der französischen Behörden eine Frau als Zeugin vor. Diese erschien begleitet von zwei Anwältinnen und verweigerte die Aussage. Der Richter gestand ein umfassendes Auskunftverweigerungsrecht zu, so dass kein Ordnungsgeld oder ähnliches verhängt wurde. Die Rote Hilfe e.V. unterstütze die Frau mit Übernahme von 50 Prozent der entstandenen Anwaltskosten in Höhe von 380,80 Euro.


Transparent zu Lang?

Weil er bei einer Soli-Demo für die Rigaerstr. 94 am 22. Mai 2008 in Berlin ein Transparent getragen haben soll, dass "entgegen den behördlichen Auflagen" länger als 1,50 Meter war, erhielt der Antragsteller einen Strafbefehl wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Das Verfahren wurde schließlich gegen Ableistung von 50 Sozialstunden eingestellt. Die Rote Hilfe übernahm hier 50 Prozent der Anwaltskosten von 356,23 Euro.


Generalprobe fürs Gelöbnis

Schon bei der Generalprobe für ein öffentliches Gelöbnis, das am 19. März 2009 in Berlin durchgeführt wurde, gab es antimilitaristische Proteste. Einer Berlinerin wurde vorgeworfen, dort ein Transparent mit der Aufschrift "Soldaten sind Kanonenfutter" entrollt zu haben. Das Amtsgericht verurteilte sie wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu einer Geldbuße von 100 Euro. Die Rote Hilfe half hier mit einer Unterstützung in Höhe von 176,40 Euro für Anwaltskosten und Strafe.


Übersetzungkosten

Im § 129b-Verfahren gegen Nurhan E. übernahm die Rote Hilfe Kosten in Höhe von 5000 Euro für notwendige Übersetzungsarbeiten der Verteidigung.


Überflüssig?

Am 22. März 2007 fand in Köln in der Personalserviceagentur Kötter eine Protestaktion der "Überflüssigen" gegen prekäre Beschäftigung statt. Unter anderem wurden an den Schaufenstern Plakate mit der Aufschrift "Ausbeuter 2007" aufgehängt. Nach der Aktion wurden drei Personen festgenommen und wegen Hausfriedensbruchs angeklagt. Zunächst wurden die Verfahren eingestellt, auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde die Einstellung vom Landgericht Köln jedoch wieder aufgehoben und die drei Angeklagten schließlich zu je 15 Tagesätzen verurteilt. Die Rote Hilfe unterstützte die Angeklagten mit der Übernahme von 50 Prozent der Anwaltskosten von 1247,24 Euro.


Protest gegen Verbot verboten!

Eine für den 13. Dezember 2008 geplante Demonstration gegen Repression wurde vom Bremer Stadtamt verboten. Gegen das Verbot demonstrierten in der Bremer Innenstadt spontan etwa 250 Menschen. Die Polizei kesselte die Demo ein und stellte die Personalien der Teilnehmer_innen fest. Die meisten Betroffenen erhielten Bußgeldbescheide wegen der Teilnahme an einer verbotenen Versammlung. Dagegen legte die Antragstellerin und auch mehrere andere Betroffene Widerspruch ein. Bisher endete keines der daraufhin angestrengten Verfahren mit einer Verurteilung. Auch in diesem Fall stellte das Gericht das Verfahren ein. Der Antragstellerin entstanden jedoch Anwaltskosten in Höhe von 448,63 Euro. Davon übernahm die Rote Hilfe die Hälfte.


Brennende Autos

Am 18. Mai 2009 wurde in Berlin-Friedrichshain in einem Supermarkt eine Frau verhaftet und in U-Haft genommen. Ihr wird vorgeworfen, kurz zuvor einen PKW in Brand gesetzt zu haben. Das Verfahren steht stark im Fokus der Presse und der Politik und auch die Staatsanwaltschaft macht deutlich, dass ihr sehr an einer Verurteilung gelegen ist. Die Rote Hilfe e.V. gab eine allgemeine Zusage für die Übernahme der Kosten für eine zweite Verteidigerin und für die Gutachterkosten.


Verurteilt in Italien

Am 26. Mai 2009 war eine Genossin im Anschluss an eine Kundgebung gegen ein Abschiebelager in Bologna mit italienischen Aktivisten unterwegs, als ihre Begleiter von Beamten der Sonderpolizei "DIGOS" (spezialisiert auf "Anti-Terrorismus" und Vorgehen gegen politische Aktivisten) aufgehalten kontrolliert und schließlich festgenommen. Nach wenigen Stunden wurde die Genossin einem Richter vorgeführt, der sie wegen Widerstands und Waffenbesitzes (sie soll CS-Gas und ein kleines Messer mit sich geführt haben) zu drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und sechsmonatigem Einreiseverbot verurteilt. Die Rote Hilfe unterstütze die Frau mit einem Zuschuss von 300 Euro zu den ihr entstandenen Anwaltskosten.


Achtung, Neonazis ...

Weil er am 4. April 2008 in Berlin Plakate mit den Fotos von Nazis und der Warnung: "Achtung Neonazis!" geklebt haben soll, erhielt der Beschuldigte eine Anklage, die ihm vorwirft "entgegen §§ 22, 23 des Kunsturhebergesetz Bildnisse ohne Einwilligung der Abgebildeten öffentlich zur Schau gestellt zu haben" und dabei auch eine Sachbeschädigung begangen zu haben. Vor Gericht wurde das Verfahren gegen Zahlung von 150 Euro schließlich eingestellt. Die Rote Hilfe unterstützte den Betroffenen mit 286,41 Euro für Anwaltskosten und Geldstrafe.


... und so solltet ihr euch nicht verhalten:

In einem Fall lehnte die Rote Hilfe eine Unterstützung ab. Der Antragsteller soll sich am 13. Dezember 2008 bei einer Antifa-Demo an einem Durchbruch durch eine Polizeikette beteiligt haben. Vorgeworfen wurden ihm unter anderem Widerstand, Körperverletzung und das Mitführen von Pfefferspray in seinem Rucksack. Vor Gericht gestand der Antragsteller die Vorwürfe der Anklage und beschrieb sein Verhalten als "nicht akzeptabel und nicht konstruktiv". Außerdem hatte er sich mit dem Rechtsanwalt des geschädigten Polizeibeamten in Verbindung gesetzt, dessen Schadenersatzansprüche grundsätzlich anerkannt und angekündigt, sich beim Polizisten zu entschuldigen. In einem solchen Geständnis, verbunden mit einer Reueerklärung, sieht der Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V. grundsätzlich keine politische Prozessführung im Sinne der Roten Hilfe.

Raute

SCHWERPUNKT

Antifaschismus unerwünscht!

Die zunehmende staatliche Repression gegen Antifaschisten stärkt einzig die Nazis

Markus Bernhardt und Johann Heckel

"Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen!" schrieb einst Max Horkheimer. Eine Maxime, die revolutionäre Antifaschisten von Beginn an vertreten haben, bürgerliche jedoch nur selten. Doch Stiefelfaschisten auf den Straßen entgegenzutreten und zugleich Schreibtischtäter und das System, das das Auftreten des Faschismus in welcher Form auch immer erst ermöglicht, zu akzeptieren, wenn nicht gar zu tragen - das war immer der Inbegriff bürgerlichen Antifaschismus, ein Widerspruch in sich.

Dass der Faschismus aus dem Kapitalismus resultiert, dass es echten Antifaschismus letztlich nur im Rahmen einer antikapitalistischen Theorie und Praxis geben kann - diese Einsicht setzt sich in Zeiten zunehmender sozialer, wirtschaftlicher und politischer Verwerfungen immer stärker durch. Immer weiter demaskiert sich das System selbst, immer weniger kommen kritische Menschen um die entscheidenden Fragen herum. Kapitalismuskritik ist nicht mehr nur das Feld "klassischer" revolutionärer Antifaschisten.

Bis hierher klingt das für linke Ohren erfreulich - doch ist es eher Wunschdenken, ein "So könnte es laufen". Allein - dass es so sein könnte schließt auch das repressive politische Establishment nicht mehr aus. Dass der Schritt vom aktivistischen "reinen" Antifaschismus zum Antikapitalismus mit dem Wegbrechen der einst sicher geglaubten bürgerlichen Existenz leichter zu gehen ist, das scheint den Trägern des Systems durchaus real.

Entsprechend kann es nur eines geben: Jeden potentiellen Antikapitalismus im Keime ersticken. Zunehmend wird jede noch so bürgerliche, noch so unkritische Anti-Nazi-Aktion als das betrachtet, was sie in der Tat ist, auch wenn es die Akteure oftmals nicht wahrhaben können oder wollen: ein Vorfeld antikapitalistischen Engagements. Dieser Gefahr muss der bürgerlich-repressive Staat ohne Wenn und Aber entgegentreten. Und so findet sich, wer vor wenigen Jahren noch mit staatlicher Duldung auf der "richtigen" Seite, der des empört-demokratischbürgerlichen Antinazismus stand und sich eifrig von bösen, autonomen Antifaschisten distanzierte, nun plötzlich als verfolgter potenzieller Systemfeind wieder.

Zugleich kann so der immer häufiger (wenn auch immer noch viel zu selten) in Frage gestellte Staat auf sein Gewaltmonopol pochen, kann vortäuschen, die Situation im Griff zu haben, allein gegen erklärte Feinde der so genannten FDGO vorzugehen - auch wenn dies faktisch nicht der Fall ist, sind diese "Feinde" doch Kinder des Systems. Die daraus resultierenden Folgen für Antifaschisten, aber auch die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt, sind fatal - wie sich am Beispiel der Ruhrgebietsmetropole Dortmund leicht belegen lässt. So spricht die Entwicklung der Neonaziszene in Dortmund für sich: Die Stadt gilt mittlerweile als die Hochburg militanter "Autonomer Nationalisten" in Nordrhein-Westfalen. Seit Jahren gelingt es den örtlichen braunen Kadern, immer mehr jugendliche Aktivisten um sich zu scharen. Die rechte Szene ist spontan mobilisierungsfähig und strotzt nur so vor Tatendrang und Aktionsfähigkeit, woran Polizei und Justiz einen gehörigen Anteil haben. So kommt es, von staatlichen Stellen nahezu ungestört, seit Jahren zu Morden, gewalttätigen Übergriffen und Anschlägen auf Nichtdeutsche und (vermeintliche) Antifaschisten.


Die Nazis ...

Die Bilanz neofaschistischer Gewalt allein der letzten Jahre spricht Bände. Um hier nur einige "Höhepunkte" zu nennen:

- Im Juni 2000 ermordete der Dortmunder Neonazi Michael Berger drei Polizeibeamte und tötete sich danach selbst. Berger war Mitglied der Republikaner sowie der DVU und aktenkundiger NPD-Sympathisant. Die Dortmunder Neonaziszene bekundete ihre Sympathie für die mörderische Tat damals auf ihre ganz eigene Art: "3:1 für Deutschland - Berger war ein Freund von uns", stand auf großräumig im Stadtgebiet verbreiteten Aufklebern. Noch heute hält sich hartnäckig das Gerücht, dass der Neofaschist als V-Mann im Dienste des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes stand. Eine diesbezügliche kleine Anfrage des Dortmunder CDU-Bundestagsabgeordneten Erich G. Fritz an die Bundesregierung wurde aus Geheimhaltungsgründen nicht beantwortet.

- Begleitet von massiver Stimmungsmache zweier Ratsmitglieder der rechtsextremen DVU verübten Neonazis 2003 einen Anschlag auf die damals in Dortmund gastierende Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht - Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944", woraufhin diese kurzzeitig geschlossen werden musste.

- Am 28. März 2005 tötete ein zum Tatzeitpunkt 17-jähriger Neonazi den Punk Thomas Schulz durch mehrere Messerstiche in der U-Bahnstation Kampstraße. Seine neofaschistischen Gesinnungsgenossen veröffentlichten kurze Zeit darauf eine Stellungnahme in der sie betonten, dass die "Machtfrage" somit für sie "befriedigend" beantwortet worden sei.

- Auch die Liste der in den letzten Jahren verübten gewalttätigen Angriffe auf Nichtdeutsche und vermeintliche Linke ist lang. Sowohl die Privatwohnungen engagierter Antifaschisten als auch Parteibüros von Linken und Bündnis 90/Die Grünen und alternative Kneipen waren bereits Ziele der Neonazis. In mehreren Fällen kam es durch gezielte Tritte, Schläge und den Einsatz von CS-Gas zu Verletzungen bei den Opfern der rechten Gewaltausbrüche sowie zu Sachschäden von insgesamt mehreren Tausend Euro aufgrund von klar zuzuordnenden Anschlägen. Hinzu kamen diverse Naziaufmärsche und -konzerte, die meist mehrere hundert Teilnehmer nach Dortmund lockten.

- Für bundesweites Aufsehen sorgte darüber hinaus der Angriff von etwa 400 Neofaschisten auf die Teilnehmer einer DGB-Demonstration am diesjährigen 1. Mai. Dabei gingen die teilweise vermummten Angreifer mit Steinen, Schlagwerkzeugen und Feuerwerkskörpern auf die Gewerkschafter los.


Die Nazigegner ...

Dortmund ist nicht gerade das, was als antifaschistische Hochburg zu bezeichnen wäre. Einzig das Bündnis "Dortmund gegen rechts" und die örtliche Gliederung der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten" (VVN-BdA) arbeiten seit Jahren, kontinuierlich von den politischen Entscheidungsträgern alleine gelassen, gegen den braunen Mob. Hinzu kommt mittlerweile die "Aktion 65 plus". Letztere wird von älteren Dortmunder Bürgern getragen, die den Faschismus noch als Kinder und Jugendliche erlebten. Von ernstzunehmenden organisierten autonomen Antifastrukturen kann indes keine Rede sein. Zwar existieren in der Stadt einige Splittergrüppchen unter dem Label "Antifa". Diese haben sich jedoch maßgeblich der Solidarität mit den USA und Israel verschrieben und attackieren im Zweifelsfall anstatt der Neonazis lieber die Friedensbewegung und ortsansässige Antirassisten.


Die Polizei ...

Die örtliche Polizeibehörde hat sich offenbar vorrangig der Behinderung des antifaschistischen Protestes verschrieben. Seit Jahren gehen Polizei und Justiz in mühevoller Kleinarbeit gegen die aufrechten Nazigegner der Stadt vor. Egal, ob jugendliche Antifaschisten, VVN-Vorsitzende, linke Mitglieder des Dortmunder Stadtrates, Funks oder Aktivisten des Bündnisses "Dortmund gegen rechts", sie alle fanden sich nach antifaschistischen Aktionen vor Gericht wieder. Selbst vor den betagten Mitgliedern der "Aktion 65 plus" machten die Beamten keinen Halt. Vielmehr bezichtigten sie eine der führenden Aktivistinnen der Gewaltbereitschaft und kündigten das Verbot von angemeldeten Mahnwachen der älteren Nazigegner an. Auch dem antifaschistischen Bündnis "Dortmund stellt sich quer!", welches maßgeblich aus migrantischen und antimilitaristischen Gruppen bestand und in diesem Jahr erstmalig antrat, den geplanten neofaschistischen Großaufmarsch anlässlich des so genannten "Nationalen Antikriegstags" Anfang September zu verhindern, wurde nahezu die komplette angemeldete Demonstrationsroute untersagt. Insgesamt 6000 Beamte waren schließlich am 5. September in der Stadt anwesend, um antifaschistische Proteste zu verhindern. Bereits anlässlich der ersten neofaschistischen Großaufmärsche im Jahr 2000 nahm die Dortmunder Polizei mehrere Hundert jugendliche Antifaschisten in Gewahrsam beziehungsweise fest. Diese repressive Linie verfolgt sie - wenn sie nicht auf den offensiven Widerstand der Betroffenen stößt - seitdem nahezu ungehemmt.


Das Ergebnis ...

Durch die sattsam bekannte Gleichsetzung von Linken und Neonazis, massive Polizeieinsätze gegen Antifaschisten, die Stimmungsmache mancher lokaler Medien und die politische Positionierung mancher so genannter Antifaschisten treibt in Dortmund eine neofaschistische Szene ihr Unwesen, die stärker und agiler nie war. Die Hauptverantwortung für diesen Zustand trägt jedoch klar die Dortmunder Polizei samt ihrem örtlichen Präsidenten Hans Schulze (SPD). Nur weil die Beamten unentwegt gegen Antifaschisten vorgehen und die Neonazis ungestört agieren lassen war es der braunen Szene vor Ort überhaupt möglich, sich zu reanimieren. Nach all den Morden, Verletzten und sonstigen Straftaten wäre überall nach § 129 gegen die Neonazis ermittelt worden - nur eben nicht in Dortmund.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Polizeirevier in Dortmund, September 2009

Raute

SCHWERPUNKT

Brutale Repression in der bayerischen Provinz

Philip, Linksjugend ['solid] Weiden-Neustadt-Tirschenreuth

Der 7. Februar 2009 war ein einschneidendes Datum für die BewohnerInnen des beschaulichen Städtchens Weiden in der Oberpfalz. Zum ersten Mal seit über sechzig Jahren sollten an diesem Tag wieder Nazis durch die Stadt marschieren. Angekündigt hatte sich das sogenannte "Freie Netz Süd", eine Nachfolgeorganisation der 2004 verbotenen Fränkischen Aktionsfront. Die Strategie der Stadt war, die Nazis laufen zu lassen: In der Altstadt war ein "Fest der Demokratie" mit Wurstbuden und allem Pipapo geplant, um die BürgerInnen von der braunen Marschroute fernzuhalten. Der Plan ging nicht auf. Die WeidenerInnen zeigten mehr Zivilcourage, als den Stadtoberen und der Polizei Lieb war und brachten den Nazimob bereits nach wenigen hundert Metern zum Stillstand. In einer relativ engen Straße blockierte eine vierstellige Anzahl von SchülerInnen, Omas, GewerkschaftlerInnen, Antifas und anderen den Fortgang des unschönen Geschehens. Hinzu kam eine mit der Situation völlig überforderte Polizei, die den Antifaschisten in Sachen Ortskenntnis hoffnungslos unterlegen war.

Zu diesem Zeitpunkt hätte ein Bürgermeister, der sich als Diener seiner BürgerInnen versteht, auf den polizeilichen Einsatzleiter dahingehend einwirken müssen, dass die Nazidemo (die sowieso nur aus 150 zumeist kindlichen "Anfängernazis" bestand) aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aufgelöst wird. Die Chancen hätten gut gestanden, zumal der stellvertretende Bürgermeister Jens Meyer (SPD) selbst Kriminalkommissar ist. Mehrere BürgerInnen versuchten ihn von einer Auflösung zu überzeugen. Er wirkte aber geschockt und apathisch und war nicht in der Lage zu kommunizieren.

Kurz darauf ließ Polizeichef Josef Wittmann aufräumen. Die Robocops machten keinen Unterschied zwischen Punk und Anzugträger, es wurde alles über den Haufen gerannt. Unter anderem der Vorsitzende des Kreisverbandes der Linkspartei wurde dabei gegen eine Mauer mehr geworfen als gedrückt und verletzte sich an der Schulter. Im weiteren Verlauf glich die Demo einem Katz- und Maus-Spiel; der Polizei gelang es gelegentlich, vereinzelte Eier- oder Wasserbombenwerfer dingfest zu machen, die aber alle nach wenigen Stunden wieder laufengelassen wurden.


Die bürgerlichen Parteien bleiben beim zahnlosen Widerstand lieber unter sich

Die Öffentlichkeit war nach diesem Erlebnis sensibilisiert, es kam zur Gründung des "Bunten Tisches", einer überparteilichen Arbeitsgemeinschaft gegen Rechtsextremismus. Um aber nicht wirklich aus dem 7. Februar lernen zu müssen, blieben die Stadtratsparteien (SPD, CSU, Grüne, FDP, Freie Wähler und eine CSU-Abspaltung) bei den ersten beiden Bündnistreffen unter sich. So wurde sichergestellt, daß Antifas und Linke nicht grundlegend an der gescheiterten Strategie rütteln konnten.

Am 1. Mai war es dann soweit, der nächste Naziaufmarsch stand an. Aufgrund der DGB- und Heimatring-Feierlichkeiten in der Altstadt diesmal allerdings nicht im Zentrum, sondern in einem etwas am Rande gelegenen Stadtteil - mit hohem migrantischem Bevölkerungsanteil. Auch diesmal war wieder ein "Fest der Demokratie" geplant im Anschluss an die DGB-Veranstaltung, bei welcher der Vertreter der DGB-Jugend die Gelegenheit hatte, es sich mit dem OB auf Dauer zu verscherzen, indem er in seiner Rede deutliche Kritik an dessen Vorgehensweise in Sachen Nazis übte und indirekt zu einer Blockade der Nazidemo aufrief. Es half nichts. Die Ausführungen wurden zwar eifrig beklatscht, diesmal blieben die Bürgerlichen aber "brav" und stellten sich den Faschisten nicht in den Weg. Die Folge war, daß Punks und Antifas die volle Breitseite der Repression zu spüren bekamen: Neben kleineren Schikanen wie dem Konfiszieren von Trillerpfeifen wurde unter anderem eine Gruppe von etwa 50 Gegendemonstranten eine Stunde lang auf dem Parkplatz eines Supermarktes eingekesselt und festgehalten - ohne erkennbaren Grund. Als die Nazis dann losmarschiert waren, wurde etwa 500 Meter weiter an der einzigen Stelle, an der das taktisch klug war, eine Sitzblockade gebildet. Beteiligt waren um die 50 Leute (im übrigen alte aus Weiden oder der näheren Umgebung - also keineswegs "zugereiste Chaoten", wie CSU und Lokalpresse verlauten ließen), größtenteils zwischen 14 und 30 Jahren.


Tränengas gegen Bewußtlose

Das übliche Prozedere nahm seinen Lauf. Nach der dritten Aufforderung der Staatsgewalt, sich zu erheben, wurde geräumt. 15-jährige Mädchen wurden an den Haaren hochgezogen und mit Faustschlägen traktiert. Andere Polizisten zogen die Varianten vor, an den Ohren oder der Nase hochzuziehen. Ohrringe wurden ausgerissen, Brillen zertrümmert. Besonders schlimm traf es einen 30-jährigen Heilerziehungspfleger (nennen wir ihn Karl): Nach etlichen Tritten auf Kopf und Oberkörper verlor er das Bewusstsein. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, hörte er einen Polizisten zu seinem Kollegen sagen: "Geben wir ihm Tränengas!" Der Kollege konnte ihn glücklicherweise davon abbringen. Anschließend kam der Polizeiarzt, der von seiner Assistentin ins Protokoll schreiben ließ, das Opfer sei Drogenkonsument. Kaum der Rede wert, daß es hierfür nicht den geringsten Anhaltspunkt gab. Unter dem Strich erlitt Karl eine Gehirnerschütterung, eine Thorax-Prellung, einen Riss an der Nasenwurzel und etliche Hämatome und Schürfwunden. Er musste drei Tage der Arbeit fern bleiben, um ein Blutgerinnsel im Gehirn auszuschließen. Dieser Vorfall markierte eine Trendwende in der öffentlichen Meinung, da es der Linksjugend ['solid] mit einer Mahnwache vor dem Polizeirevier und einer Flugblattaktion gelang, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Beim "Bunten Tisch" wird seitdem offen über Sitzblockaden diskutiert, es wurden Referenten eingeladen, die damit in anderen Städten zumindest Teilerfolge erringen konnten, wie zum Beispiel der Sprecher des Bürgerbündnisses Gräfenberg. Er erhielt seinerzeit einen Strafbefehl über 900 Euro, nach einem Einspruch wurde das Verfahren eingestellt. Soweit ist es in Weiden noch nicht, Polizei und Justiz kommen hier nur sehr langsam in Bewegung. Einige Wochen nach dem 1. Mai erhielt Karl eine polizeiliche Vorladung, um als Zeuge auszusagen. Nachdem er dieser freundlichen Einladung nicht nachkam, flatterte wieder einige Wochen später eine Vorladung zur Aussage als Beschuldigter ins Haus. Der Vorwurf: "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung u. a." Selbstredend schlug Karl auch diese Einladung aus. Bleibt abzuwarten, wie Polizei und Justiz weiter vorgehen werden.


SpongeBob ist ein Grund zur Festnahme

Die Repression äußert sich in Weiden inzwischen auch in weniger schwerwiegenden Fällen. Am 17. August planten Neonazis bundesweit Aufläufe an Bahnhöfen zu Ehren von Rudolf Hess. So auch angekündigt in Weiden. Im Internet findet sich dazu folgender Bericht einer Nazigegnerin: "(...) Nach fünfminütiger Ausweisprüfung im nebenstehenden Bus kommt der Polizist zurück: 'So, Herr und Frau XY, sie kehren jetzt wieder um (...). Sie haben einen Platzverweis.' 'Und mit welcher Begründung geben sie uns diesen Platzverweis? 'Die Begründung ist, dass sie einen Platzverweis haben.' Okay, das war einleuchtend, wir zogen ohne Diskussion von dannen, um uns das Schauspiel von der gegenüberliegenden Straßenseite zu Gemüte zu ziehen. (...) Als die angekündigte Ankunftszeit der Nazis verstrichen, kein einziger von ihnen zu sehen gewesen war und sich unsere Gruppe von ungefähr fünfzehn bis zwanzig Menschen wahrscheinlich in der nächsten Viertelstunde aufgelöst hätte, formierte sich die Polizei. Die drei Vierergruppen, die synchron auf uns zu marschierten, kesselten uns ein und forderten nochmals sämtliche Ausweise. Ein Kollege wurde grundlos in Gewahrsam genommen."

Hinzuzufügen ist, daß der mitgenommene Kollege ein Megaphon dabeihatte und dieses zur Verlautbarung eines SpongeBob-Hörspiels nutzte. Den anwesenden Antifas gefiels, der Polizei scheinbar weniger. Der SpongeBob-Fan gehört glücklicherweise zu der Sorte Menschen, die sich von so etwas nicht einschüchtern lassen, er wurde nach einigen Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt. Ein Nachspiel hatte das Ganze bis jetzt noch nicht, es ist allerdings nach Insiderinformationen noch mit Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu rechnen.


Solidarität ist gefragt

Was mensch erreichen kann, wenn er/sie zusammensteht, zeigte der 3. Oktober in Regensburg. Auch dort wollten Nazis marschieren, die Stadt versteckte sich hinter dem Versammlungsrecht und versuchte gar nicht erst, den Spuk zu verbieten. Rund 7000 OberpfälzerInnen zeigten aber dann, wer in der Stadt die Hosen an hat und erzwangen durch Blockaden ein vorzeitiges Ende der Demo. Dass an diesem Tag alle gesellschaftlichen Gruppierungen bei den Protesten vertreten waren, hatte auch noch einen zweiten positiven Effekt: Es wurden - trotz der Größe der Veranstaltung - weniger Gegendemonstranten verhaftet als in Weiden. Bleibt zu hoffen, daß die Diskussion sich in Weiden weiterhin in die richtige Richtung entwickelt und beim nächsten braunen Umzug alle WeidenerInnen sich in den Weg stellen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Bewusstlos getreten, mit Tränengas bedroht, als "Drogenkonsument" diffamiert: Karl ist nur eines der Opfer des polizeilichen Vorgehens gegen Antifaschisten.

Raute

SCHWERPUNKT

Die bayrische Reaktion

AKZC (Teil des Aktionsbündnisses gegen den Coburger Convent)

Was Repression gegen freiheitliche Politik angeht nimmt Bayern unter den Bundesländern immer noch eine herausragende Rolle ein. Im Folgenden wollen wir am Beispiel der Stadt Coburg zeigen, wie die Kriminalisierung des bayerischen Antifaschismus funktioniert und wo wir die Gründe der massiven Repression verorten.

Am 30. Mai 2009 fand anlässlich des Pfingstkongresses des Coburger Convents im nordbayrischen Coburg eine überregionale Demonstration gegen das deutsche Korporationswesen statt. Da bereits im Vorfeld die wohl größte lokale linksradikale Veranstaltung seit Jahren abzusehen war, konnte auch damit gerechnet werden, dass die örtlichen staatstragenden Organe sich zu entsprechenden Handlungen genötigt sehen würden.

Unerwartet sanft fiel noch die erste Konfrontation Wochen im Voraus aus: Das Ordnungsamt forderte eine Anmeldung der Demonstration und drohte bei Nichteinhalten der gesetzlichen Bestimmungen mit Bußgeld. Dass dies nur der nötige Papierkram für das Anlaufen der Repressionsmaschine war wurde spätestens klar, als den AnmelderInnen beim "Kooperationsgespräch" neben dem Ordnungsamt auch noch die örtliche Polizeispitze und der Staatsschutz gegenüber saßen und sich im Spielchen "Guter Bulle - Böser Bulle" übten. Es wurde gezielt Druck aufgebaut indem gedroht wurde, die AnmelderInnen für schon zu diesem Zeitpunkt herbeigeredete Eskalationen zur Verantwortung zu ziehen.

Die entsprechend starke und kampagnenhafte mediale Vorfeldarbeit wurde durch das Zusammenwirken der Polizei mit der Lokalpresse geleistet. Der angekündigte Bus aus Berlin wurde in der "Neuen Presse" als Vorlage für Vergleiche mit den 1.Mai-Krawallen und dem Nato-Gipfel herangezogen. Dies wurde von Polizei und Stadt natürlich gerne aufgegriffen, in der Gefahrenprognose manifestiert und als Pressemitteilung wiedergegeben. Die Stadt sei "hoch alarmiert" (Michael Selzer, Pressesprecher der Stadt), man erwarte "Problemklientel" (Joachim Mittelstädt, stellvertretender Leiter der Polizeidirektion Coburg).

Mit entsprechenden Verweisen versehen ging dann auch wenige Tage vor der Demonstration der so genannte Auflagenbescheid bei den OrganisatorInnen ein. Eigentlich handelte es sich um eine Zwangsalternative zum ursprünglichen Konzept: Die Route wurde fast vollständig verboten, Transparente zur Seite hin sowie Musik ebenso; der Anmelderin wurde außerdem die Verantwortung für jedeN DemonstrationsteilnehmerIn und für die Abfallbeseitigung auf der Strecke übertragen. Unter Umständen hätte dies ihren finanziellen Ruin bedeutet. Aufgrund des Stellenwertes, den diese Demonstration für die Bewegung in Oberfranken einnehmen sollte, beschlossen die OrganisatorInnen, den Rechtsweg gegen dieses einem Verbot gleichkommende Diktat einzulegen. Am Vortag der Demonstration erging vom Verwaltungsgericht Bayreuth der Beschluss, die gravierendsten Auflagen für nichtig zu erklären. Was blieb, war das Verbot der Route durch die Innenstadt.

Wir finden es zwar bedauerlich und generell nicht gut, derartige "Rechts"-Wege einschlägen zu müssen, jedoch hat es die Situation vor Ort nicht anders zugelassen. Beim immer noch laufenden Verfahren bezüglich der Auflagen geht es darum, eine rechte und überaus arrogante Riege bestehend aus Polizei, Justiz und politischer Führung in Ämtern und Medien zumindest in die Schranken der geltenden Gesetze zu verweisen. Was darüber hinausgeht - und das muss klar bleiben kann nur auf der Straße passieren.

Doch warum der ganze Wirbel um eine antifaschistische Demonstration? Zunächst einmal ist es wissenswert, dass Coburg auf eine lange rechte und faschistische Geschichte zurückblickt. Schon seit weit mehr als hundert Jahren ist Coburg Ort des reaktionären Studentenverbindungstums. Die Vorläuferorganisationen des Coburger Convents tagen hier seit 1872 - mit dem steten Ziel auf die Fahnen geschrieben, Großdeutschland zu "einen" und über alles zu heben. Sie waren maßgeblich an den Kriegshetzen und dem Antikommunismus des 19. und 20. Jahrhunderts beteiligt. in der Weimarer Republik bildeten viele Studentenverbindungen Freikorps und verübten unter anderem beim Kapp-Putsch Gräueltaten gegen Arbeiter, mit denen sich heute noch gebrüstet wird.

Nicht ganz gesondert davon zu betrachten ist die Tatsache, dass Hitler in Coburg den Grundstein für die Akzeptanz der NSDAP im deutschen Bürgertum legte. 1922 traten - nach einem Marsch der SA durch die Innenstadt(!) und deren Sieg über die dagegen demonstrierenden GenossInnen - viele Coburger Bürger in die NSDAP ein und wählten 1929 als erste Stadt den Faschismus. Die Ziele der Nazis und des reaktionären Studententums waren so unterschiedlich nie: Es ging um den Sieg der bürgerlichen Gesellschaft über das revolutionäre Proletariat. Die Differenzen waren nie so groß, dass sich die Herren Akademiker zu fein gewesen wären, die Elite des faschistischen Staates zu stellen und zu reproduzieren.

Nach der Befreiung durch die Alliierten - und hier kommen wir der Sache langsam näher - gründete sich der Coburger Convent trotz des bestehenden Verbotes von Studentenverbindungen und ihren Alt-Herren-Verbänden neu. Die Seilschaften, die die ganze herrschende Klasse durchziehen, bewiesen ihre Reißfestigkeit: Offenbar gab es in Politik und Wirtschaft einen derartigen Rückhalt, dass nicht einmal das Siegerrecht durchgesetzt werden konnte. Dass diese Struktur, die zwei verlorene Kriege überlebte, sich nicht von heute auf morgen in Luft auflöst, dürfte klar sein.

Der heutige Coburger Oberbürgermeister Norbert Kastner (SPD!) ist selbst Mitglied einer rechten Schülerverbindung, der MdB der letzten Legislaturperiode Carl-Christian Dressel (auch SPD) ebenso. Ersterer empfängt - selbst farbentragend - den Coburger Convent zum jährlichen Pfingstkongress in seinem Rathaus und stellt diverse öffentliche Gebäude und Plätze zur freien Verfügung. Letzterer lief auch dieses Jahr wieder beim deutsch-nationalen Fackelmarsch durch die Innenstadt vorne mit. Bei Richtern, Staatsanwälten und Polizei ist es zwar schwer, direkte Verbindungen zu belegen; dennoch herrscht hier - wie in weiten Teilen Bayerns - der rechte Konsens. Insbesondere der Führungsriege der Polizei sei aufgrund vieler Erfahrungen unterstellt, dass sie einen Linken am liebsten blutend am Boden liegen sieht.

So verlief dann auch die antifaschistische Demonstration alles andere als unblutig: Nach einem relativ ruhigen Verlauf merkte man den eingesetzten Beamten des Unterterstützungskommandos der Bereitschaftspolizei an, dass ihre Aufregung mit zunehmender Nähe zum Abschlussveranstaltungsort stieg. Dort erfolgte planmäßig vor den Augen zahlreicher jubelnder Verbindungsstudenten der Angriff in die Demonstration. Es kamen Pfefferspray, Faust und Schlagstock zum Einsatz. Die entsprechende Antwort unserer Seite war obligatorisch.

Die Bilanz in der Presse fiel so aus, wie es sich die rechte Coburger Elite wünschte: Der legitime und nötige Widerstand gegen akademische reaktionäre Strukturen hätte keine Basis, Linke seien nur auf Krawall aus und die Polizei hätte härter durchgreifen müssen. Uns wurde ein Paradestück anti-antifaschistischer Politik und Aktion vorgeführt. Doch auch wir können eine positive Bilanz ziehen: Die mediale Resonanz verschaffte uns ordentlich Gehör; die Tatsache, dass wieder viele GenossInnen Interesse an diesem traditionsreichen und oft unterschätzten Stück linksradikalen Kampfes bewiesen haben, ist ermutigend.

Viel Kraft für unsere Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie für das juristischen Geplänkel und die Bereitschaft, zu drastischen Mitteln zu greifen, wenn es an unsere Freiheit geht, haben wir aus der Roten Hilfe geschöpft. Es gibt einem einfach ein gutes Stück Sicherheit, zu wissen, dass eine Organisation - und dahinter natürlich eine Bewegung - existiert, die solidarisch ist - ohne wenn und aber. Und das ist für den kämpfenden Menschen einfach nicht zu überschätzen.


→ http://coburgerconvent.blogsport.de
→ Kontakt über coburgerconvent@gmx.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Deutsche Elite beim Coburger Convent 2009
- Eindrücke von der Demonstration gegen das Burschentreffen.

Raute

SCHWERPUNKT

OLG Thüringen: Nazis soll man Nazis nennen

Nazis soll man Nazis nennen - oder zumindest: Man darf es. Selbst dann, wenn es sich "nur" um einen "Sympathisanten der rechten Szene" handelt. Das hat das Oberlandesgericht Thüringen in einem Urteil vom 27. August (Az.: 1 U 635/08) entschieden und damit ein entsprechendes Urteil des Landgerichts Gera vom Juni 2008 bestätigt.

Hintergrund der Geschichte: Bei einer Diskussionsrunde im Offenen Kanal Gera war der Chef einer Sicherheitsfirma als Nazi bezeichnet worden. Dieser nun auch gerichtlich bestätigte Nazi sah sich dadurch schwer verleumdet und seinen Ruf geschädigt. Satte 28.000 Euro Entschädigung wollte er dafür von dem Diskussionsteilnehmer haben.

Eine Entschädigung wiesen die Richter nun erneut zurück. Denn ihrer Ansicht nach hatte der Angeklagte die Bezeichnung "Nazi" als subjektives Urteil in der Diskussion genutzt. Und das sei nun mal durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Zumal der Titel bei dem Kläger offensichtlich zumindest subjektiv zuträfe: Der Kläger zähle "bekanntermaßen zu den Sympathisanten der rechten Szene". Der Begriff "Nazi" lasse jedoch verschiedene Verwendungsweisen zu, die "von einer streng historischen Terminologie bis zum substanzlosen Schimpfwort" reichen, wie es in der Urteilsbegründung heißt. Im konkreten Fall nun sei das Wort "Nazi" als "schlagwortartige Verkürzung" benutzt worden und damit nicht unzulässig, denn der Kläger sei nun einmal ein Rechter. Also muss er sich auch "Nazi" nennen lassen. Wir danken dem Oberlandesgericht Thüringen für diese Klarstellung.

Raute

SCHWERPUNKT / REPRESSION

Repressionswelle gegen Berliner Linke

Medien fordern härteres Vorgehen gegen Linke Aktivisten.

Von Markus Bernhardt

Verstärkt kommt es derzeit in Berlin zu staatlicher Repression gegen die politische Linke. So wurde Inge Viett, ehemalige Aktivistin der "Bewegung 2. Juni" am 22. Oktober vom Berliner Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen à 15 Euro wegen angeblichen "Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte" verurteilt. Bezüglich einer weiteren Widerstandshandlung und versuchter Gefangenenbefreiung wurde die engagierte Kriegsgegnerin hingegen freigesprochen.

Die Staatsanwaltschaft hatte Viett ursprünglich gleich zwei Widerstandshandlungen sowie versuchte Gefangenenbefreiung im Rahmen der Proteste gegen ein Gelöbnis der Bundeswehr am 20. Juli 2008 in Berlin vorgeworfen. Viett soll dabei angeblich versucht haben, einen vom Führer der 24. Berliner Einsatzhundertschaft brutal niedergeschlagenen Demonstranten vor dem Zugriff weiterer Beamter beschützt zu haben. Dies wertete die Polizei als versuchte Gefangenenbefreiung. Zudem soll sich die Bundeswehrgegnerin gegen ihre eigene Festnahme gesträubt haben.

Deutlich wurde im Rahmen des Verfahrens, wie brutal manche Polizeibeamte mit Demonstranten umzugehen gedenken. So äußerte der Zugführer der 24. Berliner Hundertschaft, bei angeblichen Widerstandsaktionen "mit aller Entschiedenheit und Härte" loszuprügeln. Nichts anderes hatte er auch am 20. Juli praktiziert. So wird ihm mittlerweile vorgeworfen, den jungen Demonstranten, den er noch vor seiner späteren Festnahme mit einem gezielten Faustschlag zu Boden geboxt hatte, später noch einmal brutal ins Gesicht geschlagen zu haben. Dies, obwohl der junge Mann zu diesem Zeitpunkt bereits festgenommen war und von zwei Beamten gehalten wurde.

Der Prozess gegen Viett war indes geprägt von widersprüchlichen Aussagen der als Zeugen geladenen Polizeibeamten. Hinzu kam eine breit angelegte Medienhetze gegen die engagierte Linke. Vor allem die Boulevardblätter aus dem Hause Springer taten sich wie gewohnt hervor. Die Bild-Zeitung, die vor einigen Monaten einen Artikel über Viett mit der Schlagzeile "Wer stopft der Ex-Terroristin das Schandmaul?" aufmachte, bezeichnete das Urteil gegen die Kriegsgegnerin als "Skandalurteil".

Bereits seit Monaten kommt es seitens der Berliner Medien zu massiven Attacken gegen all diejenigen, die in den Redaktionsstuben von Tagesspiegel, Morgenpost und anderen selbsternannten bundesdeutschen Leitmedien für links gehalten werden: Seien es Autonome, ehemalige Funktionsträger der DDR, Aktivisten von Stadtguerillagruppen oder Kommunisten.

Erst Anfang Oktober berichteten die Boulevardmedien über einen angeblichen Mordaufruf gegen den Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel. Dieser vertritt aktuell die Anklage gegen die beiden Berliner Jugendlichen Yunus K. und Rigo B., denen "versuchter Mord" vorgeworfen wird, weil sie am Abend des diesjährigen 1. Mai Molotowcocktails auf die Polizei geworfen haben sollen. Zwar findet sich nirgendwo ein derartiger Aufruf, trotzdem versuchen die Medien über die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, Einfluss auf den Prozess zu nehmen. Vieles deutet mittlerweile darauf hin, dass es der Staatsanwaltschaft und den als Zeugen auftretenden Polizisten auch in diesem Fall einzig darum gehen könnte, der Öffentlichkeit anstelle der tatsächlichen Täter überhaupt jemanden präsentieren zu können. Schließlich wurden diverse die beiden Jugendlichen entlastende Indizien bisher weder von der Staatsanwaltschaft noch der Polizei berücksichtigt. Die Hasskampagnen der Medien scheinen ihre Wirkung nicht zu verfehlen.

Bereits Mitte Oktober waren zwei andere Jugendliche wegen angeblicher Molotowcocktailwürfe zu Haftstrafen von jeweils dreieinhalb Jahren verurteilt worden. Ebenfalls Mitte Oktober verurteilte Richter Josef Hoch, der früher bereits das Verfahren gegen Egon Krenz wegen eines angeblich vorhandenen Schießbefehls an der Mauer führte, die Berliner Kriegsgegner Axel, Oliver und Florian als vermeintliche Mitglieder der "militanten gruppe" (mg) zu dreieinhalb beziehungsweise drei Jahren Haft ohne Bewährung. Die drei Antimilitaristen waren am 31. Juli vergangenen Jahres festgenommen worden, nachdem sie versucht haben sollen, Bundeswehrfahrzeuge in Brand zu setzen. Ohne Indizien für die Tatbeteiligungen an Brandanschlägen der "militanten gruppe" vorzulegen, hatte die Bundesanwaltschaft Anklage nach § 129 erhoben.

"Trotz der aufgebauten Drohkulisse eines Sondergerichtes hat antimilitaristischer Widerstand in Deutschland während dieses Prozesses mehr Präsenz bekommen. In den vergangenen Jahren hat der Widerstand gegen Militäreinsätze und die zivil-militärische Zusammenarbeit zugenommen. Der Protest gegen den Krieg wird wieder deutlich entschlossener und geschlossener geführt, ohne dass friedliche Proteste und militanter Widerstand gegeneinander ausgespielt werden konnten. Das haben wir auch an der Solidarität gemerkt, die aus ganz unterschiedlichen politischen Spektren kam", bilanzierte das Einstellungsbündnis am Ende des Prozesses.

Indes ist auch zukünftig zu erwarten, dass es zu verstärkten Medienkampagnen und staatlicher Repression gegen die politische Linke Berlins kommen wird. Grund genug, sich gegen die Attacken zu rüsten.

Raute

REPRESSION

Der Staatsschutz in Wilhelmshaven - Ein Gedächtnisprotokoll

Von einem Mitglied des Autonomen Kollektivs Heppens

Mitte September wurde im niedersächsischen Wilhelmshaven ein Genosse vom Staatsschutz angequatscht. Als Begründung musste ein Eintrag auf seiner Internetseite herhalten, in dem er auf den Antikapitalistischen Aktionstag am 17. September aufmerksam gemacht hatte. Weil es recht anschaulich die Vorgehensweise des Staatsschutzes zeigt, drucken wir hier das Gedächtnisprotokoll des betroffenen Genossen ab.

Am 15. September klingelte es um circa zehn Uhr morgens unten an der Haustür des Mehrfamilienhauses, in dem ich wohne. Ich machte jedoch nicht auf, weil ich noch halb am Schlafen war und keine Lust hatte aufzustehen. Ein paar Minuten nach dem Klingeln klopfte es laut an der Wohnungstür (der Staatsschutz hatte sich durch Klingeln bei Nachbarn Zutritt zum Haus verschafft).

Ich hatte aber immer noch nicht den Drang, die Tür zu öffnen. Als ich die Tür im Laufe des Tages mal öffnete, weil ich einkaufen wollte, sah ich, dass ein Zettel an der Tür hing, worauf zu lesen war:

"Herr ..., leider konnte ich sie nicht persönlich sprechen. Bitte rufen sie mich unter der angegebenen Telefonnummer an. Es ist dringend!"

Ein Herr Lewald hat diesen Zettel unterschrieben. Ein Stempel der Polizeiinspektion war auch drauf. Ich rief dort an, weil ich dachte, es wäre etwas in der Familie oder sonst was passiert.


Staatsschutz, Frau Wagsteiner: Ja bitte, was kann ich für Sie tun?

Ich: Guten Tag, xy ist mein Name, ich sollte Herrn Lewald anrufen!?

Ja, einen Moment! (Herr xy ist dran!) (verbindet)

Staatsschutz, Herr Lewald: Hallo Herr xy! Ich freue mich sehr, dass sie anrufen!

Ja, ich wollte wissen, was denn so dringend ist?

Also ich bin Herr Lewald vom Staatsschutz.

STAATSSCHUTZ!?!

Ja, vom Staatsschutz in der Polizeiinspektion xy. Und wir sind nicht ihr Feind!

Nicht mein Feind?

Nein, sind wir nicht, falls sie das denken sollten, will ich das eben klarstellen!

Worum geht es jetzt nun?

Es geht um den Antikapitalistischen Aktionstag am 17. September. Was genau soll da denn passieren?

Kann ich ihnen nicht sagen.

Aber sie rufen doch auf ihrer Seite zum Aktionstag auf.

Ich rufe nicht dazu auf, sondern mache auf den Aufruf aufmerksam.

Und was soll da passieren?

Was an einem Aktionstag hält passiert, ich weiß es nicht.

Aber wenn Sie dazu aufrufen!

Ich habe nicht dazu aufgerufen!

(Zwischendurch versuchte er, mich mit einer politischen Diskussion über Demokratie und so zu ködern.)

Aber wenn da was passiert, dann muss ich gegen SIE ermitteln! Wollen sie das?

Ja? Müssen sie das?

Wenn da was passiert, ja.

Dann versuchen sie das mal!

Aber Herr xy, wollen wir nicht darüber reden? Wir können uns ja mal treffen.

Nein, können wir nicht!

Sind sie zu Hause?

NEIN!

Dann legte ich auf. Nachher stellte sich heraus, dass Herr Lewald auch Nachbarn zu mir befragt hat.


*


Kurzinfo der Roten Hilfe

zum Thema Aquatschversuche des Verfassungsschutzes

Was ist der Verfassungsschutz?
Die Aufgabe des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und der sechzehn Landesämter für Verfassungsschutz (LfV) ist es, möglichst viele Informationen über echte oder vermeintliche "Verfassungsfeinde" und "Extremisten" zu sammeln. Während diese Behörden keinerlei polizeiliche Befugnisse haben, steht ihnen jedoch ein breites Spektrum an Überwachungs- und Ausforschungsmöglichkeiten zur Verfügung. Sie arbeiten auch mit der politischen Polizei und Justiz zusammen. Sie liefern Informationen und basteln sich Material für die staatliche Repression zusammen. Als einfache und kostengünstige Möglichkeit, linke Zusammenhänge auszuforschen, nutzt der Verfassungsschutz Spitzel und InformantInnen in allen möglichen politischen Zusammenhängen und deren Umfeld.

Was ist ein Anquatschversuch?
Am Anfang jedes Rekrutierungsversuches steht die Kontaktaufnahme. Meist arbeiten Verfassungsschutzbeamte zu zweit, nicht selten Mann und Frau. Sie lauern potentiellen Opfern an deren Wohnungstür auf, aber auch manchmal auf dem Weg zum Arbeitsplatz, in der Kneipe, beim Sport etc. Manchmal rufen sie auch an und wollen ein Treffen vereinbaren. Sie stellen sich oft als "Mitarbeiter einer Bundesbehörde" vor, können sich aber auch als was ganz anderes ausgeben, z.B. als freier Mitarbeiter einer Arbeitsagentur oder Journalisten.

Wer wird angesprochen?
Vorweg: jede oder jeder kann von interessierten Behörden (Verfassungsschutz, Landeskriminalamt oder Staatsschutz der Polizei) angesprochen werden. Gerne werden jüngere Leute, die einem politischen Umfeld zuzurechnen sind, angequatscht. Es ist aber durchaus schon vorgekommen, dass langjährige PolitaktivistInnen angequatscht wurden.

Vor einer Kontaktaufnahme informiert sich der Verfassungsschutz in der Regel sehr gut über seine Opfer. Es wird versucht, "Schwachstellen" ausfindig zu machen. So wird einer Erwerbslosen, die Schulden hat, vielleicht eine Arbeitsstelle in Aussicht gestellt. Wer auf Bestechung nicht reagiert wird dann vielleicht unter Druck gesetzt. Zum Beispiel damit, den Arbeitgeber über die "Hobbys" zu informieren. Beziehungs-, Geld-, Drogenprobleme oder ähnliches werden als Aufhänger für Werbungsversuche genommen. Manchmal drohen sie auch, einen in der nächsten Zeit besser ins Visier zu nehmen oder Eltern und den Bekanntenkreis zu informieren. Als Gegenleistung für ihre "Hilfe" fordern sie Informationen über linke Strukturen.

Auch die Verminderung einer Haftstrafe wurde schon angeboten, obwohl der Verfassungsschutz darauf überhaupt keinen Einfluss hat. Wer von den Schnüfflern angesprochen wird, hat nichts falsch gemacht! Das ist also erstmal nichts Tragisches und nichts, wofür man sich schämen müsste. Betroffene sind wahrscheinlich ohne eigenes Verschulden in das Visier der Verfassungsschutzbehörden geraten. Auch wenn VSler im Auftreten anders agieren als die Bullen, wollen sie doch nur Informationen gegen dich und deine Zusammenhänge sammeln. Sie wollen dich benutzen und aushorchen!


Grundsätzlich:

1. Als von staatlicher Repression Betroffene trifft euch keine Schuld, ihr habt nichts "falsch" gemacht; ihr seid nicht mit den "falschen" Leuten zusammen gekommen, ihr seid aus den unterschiedlichsten Gründen vom staatlichen Repressionsapparat "ausgewählt" worden.

2. BeamtInnen des Verfassungsschutzes haben keinerlei Befugnisse, eine Aussage oder Mitarbeit zu verlangen, sie haben keine Macht, juristischen oder sonstigen Druck auf dich auszuüben (auch wenn sie in Extremfällen damit drohen). Deshalb verweist sie am Besten gleich des Hauses oder lasst sie einfach stehen bzw. legt einfach den Hörer auf.

3. Erzählt von dem "Anquatschversuch" am Besten sofort der Roten Hilfe oder dem EA und erklärt euch einverstanden, diesen Vorgang zu veröffentlichen, denn nichts ist dem Verfassungsschutz unliebsamer als eine Öffentlichkeit, die seine Arbeit kritisch wahrnimmt und ans Tageslicht befördert. Je mehr Leute davon erfahren, desto besser, denn der Verfassungsschutz oder andere Geheimdienste wollen möglichst unerkannt im Dunkeln agieren: weil sonst sind's ja keine Geheimdienste mehr!

4. Bei VS-BeamtInnen handelt es sich immer um geschultes, professionell ausgebildetes Personal, das euch in jeder Hinsicht immer um mehrere Schritte voraus ist. Zu denken, ihnen bei einem Gespräch etwas "vorspielen", sie auf falsche Fährten locken zu können, ist fatal.

5. Wenn Verfassungsschützer oder andere "Geheime" euch anquatschen: Legt den Hörer einfach auf, schickt sie weg, werft sie raus, haut ihnen die Tür vor der Nase zu und zur Not - geht selber weg. Macht anwesende Freunde und Freundinnen, Bekannte und Verwandte aufmerksam.

6. Lasst euch nicht einschüchtern. Haltet eure Augen und Ohren auf, aber den Mund in gewissen Momenten geschlossen. Neben der Abschöpfung von Informationen geht es auch darum, Unruhe zu stiften und zu verunsichern. Macht denen einen Strich durch die Rechnung.

→ Keine Unterhaltungen mit dem Verfassungsschutz!

→ Macht jeden Anquatschversuch öffentlich!

→ Für die Abschaffung der Geheimdienste!

Dieser Artikel ist in ungekürzter Fassung nachzulesen unter:
http://www.rote-hilfe.de/publikationen/die-rote-hilfe-zeitung/2007/2/g-ebt-8

Raute

REPRESSION

Eingeschränktes Wahlrecht für Gefangene

Thomas Meyer-Falk

Auch Gefangene dürfen in Deutschland wählen; ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht ist die absolute Ausnahme (von 1990 bis 2009 wurde gegen 77 Verurteilte als Nebenfolge ein solcher Ausschluss verhängt (1)). Was Viele - auch Inhaftierte - nicht wissen: Ein Ausschluss vom passiven Wahlrecht, also dem Recht gewählt zu werden, findet sich im Alltag viel häufiger. Denn jede und jeder, die/der zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen eines Verbrechens verurteilt wurde, verliert nach § 45 StGB automatisch für die Dauer von fünf Jahren die Amtsfähigkeit und auch das Recht, gewählt zu werden. Dabei wird die Zeit im Gefängnis nicht auf diese Frist angerechnet. Einher mit dem Verlust der Wählbarkeit geht der Verlust des Rechts, Mitglied einer Partei zu sein (2).


Superwahljahr 2009

Im Superwahljahr 2009 stellte sich auch für Gefangene die Frage, ob sie sich an den Wahlen beteiligen. An dieser Stelle soll nicht die Sinnhaftigkeit von Wahlen an sich thematisiert werden, viel mehr beschränke ich mich auf die formalen Aspekte. Paragraf 8 der BWO (Bundeswahlordnung) sieht vor, dass im Regelfall die Behörden in den Gefängnissen einen so genannten "beweglichen Wahlvorstand" errichten, sprich: Es soll für einige Stunden ein Wahllokal eingerichtet werden, damit auch Gefangene ganz normal wählen können. In der Praxis jedoch, so das Ergebnis einer Umfrage eines Doktoranden aus Berlin bei allen Landeswahlleitern und Justizministerien, gibt es heute in keiner einzigen Anstalt mehr eine solche Einrichtung. Früher, noch in den 90er Jahren gab es beispielsweise in der JVA in Hamburg einen solchen beweglichen Wahlvorstand.


Zwang zur Briefwahl

Somit müssen Inhaftierte den Weg der Briefwahl beschreiten. War es bislang zum Beispiel in der JVA Bruchsal üblich, dass die Anstalt die Anträge auf Erteilung der Briefwahlunterlagen kostenlos an die Stadt Bruchsal weiterleitete, müssen seit 2009 Gefangene, die denn wählen möchten, dafür bezahlen, nämlich Briefmarke und Kuvert kaufen. Ein Vorgehen, das nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch in der Politik auf Protest trifft. So veröffentlichte die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (3) am 17. September 2009 eine Pressemitteilung und forderte, "die Gefangenen bei der Ausübung ihres Wahlrechts zu unterstützen, anstatt sie zu behindern". Und der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach (CDU) schrieb die Justizministerin von Nordrhein-Westfalen an, nachdem sich Gefangene der JVA Iserlohn bei ihm über eine ähnliche Praxis dort beschwert hatten.

Berücksichtigt man das geringe Einkommen der Gefangenen (monatlich sind zwischen 31 und vielleicht 80/90 Euro verfügbar) und die Tatsache, dass jeder Mensch in Freiheit seinen Antrag kostenlos bei der Stadt abgeben oder am Wahlsonntag in ein Wahllokal gehen kann, um kostenfrei zu wählen, stellt die Kostenpflicht für Gefangene eine unzulässige Beeinträchtigung des Wahlrechts dar. Es bleibt abzuwarten, ob sich auch die OSZE mit der Thematik beschäftigt, nachdem ihrer Unterorganisation ODIHR eine Beschwerde vorliegt und sie dieses Jahr auch Wahlbeobachter nach Deutschland entsandte. Bei der Briefwahl kann sich zudem kein Gefangener sicher sein, dass die JVA nicht doch die Wahlbriefe zensiert (4).


Wahleinspruch für alle

Jeder kann, sofern wahlberechtigt, Einspruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl einlegen (5). Die Frist hierzu endete am 26. November 2009, der Einspruch ist kostenfrei. Sollte der Einspruch vom Bundestag zurückgewiesen werden, wird es etwas aufwendiger, denn nun muss man sich 100 Unterstützer/-innen suchen und kann Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen. Der Wahlprüfungsausschuss fordert in der Regel den Bundeswahlleiter zur Stellungnahme auf, die dann der Einspruchsführer zugeleitet bekommt, um hierauf erwidern zu können. Selbst eine mündliche Anhörung in Berlin ist möglich.


Kollateralschäden bei Einspruch

Wie unterbelichtet das Thema "Wahlrecht der Gefangenen" bislang war, dokumentiert der Umstand, dass erst jetzt eine Doktorarbeit zu diesem Feld in Arbeit ist (6) und sich näher mit den Fragestellungen rund um inhaftierte Wählerinnen und Wähler auseinandergesetzt wird.

Mitunter fühlen sich manche Journalisten bemüßigt, aus einem sachlichen Anliegen ein Schmierenstück zu fabrizieren. So nahm Wieland Schmid von der Stuttgarter Zeitung einen Wahleinspruch gegen die Oberbürgermeister-Wahl in Bruchsal (Wahlgewinnerin war eine ehemalige LKA-Beamtin) zum Anlass, über den inhaftierten Einspruchsführer, dieser war ich, im Stil der Boulevardpresse zu berichten.

Vielleicht ermöglichen Einsprüche gegen die Bundestagswahl vom 27. September 2009, die Situation von Gefangenen in den Medien breiter zu positionieren und so aus dem Schattendasein etwas heraus zu lösen.


→ Thomas Meyer-Falk, c/o JVA, Z. 3113, Schönbornstr. 32, 76646 Bruchsal
→ http://www.freedom-for-thomas.de

Anmerkungen

(1) vgl. Bundestags-Drucksache 16/12622 vom 8. April 2009
(2) Vgl. § 10 Abs. 1 Parteien-Gesetz
(3) Vgl. http://www.ulta-jelpke.de
(4) Ein Problem, auf das die LINKE im Bundestag in einer Anfrage an die Bundesregierung hinwies; vgl. oben genannte Drucksache.
(5) Der Einspruch muss schriftlich an folgende Adresse gerichtet werden: Deutscher Bundestag, Platz der Republik 1, 11011 Berlin
(6) Der Doktorand promoviert bei Professor Dr. Feest an der Universität Bremen.

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REPRESSION

Die Zukunft der Überwachung

www.german-foreign-policy.com

Auf einer Konferenz Ende September präsentierten deutsche Rüstungskonzerne und Wissenschaftler neuartige Repressionstechnologien zur Abschottung der EU-Grenzen gegen Flüchtlinge. Zu den Instrumenten, die auf der hochrangig besetzten Tagung "Future Security 2009" vorgestellt wurden, gehört unter anderem eine von EADS entwickelte "Behaviour Software" zur Erkennung "auffälligen Verhaltens" etwa an Kontrollstellen. Weitere Schwerpunkte waren der Schutz der öffentlichen Infrastruktur gegen Angriffe feindlicher Kombattanten im Inland und die Absicherung der Handelswege der deutschen "Exportnation". Verantwortlich für das Programm ist der "Verbund Verteidigungs- und Sicherheitsforschung", der von der staatlichen Fraunhofer-Gesellschaft ins Leben gerufen wurde. Er versteht sich als "Staat und Wirtschaft gleichermaßen verpflichtet" und kooperiert eng mit Militär- und Polizeidienststellen.

Wie der "Verbund Verteidigungs- und Sicherheitsforschung" mitteilte, stand die Konferenz "Future Security 2009" in Karlsruhe (Baden-Württemberg) ganz im Zeichen der kommerziellen Nutzung neuartiger Überwachungs- und Repressionstechnologien. Vertreten waren neben Wissenschaftlern und Ministerialbeamten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) auch Generalbundesanwalt a.D. Kay Nehm, Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums (BMVg), des Bundeskriminalamts (BKA) und des Technischen Hilfswerks (THW) sowie Repräsentanten deutsch-europäischer Rüstungsunternehmen, darunter EADS und Rheinmetall (1). Ihnen wurden bereits bei der ersten "Future Security"-Konferenz 2006 von Seiten des BMBF Fördergelder in dreistelliger Millionenhöhe zugesagt.


Auffälliges Verhalten

Zu den neuartigen Überwachungs- und Repressionstechnologien, die auf der Tagung präsentiert wurden, zählt unter anderem eine von EADS entwickelte "Behaviour Software" - Das Computerprogramm ist in der Lage, menschliches Verhalten in Gefahr- und Stresssituationen zu simulieren, und soll vor allem bei der Grenzabschottung zur Anwendung kommen ("Behaviour Software Supported Solutions for Airport and Border Security). Die von der "Behaviour Software" analog einem Videospiel generierten Charaktere ("Agents") differieren hinsichtlich ihres Alters, ihrer Körpergröße und ihrer physischen Konstitution und sind ebenso mit emotionalen Affekten wie mit künstlicher Intelligenz ausgestattet. Ziel ist eine möglichst realistische Darstellung größerer Menschenansammlungen, wie sie auf Bahnhöfen und Flughäfen oder an Kontrollstellen anzutreffen sind. Die mittels Simulation gewonnenen Erkenntnisse über menschliche Handlungsweisen werden an Videoüberwachungssysteme übermittelt - damit diese frühzeitig "auffälliges Verhalten" von Einzelpersonen oder Gruppen erkennen und die Repressionsbehörden nicht nur alarmieren, sondern auch instruieren können.


"Nichtkooperative Szenarien"

Passend dazu arbeitet das Fraunhofer-Institut für Informations- und Datenverarbeitung (IITB) in Karlsruhe, das zu den maßgeblichen Organisatoren der Konferenz "Future Security 2009" zählt, nach eigener Aussage an der "Realisierung und Inbetriebnahme informationstechnischer Komplettsysteme". Dabei befasst sich etwa das "Geschäftsfeld Autonome Systeme und Maschinensehen" des IITB mit der "automatischen Auswertung von Signalen bewegter bildgebender Sensorik" in "nichtkooperativen Szenarien", wie sie beispielsweise bei einem Massenansturm von Flüchtlingen auf Grenzkontrollstellen der EU anzutreffen sind. Darauf basierend entwirft dann der Geschäftsbereich "Interaktive Analyse und Diagnose" des Instituts "Lösungen für die technisch unterstützte Analyse von Signalen und Bildern". Ziel sei die Entwicklung "modellbasierte(r) Verfahren zur Entscheidungsfindung", heißt es (2).


Mobile Kontrolle

Das IITB ist nicht nur Teil des Fraunhofer "Verbunds Verteidigungs- und Sicherheitsforschung", sondern gehört auch dem von dem Verbund initiierten "Innovationscluster Baden-Württemberg" an. Ein Arbeitsschwerpunkt der darin zusammengefassten "wehrtechnischen" Fraunhofer-Institute in Karlsruhe, Pfinztal und Freiburg ist laut einer Selbstdarstellung die Entwicklung "intelligenter" Überwachungseinrichtungen und "Sicherheitsleitsysteme", die sowohl den Bedürfnissen des Militärs wie der Polizeibehörden entsprechen. Sie sollen, wie es heißt, "überall dort zum Einsatz kommen, wo eine lokale, kurzfristige Verschärfung der zivilen Sicherheitslage zu befürchten ist". Explizit genannt werden Demonstrationen und Staatsbesuche. Im Einzelnen gedacht ist an "mobile Zutrittskontrollsysteme", "flexibel errichtbare Absperrsysteme", "hochauflösende, tag- und nachtsichtfähige Überwachungssensorik" sowie an "lokale, selbstorganisierende Breitband-Netzwerke zur Verbindung mobiler Einheiten" und "intelligente Bildverarbeitungsalgorithmen" - "zur Entlastung der Einsatzkräfte" (3).


Marktpotenzial

Die Präsentation der entsprechenden Forschungsergebnisse auf der diesjährigen "Future Security"-Konferenz wird die Verbindung zwischen Fraunhofer-Gesellschaft und Rüstungsindustrie weiter stärken - zumal die Entwicklung "intelligenter Sicherheitssysteme" nach Darstellung des "Innovationsclusters" ein "großes Marktpotenzial" in sich birgt. Anwendbar ist die neuartige Überwachungs- und Repressionstechnologie auch zum Schutz der öffentlichen Infrastruktur gegen Angriffe feindlicher Kombattanten im Inland und zur Absicherung der Handelswege der deutschen "Exportnation", zwei weiteren Schwerpunkten der Tagung. So befasst sich das hier präsentierte Projekt "Aqua-BioTox" des IITB mit der "onlinefähige(n) Trinkwasserüberwachung auf Grundlage eines biologischen Breitbandsensors mit automatischer Bildauswertung", da großstädtische "Wassernetze", wie es heißt, ein "potenzielles Terror-Angriffsziel" darstellten. Die von EADS entwickelte "Behaviour Software" wiederum ermöglicht nicht nur die Kontrolle von Menschenansammlungen, sondern auch die Steuerung des Schiffsverkehrs - nicht zuletzt an bedrohten Seefahrtsrouten wie am Horn von Afrika.


Anmerkungen

(1) vgl. Fraunhofer Conference Future Security. 4th Security Research Conference Karlsruhe. September 29th - October 1st 2009. Congress Center Karlsruhe, Germany (Programmheft)

(2) Bundesministerium der Verteidigung: Forschen für Sicherheit und Verteidigung von morgen. Einrichtungen und Institute mit wehrwissenschaftlichem Forschungsauftrag, Bonn 2007

(3) Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik/Ernst-Mach-Institut (EMI): Mehr Sicherheit durch Hightech. Fraunhofer Innovationscluster Future Security BW, Freiburg 2008

Raute

REPRESSION

Staatliche Repression - Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Elke Steven, Komitee für Grundrechte und Demokratie

Die Frage nach der gegenwärtigen Entwicklung staatlicher Repression gegen diejenigen, die sich aktiv und kritisch am politischen Geschehen beteiligen, soll vorrangig am Beispiel des Umgangs mit dem Versammlungsrecht aufgeschlüsselt werden. Das Grundgesetz garantiert zwar in Artikel 8 das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, aber schon damals war der Parlamentarische Rat äußerst skeptisch gegenüber diesem Willensausdruck des Volkes eingestellt. In Absatz zwei sah er sofort die Möglichkeit eines einschränkenden Gesetzes für Versammlungen "unter freiem Himmel" vor.

Die Geschichte der Bundesrepublik lässt sich auch als nicht endender Streit um dieses urdemokratische Grundrecht beschreiben. Erst die selbstbewusste Inanspruchnahme des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch die Bürger und Bürgerinnen hat ein Bewusstsein für diese Menschenrechte geschaffen. Die Studentenbewegung, die neuen sozialen Bewegungen, Friedensbewegung und Frauenbewegung haben aus den wohlgeordneten Aufmärschen heraus hin zu selbstbewussten und kreativen Protesten geführt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich seit dem Brokdorf-Beschluss 1985 immer wieder, wenn auch nicht immer ausreichend, schützend vor dieses Grundrecht gestellt. Das Interesse der Exekutive war es, dieses Grundrecht zumindest in der Praxis einzuschränken, es auszuhebeln, es unter polizeilichen Vorbehalt zu stellen.

Dieser Konflikt dauert an und wird in immer neuen Formen ausgetragen. Von den Innenministerien wird der Öffentlichkeit weisgemacht, polizeiliche Mittel und Möglichkeiten der Strafverfolgung reichten nicht aus, für einen ordnungsgemäßen Verlauf von Demonstrationen zu sorgen. Mit dem Vorwurf der Gewalttätigkeit wird jeder Protest diskreditiert, der die Ordnung nur etwas stört, der die Finger in die Wunde menschenrechtswidriger, undemokratischer Politik legt. Die Gewalt der Bürger nehme zu, ist eine immer wiederkehrende Behauptung und führt zu der Forderung nach immer mehr Eingriffs- und Strafverfolgungsmöglichkeiten. Im Juni 2009 hat die Innenministerkonferenz beschlossen, eine Studie zur "zunehmenden Gewalt gegen Polizeibeamte" beim Kriminologischen Forschungsinstitut in Auftrag zu geben. Die letzte Untersuchung zu demselben Thema hatte dieses 2000 vorgenommen. 1994 hatte die Polizeiführungsakademie ein "graues Papier" zu den Angriffen auf Polizeibeamte polizeiintern publiziert.

Auf der anderen Seite sind Bürger und Bürgerinnen immer wieder von polizeilichen Maßnahmen betroffen. Es entsteht der Eindruck, der Druck auf diejenigen nehme zu, die politisch aktiv sind, die im Widerspruch zum politischen Mainstream stehen und Protest organisieren. Wie auch die Verfolgung derjenigen wachse, die an Versammlungen teilnehmen, diese anmelden oder leiten. Von polizeilichen Gewaltübergriffen auf DemonstrationsteilnehmerInnen ist häufig zu berichten. Diese staatliche Gewalt ist jedoch nicht Gegenstand systematischer Untersuchungen. Klagen gegen Polizeibeamte sind nur in ganz seltenen Fällen erfolgreich. Sie scheitern schon an der Unmöglichkeit, die vermummten Täter zu identifizieren. Erfolgen sie überhaupt, werden sie meist mit Klagen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte beantwortet. Eine Vielzahl von Prozessen gegen Demonstrationsteilnehmer führt zwar zu Freisprüchen oder Einstellungen, aber die abschreckende Wirkung entfalten die Prozesse trotzdem. Über diese unberechtigten Klagen erfährt die Öffentlichkeit viel zu selten. Statistiken darüber fehlen. Rechtswidrige Eingriffe der Polizei gegen Bürger und Bürgerinnen haben fast keine Nachteile für diese. Leider gelingt es bisher kaum, Entschädigungen für erlittene rechtswidrige staatliche oder polizeiliche Maßnahmen einzuklagen, die den Staat tatsächlich treffen.


Öffentlichkeitswirksam gegen Demos

Eine grundlegende und abschreckende Taktik sind die Berichte von Polizei und Exekutive über drohende Gewalttaten bei Demonstrationen. Der schon in andere Sprachen übernommene Begriff vom "Schwarzen Block" ist zum Synonym für Gewaltbereitschaft geworden. Der Öffentlichkeit wird vorgegaukelt, es gebe eine Quasi-Organisation, die erkennbar herausgefiltert und der alle Gewalttätigkeiten zugeschrieben werden könne. Versuche, spaltend zu wirken, sind ebenfalls alt. Der Versammlungsleiter und die Demonstrierenden sollen sich von einem imaginären schwarzen Block distanzieren. Auch nach den Demonstrationen - das könnte im Lernen der Public Relation-Arbeit neu oder verstärkt hinzugekommen sein -berichtet die Polizei über die Gewalttätigkeit der Demonstrationen, über die Zahl der verletzten Polizisten.

Das Maß, in dem sie lügend berichtete, hat im Kontext der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm das bisherige Maß überschritten. Die Zahl der verletzten Beamten am Tag der Großdemonstration wurde extrem übertrieben. Zwei Beamten, die kurzfristig stationär behandelt werden mussten, stand die Behauptung von fast 500 verletzten Beamten gegenüber. Gravierender noch waren die falschen Behauptungen über die Erfahrungen mit den Demonstrationen rund um Heiligendamm nach drei Protesttagen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. Obwohl die Lügen aufgedeckt waren, wurden sie gegenüber dem höchsten Gericht wiederholt und trugen erheblich zum zweifelnd bestätigten Versammlungsverbot bei.

Aber auch die Ereignisse um den 1. Mai 2009 in Berlin Lassen ähnliches zu Tage treten. Nach den ersten Berichten über immense Gewaltorgien und fast 500 verletzte Polizeibeamte wird erst im September ein gemäßigteres Resümee gezogen. "Von 479 verletzten Polizisten haben fast alle Prellungen im Beinbereich und im Armbereich aufgrund von Stein- und Flaschenwürfen" gehabt, berichtet Polizeipräsident Dieter Glietsch. Gravierende Verletzungen habe es in diesem Jahr nicht gegeben (1). Zugleich wird nun berichtet, es habe nach diesen "schwersten Mai-Krawallen in Berlin seit Jahren" (2) weniger Sachschäden gegeben als früher, keine geplünderten und zerstörten Geschäfte (3). Vor Gericht steht auch ein 24 Jahre alter Bundespolizist, der privat in Berlin gewesen sein und Pflastersteine auf die Polizei geworfen haben soll.


Demonstrationen unter polizeilicher Kontrolle

Der demonstrative Alltag zeigt ein anderes als das polizeiliche Bild. Demonstrationen können sich nicht ungehindert äußern. Zugangskontrollen schrecken ab. Videoaufnahmen, die bei fehlenden Anhaltspunkten für eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtswidrig sind, wie das Verwaltungsgericht Münster im August 2009 urteilte, widersprechen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gefährden die Demokratie. Demonstrationen werden als geschlossene Kessel geführt, denen die Möglichkeit genommen ist, Öffentlichkeit zu erreichen. Gegen Demonstrationsteilnehmer wird mit Schlagstöcken und Pfefferspray vorgegangen.

Ein solches Vorgehen betrifft prinzipiell alle Demonstrationen, es betrifft die Teilnehmer nur um so eher, je mehr sie provozieren, je mehr sie Themen ansprechen, die grundlegende gesellschaftliche Fragen thematisieren. In den 1980er Jahren ging die "Gewalt" von den Sitzblockaden der Friedensbewegung aus. Deren Teilnehmer wurden wegen "nötigender Gewalt" verurteilt. Erst 1995 hat das Bundesverfassungsgericht dafür gesorgt, dass die Verurteilungen aufgehoben werden mussten, da mit Sitzblockaden keine Gewalt ausgeübt werde. Die Auseinandersetzungen um diese Bewertungen gehen jedoch bis heute weiter.

Unmittelbare polizeiliche Gewalt, Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke wurden auch gegen die friedlich über die Wiesen strebenden Demonstrierenden beim Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm eingesetzt. Seit es die "Rebel Clowns Army" gibt, stört deren irritierend-provozierendes Spiel mit theatralisch-clownesken Elementen die Polizei immens. Schnell wurden sie zum Ziel polizeilicher Übergriffe. 2008 wurden die ersten polizeilichen Auflagen erteilt, in denen Clowns die Teilnahme an Demonstrationen quasi verboten wurde. Noch die absurdesten Auflagen - Clowns dürfen Polizeibeamten nicht näher als drei oder fünf Meter kommen - machen deutlich, dass die friedliche Irritation, wie auch die Versuche Konfrontationen zu reduzieren, als bedrohlich wahrgenommen werden. Die Gerichtsurteile zu solchen Auflagen sind jedoch noch widersprüchlich.

Immerhin haben die Dokumentationen polizeilicher Übergriffe am Rande der Demonstration "Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn" im September 2009 in Berlin dazu geführt, dass endlich einmal am nächsten Tag in den Medien über diese polizeiliche Gefährdung von Demonstrationsteilnehmern berichtet wurde.


Mit Auflagen das Versammlungsrecht aushebeln

Immer wieder greifen die Ordnungsbehörden zum Mittel der Einschränkung des Versammlungsrechts durch Auflagen. Detailliert wird festgelegt, was alles bei der jeweiligen Versammlung verboten ist, wie sich die Teilnehmenden zu verhalten haben, was der Versammlungsleiter durchsetzen muss. Solche Auflagen verschaffen der Polizei vor allem Gründe, in die Versammlungen nach eigenem Gutdünken einzugreifen. Sie hebeln das Selbstbestimmungsrecht über den Verlauf der Versammlungen aus. Sie dürften nur erlassen werden, wenn Grund zur Annahme besteht, dass Gefahren von einer Versammlung ausgehen. Sie sollen Versammlungen ermöglichen, wenn anderenfalls habhafte Gründe für deren Verbot bestünden. Sie sollen also das Recht auf Versammlungsfreiheit schützen.

In der Praxis werden solche Auflagen meist ohne solche rechtfertigenden Gründe erlassen, also rechtswidrig. Der Bayerische Gerichtshof in München urteilte 2007, dass 21 von 25 im Jahre 2006 in Mittenwald erlassenen Auflagen gesetzwidrig seien. Das hindert die Ordnungsbehörden allerdings nicht, sie weiterhin zu erlassen. 2008 wurde deutlich, dass sie darüber hinaus ein willkommenes Mittel sind, rechtlich gegen Versammlungsleiter vorzugehen. Immerhin beruhte der Brokdorf-Beschluss des BVerfG von 1985 auch auf der Auseinandersetzung um Rechte und Pflichten des Versammlungsleiters. Das Verfassungsgericht machte deutlich, dass nicht eine Person die Verantwortung für das vielfältige Geschehen bei einer großen Demonstration übernehmen kann, zu der viele verschiedene Gruppen aufrufen. Es forderte, den Schutz des Versammlungsrechts weit auszulegen. Störungen von Einzelnen oder einzelnen Gruppen seien zu beheben, ohne die gesamte Versammlung aufzulösen.

Mit der Erteilung von Auflagen versuchen die Ordnungsbehörden nun, diese orientierende Rechtsprechung auszuhebeln. Versammlungsieiter sollten dafür verantwortlich gemacht werden, dass alle Auflagen - von der Länge der Transparentstangen bis zur Geh-Geschwindigkeit der Teilnehmenden - eingehalten würden. Andernfalls wären sie verpflichtet, die Versammlung aufzulösen. Das, was die Polizei nicht darf, nämlich die Versammlung aus nichtigen Gründen auflösen, soll nun der Versammlungsleiter tun. In mindestens vier Städten standen im Jahr 2008 Versammlungsleiter vor Gericht - in Karlsruhe, München, Rostock und Friedrichshafen. Während die anderen spätestens in zweiter Instanz freigesprochen wurden, ist der Demoanmelder in Karlsruhe in erster Instanz zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt worden. Gegen das Urteil hat er Berufung eingelegt, die aber noch nicht verhandelt worden ist.


Ausforschung politischer Zusammenhänge

Die Versuche, die KritikerInnen der gesellschaftlichen Zustände, die politisch Aktiven und Kreativen geheimdienstlich auszuforschen, sind uralt, die technischen Mittel jedoch erlauben ein immer tieferes Eindringen in die Kommunikation. Rund um die Bürgerinitiative Umweltschutz im Wendland entstanden in den 1990er Jahren, und nicht nur zu dieser Zeit, Aktenberge über Veranstaltungen, Personen und deren Telefonate. Über Rolf Gössner, Bremer Publizist, Bürgerrechtler, Rechtsanwalt und stellvertretender Verfassungsrichter, wurden seit 1970 vom Bundesamt für Verfassungsschutz Daten gespeichert. Nach zahlreichen Widersprüchen und einer anliegenden Klage beim Verwaltungsgericht Köln wurde seine Beobachtung 2008 eingestellt.

Die Hausdurchsuchungen im Vorfeld der Proteste gegen den G8-Gipfel dienten der Kriminalisierung dieser Bewegung, aber sie brachten eine hohe Solidarisierungswelle und eher steigende Beteiligung an den Protesten. Sie machten auch einer breiteren Öffentlichkeit deutlich, wie konstruiert die Beschuldigungen der Bildung von terroristischen Vereinigungen sind. Zunächst musste die Bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen politische Aktivisten aus Norddeutschland und Berlin wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB einstellen. Die Ermittlungen, die nun "nur" noch den Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB und Brandstiftung betrafen, wurden an die Staatsanwaltschaft Flensburg abgegeben. Auch dort wurde das Verfahren schließlich eingestellt. Mit haarsträubenden und nicht haltbaren Beschuldigungen waren Überwachungen legitimiert worden. Weil jemand jemanden kennt, der beschuldigt wird, und politisch aktiv ist, wird er observiert und abgehört. Ohne stichfeste Beweise waren Aktive von Totalüberwachung betroffen. Im Juni 2008 kam das Landgericht in Flensburg zu dem Schluss, dass die Razzien im Juni 2007 rechtswidrig waren und nicht hätten angeordnet werden dürfen.

Der § 129a StGB war von Beginn an (1976) ein reiner Schnüffelparagraph, der nicht der Verfolgung von Straftaten dient, sondern der Ausforschung politischer Zusammenhänge. Betroffen von diesen Maßnahmen sind immer konkrete Personen, die den Druck aushalten müssen, die der Solidarität bedürfen, um dem standhalten zu können. Und betroffen sind alle, denn die Repression wirkt auf alle, die politisch aktiv werden könnten. Abschreckung ist der gewollte Effekt, der die politische Arbeit immer wieder schwierig macht und zugleich die Demokratie gefährdet. Die Gerichte bieten bestenfalls im Nachhinein Schutz. Diese Erfolge kommen immer zu spät, weil all diese Maßnahmen dann längst erfolgt sind, weil sie letztlich abschreckend wirken und wirken sollen. Zugleich zeitigt dieses rechtswidrige Vorgehen der Behörden für diese keine Konsequenzen und wird folglich bei nächster Gelegenheit wiederholt.

Die technischen Entwicklungen im Bereich der Datenspeicherung, der komplexen Auswertung von Daten und ihrer Weitergabe sind Grundlage dieser staatlichen Ausforschung und Überwachung. Nicht nur innerstaatlich sind fast alle Grenzen der Datenauswertung gefallen. Die europäische Zusammenarbeit schafft zwar die Grenzen für die Daten ab, errichtet diese jedoch wieder für die Bürger selbst. Die reinen Verdachtsdateien des BKA führen zu Ausreiseverboten, Meldeauflagen etc. Klagen gegen Ausreiseverbote können zwar erfolgreich sein, wie im Kontext der Proteste gegen den Nato-Gipfel im Frühjahr 2009, ihnen folgen jedoch Einreiseverbote, weil die Daten längst migrieren konnten.


Mit Gesetzen gegen das Versammlungsrecht

Die schon beschriebenen Versuche, das Versammlungsrecht auszuhebeln, scheitern heute teilweise noch an den Gerichten. Deshalb sind die Versuche, auf Länderebene nun neue Versammlungsgesetze zu erlassen, als Angriffe auf das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu verstehen. Das Bayerische Versammlungsgesetz war der erste Versuch, gegen alle "extremistischen" Gruppen und Versammlungen polizeiliche Eingriffsbefugnisse zu schaffen. Wer "extremistisch" ist, bestimmt aber der demokratisch unkontrollierbare Verfassungsschutz mit seinen geheimen Informationen. Das bayerische Versammlungsgesetz ist ein Lehrbeispiel in Sachen Generalklauseln und der Einführung unbestimmter Rechtsbegriffe. Die Polizei wird letztlich bestimmen, was verbotenes "militantes und aggressives" Auftreten ist. Das Uniformierungs- und Militanzverbot ermöglicht es, auch Streikposten der Gewerkschaften als "einschüchternd" auszulegen, um dagegen vorzugehen. Für den Bürger besteht keine Rechtssicherheit mehr. Die Demokratie gefährdende elektronische Überwachung von Demonstrationen soll fast jederzeit möglich sein. Der Versammlungsleiter wird zum Erfüllungsgehilfen der Polizei gemacht und mit hohen Bußgeldern und Strafen bedroht.

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Eilentscheidung dieses Gesetz als verfassungswidrig erkannt. Diesen Herbst wird es grundlegend entscheiden. So begrüßenswert die Eilentscheidung ist, so ist sie doch kein Grund, sich erfreut zurückzulehnen. Wie in so vielen Fällen von Recht sichernden Verfassungsgerichtsentscheidungen werden die Grenzen des Grundrechts enger werden. Die Legislative wird die Möglichkeiten nutzen, das Recht einzuschränken. Der Streit um das Recht auf Versammlungsfreiheit wird letztlich auf der Straße ausgetragen. Das Recht wird nicht einmal auf Dauer erstritten, sondern ist immer neu bedroht. Es bedarf der Menschen, die immer neue Formen des provozierenden Eintretens für Menschenrechte und Demokratie entwickeln, die sich das Recht nicht nehmen lassen, sich "ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln".


Quellen:

(1) FAZ, 4.9.2009
(2) Berliner Zeitung, 4.5.2009
(3) FAZ, 4.9.2009

Raute

REPRESSION

"Hört auf zu heulen, es hat gerade erst angefangen..."

Irrungen und Wirrungen der Solidaritätsarbeit mit Gefangenen und Angeklagten

Gruppe SDB - Solidarischer Diskussionsbedarf

Mit unserem Text wollen wir Fragen und Diskussionen provozieren, vor allem bei sich organisierenden Zusammenhängen und Gruppen, die zu sozialen Unruhen aufrufen und Gruppen, die Solidaritätsarbeit mit und für Gefangene und Angeklagte machen.

In den letzten Jahren gibt es eine verstärkte Diskussion um Repression. Scheinbar immer neue Stufen der Eskalation werden erkannt und beschrieben. Wir denken, dass wir es nicht mit einer neuen, höheren Stufe der Repression zu tun haben. Verändert und erweitert haben sich die Mittel der Repressionsorgane, auch auf Grund der verbesserten technischen Möglichkeiten (zum Beispiel: DNA-Analysen, Digitalisierung der Telefontechnik und damit leichtere Überwachung dieser). Paragrafen wurden den veränderten Bedingungen angepasst (auch international) und neue Feindbilder geschaffen. Insgesamt gab es aber unserer Meinung nach in Deutschland nach 1968 Zeiten, in denen die Repressionsorgane viel stärker agiert haben als heute.

Wir gehen von dem Grundsatz aus, dass wenn es Widerstand und Revolten gibt, der Staat mit all seinen Instrumenten darauf reagieren wird. Und es kann nicht sein, dass wir heulen, wenn der Staat unsere Statements ernst nimmt und sicherlich oft viel ernster als die meisten Akteure/-innen, die sie formulieren. Widerstand und Revolution sind kein Spielplatz, auf dem wir unsere Energien ausleben können und uns dann wundem, wenn es weh tut. Wenn mit Parolen und Praxen kokettiert wird, wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind, dass der Staat auf militante Demonstrationen, auf klandestine Organisierung mit einem Gegenangriff reagiert, dann sollten wir diese Praxen sein lassen. Anders ausgedrückt: Wenn "wir" angreifen, mit welchen Mitteln und Formen auch immer, wird der Staat zurückschlagen. Dies ist kein Zufall, sondern, so banal es klingen mag, Normalität.

Wenn Menschen innerhalb unserer Kämpfe verhaftet werden und in den Knast kommen, wenn sie mit Verfahren überzogen werden, dann muss die Bewegung solidarisch reagieren. Eine Bewegung, die sich nicht um "ihre" Gefangenen kümmert und nicht solidarisch handelt ist politisch tot.

Gruppen organisieren Demos, zum Beispiel das 1. Mai-Bündnis. Die Mobilisierung über Plakate und andere Medien "verspricht" Riots und zielt auf soziale Unruhen. Für uns gehört in diesem Moment auch dazu, vorher über Repression aufzuklären, nicht um abzuschrecken, sondern um selbstbewusst handeln zu können. Kommt es dann zu Ansätzen der propagierten Unruhen, in deren Folge Leute einfahren oder mit Verfahren überzogen werden, halten sich dieselben Gruppen zurück oder verhalten sich im schlimmsten Fall überhaupt nicht.

Uns stört dieses unsolidarische Verhalten auch bei einigen Antifa-Gruppen, die mit radikalen Plakaten zu Gegenaktivitäten zum nächsten Nazi-Aufmarsch aufrufen, und dann die Schnauze hatten, wenn es hart auf hart kommt, Genossen/-innen dafür einfahren. Hier sehen wir einen Widerspruch, denn zu radikaler Selbstdarstellung und militantem Agieren gehört auch ein offensives Verhalten, wenn es zu Repression kommt. Solidarität ist eine Stärke, aber nicht jede Solidarität macht wirklich stark.


Politische Solidarität heißt kämpferische Solidarität

Ein Ziel von Repression ist es auch immer, abzuschrecken. Menschen zu zeigen: "Schau her, dein/e Genoss(e)/-in sitzt für dies und jenes, du könntest der/die Nächste sein." Wenn wir uns darauf einlassen, uns also ruhig verhalten, spielen wir dem Staat in die Hände. Was schadet und was nützt den Gefangenen? In der konkreten Arbeit ist das sicherlich oft nicht so einfach zu praktizieren. Aber im Grundsatz gehen wir davon aus, dass es nicht allein um die/den konkreten Gefangenen geht, sondern dass in jeder Inhaftierung von Seiten der Repressionsorgane immer auch der Faktor der Abschreckung und Prävention eine große Rolle spielt. In jedem Artikel in den bürgerlichen Medien können wir nach dem 1. Mai lesen, dass jetzt endlich richtig zurückgeschlagen, dass abgeschreckt werden muss. Deshalb meint für uns kämpferische Solidarität eine, in der deutlich wird, welche emanzipatorischen Kämpfe wir führen und welche Ziele wir damit verfolgen.

In einer Solidaritätskampagne muss es primär um die Fragen unseres Kampfes gehen: Warum intervenieren wir an diesen Punkten und worin besteht die Notwendigkeit dieser Kämpfe? Es muss doch immer darum gehen, die kriminalisierten Themen aufzugreifen. Diese Kämpfe fortzuführen. Der Staat greift diese an, weil sie stören. Was gibt es besseres, als diese zu stärken und zu verbreitern?

Solidarität besteht aus zwei Faktoren: Einmal die ganz konkrete zu den Gefangenen, nämlich in der Organisierung von Geld, Büchern, Klamotten und Ähnlichem. Das ist sicherlich die undankbarste Aufgabe und, wie die Soligruppe zu Christian S. schreibt, der Part, bei dem am wenigsten Blumen zu gewinnen sind.

Der zweite Part ist die kämpferische Solidarität. Diese scheint schädlich zu sein, wenn mensch einigen Anwälten/-innen, Angehörigen und Genossen/-innen Glauben schenkt. Diese Einschätzung geht von der Hoffnung aus, wenn mensch nach einer Verhaftung den Kopf in den Sand steckt (sich nicht politisch äußert, keine Knastkundgebung will), dann kann mensch nicht soviel passieren. Eine Haltung, die sich auch nach der konkreten Inhaftierung fortsetzt, in der Art wie die Prozesse geführt werden: Mit Einlassungen, Aussagen, Reue, dass es eben alles nicht so gemeint war. Leider werden Prozesse mittlerweile in den seltensten Fällen auf politische Weise geführt, das heißt auf offensive Art, sei es mit Erklärungen oder bewusstem Schweigen unsere nachhaltige Ablehnung diesem System gegenüber auszudrücken. Also: Die Verteidigung unserer Ideen auf allen Ebenen und in jedem Terrain, in dem wir uns bewegen.


Unschuldskampagnen und Verteidigungsstrategien

Wir denken, dass die Frage nach Schuld oder Unschuld in unseren Kreisen nichts zu suchen hat. Bei allen Diskussionen zu Solidaritätsarbeit für Gefangene wird sie dennoch immer fix gestellt. Folgen wir damit nicht einer Rechtsstaatslogik, die wir eigentlich ablehnen? Der Schwerpunkt sollte doch darauf gelegt werden, in welchem Kontext Leute einfahren, was sie wollen und wofür sie sich einsetzen.

Als Matti in Berlin auf Grund der Aussagen von Faschos verhaftet worden ist, ging die Kampagne hauptsächlich um die Unschuld von Matti (1). Was wäre aber, wenn Matti im Sinne des Gesetzes schuldig gewesen wäre? Was machen wir mit der Notwendigkeit des Angriffs auf faschistische Strukturen und jemand von uns wird dabei verhaftet, und wir haben keinen Spielraum für die Frage von Schuld oder Unschuld? Wer hat die Definitionshoheit über die Frage von Schuld? Wie soll eine Kampagne zu "Schuldigen" funktionieren oder wenn die Gefangenen sich nicht in diese Kategorien pressen lassen wollen? Sind sie dann Märtyrer? Oder wie sieht es aus? Warum werden aus kämpfenden Subjekten Opfer gemacht? Warum gab es bei Matti nicht eine offensive Kampagne dafür, faschistische Strukturen mit allen Mitteln zu zerschlagen? Warum wird die Notwendigkeit verschwiegen?

Ein anderes Beispiel der letzten Zeit ist die Unschuldskampagne für Andrej H. vs. "die drei Schuldigen". In dem noch laufenden mg-Verfahren wurden zunächst sieben Aktivisten beschuldigt, für Andrej H. wurde mit Hilfe seiner Universitätslaufbahn und Anstellung an der Uni eine Unschulds-Kampagne de luxe geführt. Prominente und Wissenschaftler/-innen in der ganzen Welt forderten und bemühten sich, seine Unschuld medienwirksam zu beteuern. Ein positives Beispiel für eine offensive Solidaritäts-Kampagne ist hingegen die Kampagne für die drei anderen Beschuldigten im mg-Verfahren. Sie sollen beim Brandsätzelegen unter Bundeswehrautos erwischt worden sein. Parallel zu ihren Prozess führten verschiedene Solidaritätsgruppen und Zusammenhänge eine offensive Kampagne für die weitere Sabotage und Zerstörung militärischer Infrastruktur durch (2).

2002 gab es einiges Entsetzen bezüglich der Verfahren gegen die Revolutionären Zellen. Auf eine offensive Verteidigung der Politik der RZ wurde im Prozess verzichtet. Von fünf Personen, die als Mitglieder der RZ beschuldigt wurden, machten drei Einlassungen mit einem begrenzten Schuldeingeständnis, um mit einem blauen Auge wegzukommen. Einen Gegenpol bildeten einzig einige sehr gut besuchte Veranstaltungen zu Geschichte und Kämpfen der RZ. 2009 ein weiteres Trauerspiel: Thomas K. bekam zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Verteidigung, Gericht und Bundesanwaltschaft hatten in einem Deal zuvor ausgehandelt, dass wenn er in einer Einlassung zugibt, Mitglied der RZ gewesen zu sein und gewisse Aufgaben übernommen zu haben, der Vorwurf der Rädelsführerschaft fallengelassen wird, für die das Gesetz immer Knast vorschreibt (3).

Wie kann es sein, dass Menschen militante Politik machen, Knast riskieren und dann 18 Jahre später so einknicken vorm Staat? Anna und Arthur gehen mal kurz einen anderen Weg - den individuell egoistischen? Glücklicherweise können wir auch hier ein positives und offensives Gegenbeispiel nennen. Seit Februar 2009 droht Sonja S. (76) und Christian G. (67), von den französischen Behörden an die Bundesrepublik ausgeliefert zu werden. Beide wurden seit 1978 als Mitglieder der RZ gesucht. Im Gegensatz zu den oben genannten RZ-Angeklagten lehnen beide einen Deal ab. Für sie wird es vermutlich nicht so glimpflich ablaufen. Fehlende Reue und mangelnde Kooperationsbereitschaft müssen vom Staat bestraft werden, weil es sonst keine Deals beziehungsweise keine Abschreckung mehr gäbe.

Es könnte im Interesse und der Verantwortung der Antira- und Anti-AKW-Bewegung und so oder so der gesamten Bewegung liegen, sich angesichts der Anklagepunkte einzumischen (4). An diesem Punkt stellt uns die Zusammenarbeit mit Rechtsanwälten/-innen immer wieder vor Probleme: Deren Interesse für ihre Mandanten/-innen (geringere Haftzeit, geringere Bestrafung) steht oft im Widerspruch zur politischen Identität der Beschuldigten. Ein schlauer Deal mit dem Gericht erspart manche Strafe; aber welchen Preis muss mensch dafür zahlen? Das muss nicht "böse" gemeint sein, es entspricht eben ihrer zugewiesenen Rolle im Justizapparat.

Das Argument, das sagt, wenn ich mich im Prozess oder im Knast offensiv verhalte, dann sitze ich länger und deswegen tue ich nichts auf dieser Ebene, weil ich draußen mehr machen kann und dies kein Feld der Auseinandersetzung sein kann ist die zentrale vermeintliche Antwort auf dieses Problem. Die Parole lautet: Bälle flach und Füße still halten, eine nicht selten vertretene Haltung von Rechtsanwälten/-innen. Dies bedient die Hoffnung, durch "sauberes" und "harmloses" Auftreten mit dem berühmten blauen Auge davonzukommen. Sich für Freigang und eine Haftentlassung nach zwei Dritteln der Freiheitsstrafe einzusetzen, wie es die Christian S. Soligruppe tut (5) ist menschlich verständlich, es ist aber keine kämpferische Haltung, die verdeutlicht, worum es in unseren Kämpfen geht.

Wir denken, dies ist zu kurz gedacht. Okay, ich komme raus auf drei, vier, fünf Jahre Bewährung und muss mich dann an bestimmte vom Staat vorgegebene Regeln halten, sonst gibt es den Bewährungswiderruf, und ich gehe zurück in den Knast. Ich stelle Anträge auf Freigang, weil es beschissen ist im Knast und so wenige andere gefangene Menschen kämpfen, ich bin allein und kann draußen viel mehr machen. Stimmt das? Machen wir mehr, wenn wir die ganze Zeit den Hammer eines Bewährungswiderrufs über uns haben? Kann es für das eigene Rückgrat gesünder sein, auf vorzeitige Haftentlassung zu verzichten? Ist wirklich alles besser als Knast? Knast ist ein Kampfgebiet, der Prozesssaal ist ein Kampfgebiet, wie die entfremdete Arbeit, wie der tote sinnentleerte Alltag, den uns dieses System bietet.

Wir wünschen uns an dieser Stelle eine Diskussion um die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten und Solidarität, die es im Knast, außerhalb des Knastes und vor Gericht geben kann. Wir denken, dass es eine Auseinandersetzung geben muss um die Bedingungen, die uns im Knast gesetzt werden, dass wir alle dafür verantwortlich sind, dass diese Diskussion stattfindet, möglichst vor der Situation des Einfahrens.

Es geht uns um eine Debatte, wie unsere Solidarität tatsächlich kämpferisch wird. Es geht uns um eine Kritik an Solidaritätsarbeit, die verschweigt, wofür wir kämpfen.

PS: Wir würden gerne die Diskussionen in der INTERIM in Berlin und der ZECK in Hamburg führen, falls ihr keine Möglichkeiten habt diese zu erreichen schickt eure Beiträge zu folgender Email:

→ bedarf.solidarischerdiskussion@googlemail.com.

Wir werden die Briefkästen der INTERIM und ZECK dann damit füllen.


Anmerkungen

(1) vgl. www.freiheitfuermatti.com
(2) vgl. http://einstellung.so36.net/ und http://einstellung.so36.net/
(3) vgl. http://www.freilassung.de/prozess/thomas.htm
(4) vgl. http://www.akweb.de/ak_s/ak538/26.htm
(5) vgl. http://prozess.blogsport.de

Raute

REPRESSION

Versuch einiger Entwirrungen in Sachen Solidaritätsarbeit

DGSch

Kürzlich ist ein Papier der Gruppe Solidarischer Diskussionsbedarf (GSD) mit der Überschrift "'Hört auf zu heulen, es hat gerade erst angefangen...' - Irrungen und Wirrungen der Solidaritätsarbeit" veröffentlicht. Da ich mich selbst kritisch zur anfänglichen Soli-Arbeit in dem genannten Verfahren geäußert hatte, und es auch in diesem Papier noch mal kurz darum geht, ist es vielleicht ziemlich, wenn ich einige Gedanken zu dem GSD-Papier aufschreibe und zur Diskussion stelle.

Vorbehaltlos zuzustimmen ist den AutorInnen des Papiers, wenn sie vor Panikmache warnen:

"Wir denken, dass wir es nicht mit einer neuen, höheren Stufe der Repression zu tun haben. Verändert und erweitert haben sich die Mittel der Repressionsorgane, auch auf Grund der verbesserten technischen Möglichkeiten (...). Paragrafen wurden den veränderten Bedingungen angepasst (auch international) und neue Feindbilder geschaffen. Insgesamt gab es aber unserer Meinung nach in Deutschland nach 1968 Zeiten, in denen die Repressionsorgane viel stärker agiert haben als heute."

Und für die Zeit vor '68 gilt das erst recht. Die KommunistInnen-Verfolgung der 50er und 60er Jahre reichte viel weiter in die gewaltfreie Linke hinein als jede SympathisantInnen-Hetze im Rahmen der Anti'terror'politik der 70er und 80er Jahre - um von der Zeit des Nationalsozialismus und der Monarchie sowie einiger Phase der Weimarer Republik gar nicht erst zu reden.

Zu allem Weiteren möchte ich paar Differenzierungen vorschlagen:

Die Grenzen der Repression in parlamentarischen Staaten

Die GSD geht "von dem Grundsatz aus, dass wenn es Widerstand und Revolten gibt, der Staat mit all seinen Instrumenten darauf reagieren wird".(1)

Daran ist zunächst einmal wahr, daß sich in einem antagonistischen Konflikt keine Seite freiwillig besiegen lassen wird. Daß die Herrschenden in einem oder mehreren Ländern - wie im Realsozialismus 1989/90 - gewaltfrei abtreten, ist ziemlich unwahrscheinlich, und niemandE sollte seine politischen Strategien auf diese vagen Aussicht berechnen und alle anderen historischen Möglichkeiten außer Acht lassen. - Lenin definierte eine revolutionäre Situation bekanntlich anhand des Doppelkriteriums, daß die Herrschenden nicht mehr können und die Beherrschten nicht mehr wollen. 1989/90 waren die regierenden Parteien im Realsozialismus und auch die Angehörigen ihrer Repressionsapparate bereits theoretisch-ideologisch so ratlos und ohne so ziemlich jede Lösungsperspektive für ihre ökonomischen Probleme, daß sie zu einem großen Teil nicht nur 'nicht mehr konnten', sondern nicht einmal mehr wollten. Und auf der anderen Seite hatten die protestierenden BürgerInnen die geballte ökonomische und militärische Macht der Nato-/OECD-Staaten in ihrem Rücken. Daß die Herrschenden in den Nato/OECD-Staaten auf absehbare Zeit 'nicht mehr wollen' ist ausgeschlossen, und eine Umkehrung der militärischen Situation wäre ohnehin erst nach grundlegenden Veränderungen in einigen der führenden Nato/OECD-Staaten möglich.

Trotzdem übertreibt GSD, wenn sie schreibt, "dass wenn es Widerstand und Revolten gibt, der Staat mit all seinen Instrumenten darauf reagieren wird." Das ist eine Übertreibung und zwar auch als "Grundsatz" (der anscheinend auch laut GSD Ausnahmen kennt). Das würde zwar für einen faschistischen Staat gelten. Für parlamentarische und semi-parlamentarische Staaten (letztere mit Machtteilung zwischen Parlament, Staatspräsidenten und/oder Verfassungsgericht) gilt das nicht. Diese wissen sehr wohl zwischen bloßen Revolten oder gar nur Widerstand und Situation, wo der Fortgang der Geschichte auf des Messers Schneide steht, zu unterscheiden. Und auch in einer Situation auf des Messers Schneide wäre der Einsatz "all seine(r) Instrumente" nicht ohne qualitative Transformation von Struktur und Funktionsweise der Staatsapparate dieser Staaten möglich (auch in der Anfangszeit der Weimarer Republik, als es KPD-Aufstandsversuche gab, und auch in der Zeit der reichspräsidialen Diktatur Anfang der 30er Jahre wurde die KPD anders bekämpft als während der Nazi-Herrschaft) - sodass diese Staaten nach jener Transformation eben nicht mehr parlamentarische und semiparlamentarische Staaten wären.

Trotz allem 'verhältnismäßigen' Opportunismus im Umgang mit den Gesetzen dieser Staaten (der je nach Rechts- und politischer Kultur in diesen Staaten unterschiedlich stark ausfällt), bis hin zu extralegalen Tötungen von vermeintlichen oder tatsächlichen Guerillaangehörigen, bleibt die Repression in diesen Staaten prinzipiell begrenzt und soweit - bei allen Unterschieden von Land zu Land und Zeit zu Zeit - berechenbar. Und es läßt sich nicht einmal die lineare These aufstellen: Umso mehr Widerstand, umso mehr Repression. Gerade die besonders scharfe Repression kann sich als unwirksam oder (zumindest kurz- und mittelfristig) kontraproduktiv erweisen, und es findet ein Strategiewechsel von nur Peitsche zu Zuckerbrot und Peitsche statt. So läßt sich vielleicht die Veränderung der Politik des spanischen Staates in Euskadi vom Franquismus zum Postfranquismus beschreiben. Oder ein anderes Beispiel: Sicherlich war die IRA militärisch und politisch stärker als die RAF. Trotzdem konnten für die IRA-Gefangenen bessere Haftbedingungen durchgesetzt werden als für die RAF-Gefangenen.

Es gibt also keine lineare Gleichung: Mehr Widerstand bedeutet mehr Repression. Vielmehr entscheidet sich erst in der konkreten Konstellation, welche Strategie eingeschlagen wird. Es kommt darauf an, welche Einschätzungen und Strategien sich innerhalb der Herrschenden durchsetzen - und dies hängt wiederum unter anderem davon ab, wie sich das linksliberale(2), sozial- und grünreformistische Spektrum, das zwischen Herrschenden und linksradikalem und revolutionärem Widerstand steht, verhält.(3) Und letzteres läßt sich durchaus beeinflussen: Es hängt auch davon ab, ob Linksradikale und RevolutionärInnen überhaupt an Bündnissen und gemeinsamen Diskussionsprozessen mit ReformistInnen interessiert sind oder, ob sie sich dafür zu fein sind.

Solidarität mit anderen oder bloß eigene Unerschütterlichkeit?

Daran gemessen scheint mir auch folgende Aussage aus dem GSD-Papier falsch oder zumindest übertrieben zu sein:

"In einer Solidaritätskampagne muss es primär um die Fragen unseres Kampfes gehen, warum intervenieren wir an diesen Punkten und worin besteht die Notwendigkeit dieser Kämpfe? Es muss doch immer darum gehen, die kriminalisierten Themen aufzugreifen. Diese Kämpfe fortzuführen. Der Staat greift diese an, weil sie stören. Was gibt es besseres, als diese zu stärken und zu verbreitern?"

Die Fortsetzung dessen, was vor einem Repressionsschlag gemacht wurde, ist einfach die Fortsetzung dessen, was vorher war - und eben noch keine Soli-Kampagne. Die Etymologie gibt Euch zwar recht: Solidarität stammt - über verschiedene Zwischenschritte von lat. solidus = gediegen, echt; fest, unerschütterlich; ganz ab. Aber Solidarität meint halt doch inzwischen etwas ganz anderes, als einfach nur selbst unerschütterlich zu sein. Bei Solidarität geht es im modernen Sprachgebrauch, wie er sich vermutlich in der ArbeiterInnenbewegung herausgebildet hat, immer um Solidarität mit anderen: Wenn die Belegschaft eines Betriebes streikt, dort nicht anfangen als StreikbrecherInnen zu arbeiten; oder in einem Zulieferbetrieb ebenfalls zu streiken; nicht individuelle Vorteile aushandeln, sondern gemeinsam mit anderen etwas durchsetzen; internationale Solidarität und so weiter.

Entsprechend auch bei einer Soli-Kampagne: Ein staatlicher Repressionsschlag bedeutet eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse: Die Betroffenen werden geschwächt (und der Staat dadurch relativ gestärkt). Wenn diese Situation wieder verändert oder sogar umgekehrt werden soll, reicht es nicht aus, einfach mit den verbliebenen - nun: schwächeren - Kräfte das weiterzumachen, was vorher passierte.

Von Solidarität (im modernen Sinne) kann erst gesprochen werden, wenn sich auch Leute verhalten, die mit dem, was staatlicherseits verfolgt wird, nichts zu tun hatten - sei es weil sie (mangels Relevanz) nicht einmal etwas davon mitbekommen hatten, sei es, dass sie zwar davon gehört haben, aber dazu sogar inhaltliche und strategische Differenzen haben.

Und insofern ist dann auch dieser Satz zu einfach: "Wenn Menschen innerhalb unserer Kämpfe verhaftet werden und in den Knast kommen, wenn sie mit Verfahren überzogen werden, dann muss die Bewegung solidarisch reagieren."

Entweder ist mit "die Bewegung" immer nur das engste Umfeld der Betroffenen gemeint, dann handelt es sich aber nicht um Solidarität, sondern um Selbstverteidigung (gegen die staatliche Repression) und Weitermachen dessen, was vorher schon gemacht wurde.

Oder der Ausdruck "die Bewegung" ist schon breiter zu verstehen. Dann ist aber Solidarität nicht eine so selbstverständliche Sache, die einfach 'erwartet' werden kann, wie es aber Euer "muss" ausdrückt: "Dann muss die Bewegung solidarisch reagieren."

"Die Bewegung" muß überhaupt nichts - außer sich vielleicht entscheiden, ob sie solidarisch ist oder nicht. Und selbst diese Entscheidung kann auch noch ausfallen, weil es gar keine verbindlichen Entscheidungsstrukturen gibt und die einzelnen Gruppen und Leute sich vor einer bewußten Entscheidung herumdrücken.

Also: Eine Soli-Kampagne kann nicht nur darin bestehen, selbst das weiterzumachen, was man/frau/lesbe schon vorher gemacht hat, (und zusätzlich die von der GSD angesprochene konkrete Unterstützung für Gefangene Organisierung von Geld, Büchern, Klamotten und so weiter.]). Und noch weniger kann erwartet werden, irgendwelche Leute müßten sich der eigenen Praxis anschließen oder sie nachmachen, weil es staatliche Repression gibt. Im Extremfall: Weil es den Gefangenen aus der RAF im Knast schlecht geht, muß Du jetzt die nächste Generation der Guerilla aufbauen. Nein, es muß auch möglich sein, die Frage zu stellen und auch sie negativ zu beantworten: "War das, was da vom Staat verfolgt wird, wirklich ein gutes Projekt, das die Linke voranbringt?" - und trotzdem solidarisch zu sein: Sei es weil man/frau/lesbe der Ansicht ist, dass der Staat die falschen Leute aus dem breiten und diffusen Spektrum der Linken herausgefischt hat; sei es, weil einem/einer auch ein etwas verunglücktes linkes Projekt immer noch lieber ist als die existierende Ordnung von Herrschaft und Ausbeutung.

Wirklich schwierig wird es erst bei Leuten, die sich die staatliche Perspektive zu eigen machen: Die von "Überreaktion" sprechen, mehr "Augenmaß" und eine "integrative" Politik fordern - also sich eher als wohlmeinende BeraterInnen denn als KritikerInnen des Staates verstehen. Mit diesen Kräften werden zwar kaum wirkliche Bündnisse möglich sein; aber auch mit denen kann Informationsaustausch und Koordination (Terminabsprachen und ähnliches) notwendig und sinnvoll sein.

Das Beispiel mg-Verfahren

Das Problem in der ersten Phase der Soli-Arbeit zu dem mg-Verfahren war meines Erachtens nicht, dass da Leute in drastischen Worten erklärt haben, dass sie die mg-Politik schlecht finden. Wer/welche die Sache anders sieht, oder zumindest weniger drastische Worte bevorzugt, kann und soll das sagen. Beides muß im Rahmen von Soli-Kampagnen möglich sein; das kann die politische Diskussion in der Linken nur voranbringen.

Problematisch war vielmehr,

• dass praktisch nur sehr grobe Kritiken an der mg zu hören waren - und anderes kaum. Aber da müssen sich vor allem diejenigen an die eigene Nase fassen, die geschwiegen haben, nicht versucht haben, ihre Vorstellungen in die Bündnisstruktur einzubringen und notfalls eigene parallel aufzubauen und zu gucken, wie sich beide Strukturen koordinieren lassen.

• und dass sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt, bevor es auch nur eine einzige öffentliche Erklärung eines einzigen Beschuldigten gab, in der Soli-Arbeit auf mehr oder minder - 'definitiv unschuldig' festgelegt und dafür sogar Indizien verschwiegen wurden, die zumindest den AnwältInnen bekannt gewesen sein mußten (anstatt die vorhandenen Indizien ernst zu nehmen und in ihrem Beweiswert kritisch zu würdigen). (Das hätte ja im übrigen auch für diejenigen, die sich soweit für Unschuld aus dem Fenster gehängt hatten, schief gehen können wenn sich nämlich die oder ein Teil der Beschuldigten zu einer mg-Mitgliedschaft bekannt hätten.)

Und keine Grundlage für linke Soli-Arbeit konnte die Erklärung von Prof. Häußermann unter anderen sein, die sich darauf beschränkte, die Einstellung der "Ermittlungen gegen Dr. Andrej H." zu fordern (eine Forderung, die im übrigen immer noch nicht erfüllt wurde). Aber das war ja auch nie die Linie des Einstellungsbündnisses - auch nicht in der problematischen Frühphase dessen Arbeit.

Zum Verhältnis von politischer und juristischer Argumentation

Die GSD schreibt: "Wir denken, dass die Frage nach Schuld oder Unschuld in unseren Kreisen nichts zu suchen hat. Bei allen Diskussionen zu Solidaritätsarbeit für Gefangene wird sie dennoch immer fix gestellt. Folgen wir damit nicht einer Rechtsstaatslogik, die wir eigentlich ablehnen?"

Nur am Rande sei bemerkt, dass der rhetorischen Frage am Ende ein etwas naives Rechtsstaats-Verständnis zugrunde zu liegen scheint. Der Rechtsstaat ist nämlich nicht der Staat des demokratischen Gesetzes und der Geltung von Justizgrundrechten wie in dubio pro reo (im Zweifel für den Angeklagten), sondern der Rechtsstaat ist der Staat, der verpflichtet ist, eine "funktionstüchtige Strafrechtspflege" aufrechtzuerhalten (Bundesverfassungsgericht) (4).

Wichtiger scheint mir im vorliegenden Zusammenhang, zwei Dinge klar zu unterscheiden: Die Frage, ob Leute das, was ihnen vorgeworfen wird, tatsächlich gemacht haben, und die Frage, wie das, was da verhandelt wird, politisch bewertet wird. Von keinem und keiner kann erwartet werden, sich für Dinge verurteilen zu lassen, die er/sie nicht gemacht hat. (5) Es ist problemlos möglich, zu sagen: "Ich war's nicht. Aber ich wär's gerne gewesen." Beispielsweise an einer solchen Prozeßerklärung oder an einer Soli-Kampagne auf dieser Grundlage (wenn es denn die Beschuldigten so erklären), wäre in meinen Augen nicht das Geringste auszusetzen.

Selbst das Ansprechen politischer Bedenken gegen die vorgeworfene Aktion wäre meines Erachtens vertretbar (auch wenn eine solche Äußerung angesichts einer staatlichen Repressionsdrohung einen opportunistischen touch hätte und in ihrer Glaubwürdigkeit etwas in Frage gestellt wäre) - wenn denn die oben angesprochene Grenze nicht überschritten wird, die Widersprüche innerhalb der Linken nicht mit den Widersprüchen zwischen der Linken und dem Staat zu verwechseln.

Umgekehrt kann sich aber politische Solidarität auch nicht auf Fälle juristischer Unschuld oder juristischer Schuldzweifel beschränken. Kritik an staatlicher Repression ist auch möglich, wenn sich die Beschuldigten zu einer Organisationsmitgliedschaft (wie dies die RAF-Mitglieder praktiziert hatten und wie es die mg für ihre Mitglieder angekündigt hat) oder sogar zu konkret angeklagte Taten bekennen.

Zum Problem von Altverfahren

Noch einmal ein ganz anderes Problem sind Verfahren gegen ehemalige Mitglieder von Organisationen, die es längst nicht mehr gibt. Die GSD nennt drei Beispiele:

"2002 gab es einiges Entsetzen bezüglich der Verfahren gegen die Revolutionären Zellen. Auf eine offensive Verteidigung der Politik der RZ wurde im Prozess verzichtet. Von fünf Personen, die als Mitglieder der RZ beschuldigt wurden machten drei Einlassungen mit einem begrenzten Schuldeingeständnis, um mit einem blauen Auge wegzukommen. Einen Gegenpol bildeten einzig einige sehr gut besuchte Veranstaltungen zu Geschichte und Kämpfen der RZ. 2009 ein weiteres Trauerspiel: Thomas K. bekam zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Verteidigung, Gericht und Bundesanwaltschaft hatten in einem Deal zuvor ausgehandelt, dass wenn er in einer Einlassung zugibt Mitglied der RZ gewesen zu sein und gewisse Aufgaben übernommen zu haben, der Vorwurf der Rädelsführerschaft fallengelassen wird, für die das Gesetz immer Knast vorschreibt.

Wie kann es sein, dass Menschen militante Politik machen, Knast riskieren und dann 18 Jahre später so einknicken vorm Staat? Anna und Arthur gehen mal kurz einen anderen Weg - den individuell egoistischen?

Glücklicherweise können wir auch hier ein positives und offensives Gegenbeispiel nennen.

Seit Februar 2009 droht Sonja S. (76) und Christian G. (67), von den französischen Behörden an die Bundesrepublik ausgeliefert zu werden. Beide wurden seit 1978 als Mitglieder der RZ gesucht. Im Gegensatz zu den oben genannten RZ-Angeklagten lehnen beide einen Deal ab. Für sie wird es vermutlich nicht so glimpflich ablaufen. Fehlende Reue und mangelnde Kooperationsbereitschaft müssen vom Staat bestraft werden, weil es sonst keine Deals beziehungsweise keine Abschreckung mehr gäbe.

Es könnte im Interesse und der Verantwortung der Antira- und Anti-AKW-Bewegung und so oder so der gesamten Bewegung liegen, sich angesichts der Anklagepunkte einzumischen.

So ehrenwert die Haltung von Sonja und Christian ist: Politische Einstellungen ändern sich hält, Organisationen lösen sich und so weiter. Wieso sollen Leute da nicht versuchen, mit einem blauen Auge davon zukommen? Wie könnte erwartet werden, dass andere Beschuldigte heute eine Politik verteidigen, die sie vielleicht schon seit 15 Jahren oder länger für ganz oder teilweise falsch halten. Mehr als andere Leute nicht zu belasten kann in solch einer Situation nicht erwartet werden.

AnwältInnen und Beschuldigte

In dem GSD-Papier heißt es:

"An diesem Punkt stellt uns die Zusammenarbeit mit Rechtsanwält_innen immer wieder vor Probleme: Deren Interesse für ihre Mandant_innen (geringere Haftzeit, geringere Bestrafung) steht oft im Widerspruch zur politischen Identität der Beschuldigten. Ein schlauer Deal mit dem Gericht erspart manche Strafe; aber welchen Preis muss mensch dafür zahlen? Das muss nicht 'böse' gemeint sein, es entspricht eben ihrer zugewiesenen Rolle im Justizapparat. Das Argument, das sagt, wenn ich mich im Prozess oder im Knast offensiv verhalte, dann sitze ich länger und deswegen tue ich nichts auf dieser Ebene, weil ich draußen mehr machen kann und dies kein Feld der Auseinandersetzung sein kann - ist die zentrale vermeintliche Antwort auf dieses Problem. Die Parole lautet: Bälle flach und Füße still halten, eine nicht selten vertretene Haltung von Rechtsanwält_innen."

Die Beschuldigten kommen in dieser Beschreibung nur als diejenigen vor, die die anwaltliche Position nachvollziehen und sich zu eigen machen. Das scheint mir nicht realistisch zu sein: "geringere Haftzeit, geringere Bestrafung" sind ja nicht nur das "Interesse [der AnwältInnen] für ihre Mandant_innen", die von selbst gar nicht auf die Idee kommen würde, sondern das ist ja durchaus ein Interesse der Beschuldigten selbst. Was die GSD beschreibt ("Deren Interesse für ihre Mandant_innen (geringere Haftzeit, geringere Bestrafung) steht oft im Widerspruch zur politischen Identität der Beschuldigten") ist kein Widerspruch, der nur zwischen AnwältInnen und Beschuldigten verläuft, sondern der sicherlich mitten durch die meisten (zurecht) Beschuldigten selbst verläuft.

Daher ist dann auch diese Kritik zumindest zu einseitig:

"Sich für Freigang und eine Haftentlassung nach Zwei Dritteln der Freiheitsstrafe einzusetzen, wie es die Christian S. Soligruppe tut ist menschlich verständlich, es ist aber keine kämpferische Haltung, die verdeutlicht, worum es in unseren Kämpfen geht."

Es wird sich ja niemandE für eine Zwei-Drittel-Entlassung einsetzen, wenn der/die Gefangene sie nicht beantragt.

Was hat die GSD an der von ihr kritisierten Haltung auszusetzen? Was schlägt sie statt dessen vor?

"Wir denken, dies ist zu kurz gedacht. Okay, ich komme raus auf drei, vier, fünf Jahre Bewährung und muss mich dann an bestimmte vom Staat vorgegebene Regeln hatten, sonst gibt es den Bewährungswiderruf, und ich gehe zurück in den Knast. Ich stelle Anträge auf Freigang, weil es beschissen ist im Knast und so wenige andere gefangene Menschen kämpfen, ich bin allein und kann draußen viel mehr machen. Stimmt das? Machen wir mehr, wenn wir die ganze Zeit den Hammer eines Bewährungswiderrufs über uns haben? Kann es für das eigene Rückgrat gesünder sein, auf vorzeitige Haftentlassung zu verzichten? Ist wirklich alles besser als Knast? Knast ist ein Kampfgebiet, der Prozesssaal ist ein Kampfgebiet, wie die entfremdete Arbeit, wie der tote sinnentleerte Alltag, den uns dieses System bietet."

Das scheinen mir bestenfalls vage Kampfperspektiven zu sein: Klar sein dürfte, dass organisierte Politik draußen immer effektiver ist als in der Regel vereinzelte Politik im Knast. Und was ist eigentlich mit "Knast ist ein Kampfgebiet" gemeint?

• Geht es um Agitation von Mitgefangenen? Welche Grundlagen dafür gibt es zur Zeit? (Wie) wurden frühere Versuche in diese Richtung ausgewertet? Wurde auch nur der - ziemlich ernüchternde - Erfahrungsbericht eines der Beschuldigten aus dem mg-Verfahren zur Kenntnis genommen? Da es den Bericht insoweit wohl nur mündlich bei einer Veranstaltung gab, fasse ich das mal, soweit ich mich nach rund eineinhalb Jahren noch dran erinnere, in etwa in meinen Worten zusammen:

Am besten hältst Du Dich von den Knaststrukturen mit ihren Hierarchien zwischen den Gefangenen und den - teils zu Überwachungszwecken bewußt, teils auch nur aufgrund von Korruption geduldeten - Handy- und Drogenschmuggeleien fern und versuchst nach Möglichkeit bei keinem der Mitgefangenen anzuecken. Wer/welche dennoch meint, der Knast sei heute ein aussichtsreiches politisches Interventionsfeld, sollte dafür zumindest ein paar Argumente und Vorschläge, wie's praktisch laufen soll, vorbringen.

• Oder geht es um Auseinandersetzungen mit dem Wachpersonal? Dann würde ich sagen: Nichts ist sinnloser, als Kämpfe in einer Situation nahezu vollständiger Unterlegenheit anzufangen. Das schwächt nur die eigenen Kräfte. Und ein Ego, das solche Haltungsgesten braucht, sollte sich an der Fähigkeit zur realistischen Analyse von Kräfteverhältnissen und dem effektiven Einsatz der eigenen Kräfte aufbauen statt sich in symbolische Auseinandersetzung zu werfen.

Da linke politische Praxis keine religiöse Veranstaltung ist, brauchst sie nichts weniger als Märtyrer (6), so würde ich die entsprechende Frage der GSD beantworten:

"Wie soll eine Kampagne zu ,Schuldigen' funktionieren oder wenn die Gefangenen sich nicht in diese Kategorien pressen lassen wollen? Sind sie dann Märtyrer? Oder wie sieht es aus?"

Das GSD-Papier endet dann wie folgt:

"Wir wünschen uns an dieser Stelle eine Diskussion um die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten und Solidarität, die es im Knast, außerhalb des Knastes und vor Gericht geben kann. (...). Es geht uns um eine Debatte, wie unsere Solidarität tatsächlich kämpferisch wird. Es geht uns um eine Kritik an Solidaritätsarbeit, die verschweigt, wofür wir kämpfen."

Dem sei sich hier angeschlossen.


Anmerkungen

(1) Nachdem Zitat geht es in dem GSD-Text wie folgt weiter: "Und es kann nicht sein, dass wir heulen, wenn der Staat unsere Statements ernst nimmt und sicherlich oft viel ernster als die meisten Akteur_innen, die sie formulieren. Widerstand und Revolution ist kein Spielplatz, auf dem wir unsere Energien ausleben können und uns dann wundern wenn es weh tut. Wenn mit Parolen und Praxen kokettiert wird, wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind, dass der Staat auf militante Demonstrationen, auf klandestine Organisierung mit einem Gegenangriff reagiert, dann sollten wir diese Praxen sein lassen. (...). Gruppen organisieren Demos, zum Beispiel das 1. Mai-Bündnis. Die Mobilisierung über Plakate und andere Medien 'verspricht' Riots und zielt auf soziale Unruhen. Für uns gehört in diesem Moment auch dazu, vorher über Repression aufzuklären, nicht um abzuschrecken, sondern um selbstbewusst handeln zu können. Kommt es dann zu Ansätzen der propagierten Unruhen, in deren Folge Leute einfahren oder mit Verfahren überzogen werden, halten sich dieselben Gruppen zurück oder verhalten sich im schlimmsten Fall überhaupt nicht. Uns stört dieses unsolidarische Verhalten auch bei einigen Antifa-Gruppen, die mit radikalen Plakaten zu Gegenaktivitäten zum nächsten Nazi-Aufmarsch aufrufen, und dann die Schnauze halten, wenn es hart auf hart kommt; Genoss_innen dafür einfahren. Hier sehen wir einen Widerspruch, denn zu radikaler Selbstdarstellung und militantem Agieren gehört auch ein offensives Verhalten, wenn es zu Repression kommt."

Dem sei weitgehend zugestimmt. Ergänzend sei angemerkt: Besonders absurd wird es, wenn erst (verbal-)radikale Erklärungen abgegeben werden, und anschließend den Bullen die Schuld gegeben wird. Letztes ist zwar in dem Sinne eine Allerwelts-Weisheit, daß es ohne Herrschaft und Ausbeutung keinen Widerstand gäbe. In dem konkreten Kontext bedeutet eine solche Schuldzuweisung an die Polizei ja aber: 'Wenn sich die Polizei mehr zurückgehalten hätte, wäre es friedlich geblieben.' Dies ist aber absurd, wenn vorher angekündigt wurde, daß es militant zugehen soll. Wer/welche tatsächlich meint, daß es in einer bestimmten Situation militant zugehen solle, sollte sich im Erfolgsfalle auch zu seiner/ihrer 'glücklichen Schuld' (zwar nicht individuell, aber als politische Situationsanalyse) bekennen, und anschließend erklären, warum es (angeblich) gut und richtig gelaufen ist, statt sich zum bloß reaktiven Opfer-Schaf zu stilisieren.

(2) Das linksliberale Spektrum scheint heute zumindest viel schwächer als in den 70er und 80er Jahren zu sein, was allerdings auch damit zu tun hat, daß es sich - aufgrund der Rechtsentwicklung der FDP organisatorisch in SPD und Grüne verlagert hat. Gleichzeitig sind die Grünen und deren Vorläufer-Spektrum der 70er Jahre - ich schreibe keine Neuigkeit - gegenüber den 70er und 80er Jahren weit nach rechts gerutscht. Dies dürfte die im vorliegenden Zusammenhang v.a. wichtige Konstellationsveränderung für linksradikale und kommunistische Politik sein.

(3) Auch dieser Satz aus dem GSD-Papier ist daher viel zu pauschal.

(4) Vgl. dazu meine Analyse unter: http://userpage.fu-berlin.de/~dgsch/docs/StaR-P_w_2_Ueb_zumF-Stand.pdf , S. 68-71.

(5) Das einzige Argument, was sich dagegen vorbringen ließe, wird von der GSD gar nicht erst vorgebracht: Selbstentlastenden Aussagen können die Ermittlungsbehörden nutzen, um im Wege des Ausschlußverfahrens den Kreis der als TäterInnen in Betracht kommenden Personen einzugrenzen. Damit wäre auch die Aussage, die lediglich die Anklage abstreitet, und dies anwaltlich durch Beweisanträge untermauern läßt, eine objektive Entsolidarisierung von den tatsächlichen TäterInnen. Sich hier zurückzunehmen, setzt allerdings ein hohes Maß an Übereinstimmung mit der vorgeworfenen Tat voraus. Das funktioniert vielleicht noch innerhalb der eigenen Kleingruppe - bezogen auf die Szene als Ganzes mit ihren völlig unterschiedlichen Kriterien von Militanz ist das ausgeschlossen. Welche Person mit halbwegs vernünftigen politischen Positionen sollte sich bspw. für Steinwürfe aus der zehnten Demo-Reihe, die dann auch noch PassantInnen treffen, verurteilen lassen wollen? Oder weil die Person zufällig an einem brennenden Mittelklassewagen vorbeikommt?

Wer/welche es Leuten in solchen Fällen verwehren will, die TäterInnenschaft abzustreiten und das als 'Opportunismus' oder 'deal' denunziert, macht zwei gleichermaßen unrealistische Voraussetzungen: 1. in der Szene würden nur sinnvolle Aktionen durchgeführt. Und 2.: Letztlich ermittele die Polizei doch so gut, daß sie immer die wahren TäterInnen finde und nie die Falschen anklage. (Ein wiederum anderes Thema ist, wenn ein solches Abstreiten der TäterInnenschaft nicht transparent in der Öffentlichkeit stattfindet, sondern in irgendwelchen Hinterzimmern ausgemauschelt wird.)

(6) Vgl. Duden - Das Herkunftswörterbuch, 3. Aufl. Mannheim 2001 [CD-ROM], s.b. Marter: "'Qual, Folter, Peinigung': Das dem frühchristlichen Wortschatz entstammende Substantiv (mhd. marter[e] 'Blutzeugnis, Leiden Christi; Qual, Folter', ahd. martira, martara) ist aus kirchenlat. martyrium 'Zeugnis; Blutzeugnis für die Wahrheit der christlichen Religion' entlehnt (beachte dazu das Fremdwort Martyrium 'Opfertod, schweres Leiden; Folterqual'), das seinerseits aus griech. martyrion 'Zeugnis' übernommen ist. Stammwort ist griech. mártys (dialektische Nebenform: mártyr) 'Zeuge; Blutzeuge' (ursprünglich wohl abstrakt: 'Erinnerung; Zeugnis'), das mit lat. memor 'eingedenk, sich erinnernd' etymologisch verwandt ist (vgl. memorieren). Dazu: Märtyrer 'Blutzeuge (besonders des christlichen Glaubens); wegen seiner Überzeugung Verfolgter'".

Erstens benötigt die Linke nicht diese Blutmystik, die meint die eigene Überzeugung mit dem eigenen Blut glaubhaft machen zu müssen (darum geht es im Kontext von Zeuge und Zeugnis), auch wenn sich diese Ebene des Kampfes manchmal nicht vermeiden läßt. Zweitens steht linke Programmatik nicht so über den sich für sie Engagierenden wie Gott über den Gläubigen, dem sie sich durch ihren Märtyrertod opfern oder dessen gläubige Anerkennung sie durch ihre Opferung blutig beweisen wollen.

Drittens schließlich geht es ja nicht nur um Überzeugungen und Leute, die wegen ihrer Überzeugung verfolgt werden, sondern - wenn ich GSD richtig verstehe -, die tatsächlich etwas gemacht haben und es eben nicht bei einer bloßen "Überzeugung" beließen.

Raute

REPRESSION

Isolation der § 129b-Gefangenen verschärft

Schikanen gegen die Solibewegung

Carsten Ondreka

"Das ist weiße Folter, mit dem Ziel uns zu zermürben" schreibt Faruk Ereren, ein türkischer § 129b-Gefangener gegen den zur Zeit vor dem OLG in Düsseldorf prozessiert wird, im September aus dem Knast heraus an einen Bekannten. Dies war die Reaktion auf die Ablehnung eines Besuchsantrags, den eine Frau aus der Prozessbeobachtungsgruppe gestellt hatte. Insgesamt sind mindestens drei Anträge auf einen Gefängnisbesuch bei ihm abgewiesen worden.

Faruk Ereren, der schon in der Türkei nach der Zeit des letzten Militärputschs jahrelang im Gefängnis saß, gefoltert und mit Scheinhinrichtungen bedroht wurde und seit dieser Zeit nachwirkende psychische Folgeschäden mit sich herumschleppt, ist seit längerer Zeit fast vollständig von der Welt außerhalb seiner Gefängniszelle abgeschnitten. Seit Monaten hat er nur mit seinem Anwalt und wenigen nahen Verwandten sprechen können. Er ist ansonsten 23 Stunden am Tag isoliert. "Ich bin zur Zeit ganz allein auf meiner Zelle. Der Inhaftierte, mit dem ich pro Woche zweimal zwei Stunden zusammen sein konnte, ist verlegt worden. Ich habe deshalb Umschluss mit einem anderen Genossen beantragt, aber das Gericht hat darüber noch nicht entschieden. Darum bin ich jetzt seit zwei Monaten allein", schreibt er weiter. Der regelmäßige Umschluss war ein Zugeständnis, dass seiner gesundheitlichen Situation geschuldet war. Nun scheint diese notwendige Erleichterung das Gericht nicht mehr zu interessieren.

Die Isolation wird noch dadurch verschärft, dass Briefe von solidarischen Freunden wie dem türkischen Tayad-Vorstand und Rechtsanwalt Behic Asci angehalten werden. Auch von ihm verfaßte Briefe wurden schon beschlagnahmt. Die Summierung all dieser Repressionsmaßnahmen lassen für ihn denn auch nur den Schluß zu, dass es sich im Gesamten um ein "umfangreiches Isolationsprogramm" handelt.

Mit kleineren individuellen Abweichungen sind die Bedingungen für die anderen linken türkischen § 129b-Gefangenen identisch. Auch Nurhan Erdem, Cengiz Oban und Ahmet Istanbullu sitzen unter Isolationhaftbedingungen. Ihnen wird ebenfalls die Mitgliedschaft und Unterstützung der DHKP-C vorgeworfen. Ihr Prozess wird demnächst ebenfalls vor dem OLG Düsseldorf beginnen. Nurhan Erdem und Cengiz Oban wurde wie Faruk Ereren der Besuch von solidarischen Freunden verwehrt. Bisher können sie nur zwei Verwandte besuchen.

Menschen, die Prozesse besuchen und/oder Informationsarbeit zu den Verfahren betreiben, geraten sofort unter den Verdacht der "konspirativen Verbindung mit Führungskadern der DHKP-C". Mit solchen und ähnlich einfachen Begründungen verhinderte die Bundesanwaltschaft in mehreren Fällen Besuche bei den § 129b-Gefangenen. Es bestehe die Gefahr der verdeckten Nachrichtenübermittlung durch die Besucher. Die Redaktion des "Gefangenen Info" weiss zumindest von zwei Mitgliedern aus Solidaritätszusammenhängen, deren Besuchsanträge bei § 129b-Gefangenen abgelehnt wurden. Der Generalbundesanwalt, der für die Anträge zuständig ist, begründet diese Ablehnungen mit dem Hinweis auf die Verbindung der Antragsteller/-innen zu türkischen Genossen/-innen und der Mitarbeit in Antirepressionsgruppen, die nicht rein deutsch besetzt sind.

Die Tatsache, daß es zu den § 129b-Prozessen eine kritische Öffentlichkeit gibt, scheint die Bundesanwaltschaft und das Oberlandesgericht in Düsseldorf in besonderer Art und Weise zu irritieren. Das zeigte sich schon beim martialischen Polizeieinsatz am ersten Verhandlungstag, bei dem mehrere Prozeßbeobachter verletzt wurden. Mittlerweile geht das Gericht auch gegen Print- und Onlinemedien vor. In den letzten Wochen trudelten beim Online-Infoportal "Scharf-Links" sowie dem "Gefangenen Info" Verleumdungsklagen ein. Diese werden durch eine falsche Tatsachenbehauptung in einem Bericht der Prozessbeobachtungsgruppe begründet. In einer Pressemitteilung Ortsgruppe Mönchengladbach-Düsseldorf der Roten Hilfe e.V. wird behauptet, dass der Vorsitzende Richter Klein die Sommerpause mutwillig verlängert hatte, um den damals in Beugehaft sitzenden blinden Nuri Eryüksel länger schmoren zu lassen. Diese Anschuldigung weist das Gericht zurück und kann dies wohl auch belegen.

Ungeachtet dieser wohl nachweislich falschen Tatsachenbehauptung ist es doch eher unüblich, gleich mit einer Verleumdungsklage zu reagieren. Die presserechtlich Verantwortliche von "Scharf-Links" betonte auf Nachfrage, dass der übliche Weg des Gerichts eigentlich darin hätte bestehen müssen, eine Gegendarstellung einzufordern oder eine kostenpflichtige Unterlassungsklage anzustrengen. Beides sei nicht geschehen. Im Gegenteil: Die "Scharf-Links"-Verantwortliche war ohne Angabe von Gründen zum Staatsschutz vorgeladen worden. Dort wurde ihr der Sachverhalt erklärt. Nach ihrem Eindruck soll durch das martialische Auftreten der Justiz die interessierte Öffentlichkeit, zu der auch Online- und Printmedien gehören, eingeschüchtert und kriminalisiert werden. Es sei kaum abzusehen, welche Folge dies für die weitere Berichterstattung von § 129a- und b-Prozessen hat.

Als Redakteurin und presserechtlich Verantwortliche sieht sie eine Tendenz in Richtung Zensur unliebsamer Medienberichterstattung. Ähnlich äußerte sich auch Wolfgang Lettow von der Redaktion des "Gefangenen Info", dem bisher keine Akteneinsicht gewährt wurde. Deshalb konnte die Redaktion nur bestätigen, dass es sich bei dem inkriminierten Artikel um denselben dreht wie bei "Scharf-Links". Er muß davon ausgegangen werden, dass es sich auch um die gleiche Passage im Text handelt. Auch weil diese Passage in einer im "Mauerfall", einem seit zwei Jahren existierenden Plattformmedium für Gefangene, abgedruckten Pressemitteilung vor der Weitergabe an Faruk Ereren zensiert wurde.

Für den Vorsitzenden Richter Klein scheinen dieser kleine Fehler sowie jede ungebührliche Regung des beobachtenden Publikums Anlaß genug für Einschüchterungsversuche gegenüber der kritischen Öffentlichkeit um so jede Stimme verstummen zu lassen, die sich solidarisch mit den Angeklagten zeigt. Da aber ein Ausschluß der Öffentlichkeit in einem nach außen bekundeten "demokratischen Rechtsstaat" nicht vorgesehen ist, müssen das Oberlandesgericht Düsseldorf, die Bundesanwaltschaft und auch der Staatsschutz damit leben, dass auch unliebsame Wahrheiten aus dem Prozess nach außen dringen. Wie zum Beispiel die Tatsache, daß der größte Teil des Belastungsmaterials gegen Faruk Ereren, wie auch gegen die anderen Angeklagten in den verschiedenen § 129b-Verfahren gegen türkische Linke in Deutschland, auf Materialien und Aussagen von V-Leuten des deutschen und türkischen Staatsschutzes basieren. Dazu gehören auch Foltergeständnisse aus der Türkei. Dabei dürfen nach geltender Rechtslage keine unter Folter herbeigeführten Aussagen in deutsche Strafverfahren einfließen.

Am bisher letzten Verhandlungstag kündigte das Gericht an, beim nächsten Gerichtstermin gegen Faruk Ereren Ende Oktober einen eigenen Vorschlag zur Abkürzung des Verfahrens zu machen. Dies kann darauf hinauslaufen, dass dem Angeklagten, ähnlich wie im Stammheimer § 129b-Prozess, ein Teilgeständnis nahegelegt wird. Auf was der Vorschlag des OLG Düsseldorf letztendlich hinausläuft wird sich zeigen. Festzustellen bleibt, dass die deutsche Justiz so wie im Stammheimer Prozess versucht, die im Vorfeld schon traumatisierten oder anderweitig erkrankten türkischen Gefangenen durch ständige Schikanen und Isolationshaftbedingungen mürbe zu machen.


*


Die Nächsten bitte: Neue § 129b-Anklagen gegen türkische Linke.

Carsten Ondreka

Die Bundesanwaltschaft hat am 6. Oktober vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf Anklage gegen den 40 Jahre alten Ahmet Istanbullu und den 36 Jahre alten Cengiz Oban wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz (§ 129a Abs. 1, § 129b Abs. 1 StGB, § 34 Abs. 4 AWG) erhoben. Cengiz Oban wurde zusammen mit Ahmet Istanbullu und Nurhan Erdem am 5. November 2008 unter dem Vorwurf verhaftet, Mitglied der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) zu sein. Konkret wird ihre Tätigkeit in der Anatolischen Föderation e.V. zum Anlaß genommen, sie zu kriminalisieren und wegzusperren. Dieser eingetragene Verein organisiert türkischen Migranten/-innen über kulturelle Aktivitäten und Tätigkeiten wie Veranstaltungen, Demonstrationen und Presseerklärungen. Dabei geht es dem Verein beispielsweise darum, türkische Menschen hier über die Agenda 2010 und die Ausländergesetze informieren. Darüber hinaus organisieren sie auch die Solidarität mit § 129b-Kriminalisierten.

Laut Bundesanwaltschaft (BAW) sind die Angeschuldigten hinreichend verdächtig, seit Inkrafttreten des § 129b am 30. August 2002 als hochrangige Führungsfunktionäre der "Rückfront" der DHKP-C in Europa Mitglieder der terroristischen Vereinigung zu sein, die innerhalb der Organisation in der Türkei besteht. Als solche sollen sie sich bereits seit Mai 2002 bis zu ihrer Festnahme an Maßnahmen beteiligt haben, deren Zweck es war, der von der EU als terroristische Vereinigung gelisteten DHKP-C Gelder, sonstige finanzielle Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Gegen Nurhan Erdem, die mit den beiden anderen zusammen verhaftet wurde, wird nach Aussage der BAW weiter ermittelt. Alle drei sitzen unter Isolationshaftbedingungen in Bochum beziehungsweise Köln-Ossendorf.

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REPRESSION

Interview mit Ellen von der Prozessbeobachtungsgruppe

Carsten Ondreka

Die Solidaritätsbewegung mit den politischen Gefangenen ist immer wieder Repressionen ausgesetzt. Diese Repression betrifft im Moment wieder Menschen, die sich zur Kriminalisierung türkischer Linker durch den § 129b verhalten und sie im Knast besuchen wollen. Dass es dabei nicht bei der Ablehnung von Besuchsanträgen bleibt, zeigt das folgende Interview mit Ellen von der Prozessbeobachtungsgruppe Düsseldorf, die direkt von Staatschützern angegangen wurde.


Carsten: Am 31. August hast du mit anderen Freunden zusammen vor dem türkischen Generalkonsulat in Düsseldorf spontan eine Mahnwache für die Freilassung von Güler Zere veranstaltet. Dort bist du gezielt vom Staatsschutz angesprochen worden. Kannst du nochmal sagen, wie das abgelaufen ist?

Ellen: Aufgrund der sich weiter verschlechternden Situation der krebskranken türkischen politischen Gefangenen Güler Zere entschlossen wir uns zu einer Mahnwache vor dem türkischen Generalkonsulat in Düsseldorf. Nur drei Minuten nachdem wir uns aufgestellt hatten, tauchte der Staatsschutz auf. Nach einem verbalen Geplänkel wurde mir von einen Staatsschützer mitgeteilt, dass sie "nicht mehr meine Freunde" wären. Auf meine Erwiderung hin, dass ich sie nicht kenne, sagte einer von ihnen wortwörtlich: "Aber wir kennen Sie und verschiedene Aktionen, bei denen Sie waren. Wenn Sie uns nicht vor Ihren Aktionen informieren, können wir Sie auch nicht schützen!"

Das klingt ziemlich bedrohlich. Wie hat das Vorgehen der Staatsschützer auf dich gewirkt?

Bedrohlich für mich war die Erkenntnis, dass es beim Staatsschutz Leute gibt, die mir sagen können, wann ich wo bei welcher Aktion war und sich im selben Atemzug als meine "Freunde" bezeichnen. Wenn ich dann daran denke, dass die deutsche Polizei und Justiz rechten Totschlägern ihre nahezu wöchentlichen Aufmärsche ermöglicht, ergreift mich die nackte Wut! Der Staatsschutz hat durch seine Leute bei den Rechten das NPD-Verbot verhindert. Dieselbe Behörde stellte sich also uns in den Weg, als wir auf eine sterbende in der Türkei inhaftierte Marxistin aufmerksam machten! Und dann geben diese Staatsschützer vor, mich "schützen" zu wollen!

Dazu kommt ja noch die Ablehnung deines Besuchsantrags bei Faruk Ereren, der zur Zeit mit einer 129b-Anklage in Düsseldorf vor Gericht steht. Wie wurde diese Ablehnung begründet?

Der Vorsitzende Richter Klein begründete die Ablehnung meines Besuchsantrages folgendermaßen: "Die beantragte Besuchserlaubnis ist zu versagen, weil ein Besuch (...) bei dem Angeklagten den Zweck der Untersuchungshaft gefährden könnte." Es wird eine unkontrollierte Kommunikation zwischen Faruk und mir gefürchtet, was lächerlich ist, denn zwischen mir und Faruk ist eine Trennscheibe, man kommuniziert über Telefonhörer und dabei sitzen zwei Beamte!

Welche gesundheitlichen Folgen hatte die U-Haft bisher für Faruk Ereren?

Tatsache ist, dass Faruk seit 7. April 2007 in Untersuchungshaft sitzt. Die angewendeten Isolationshaftbedingungen stellen für ihn eine starke Belastung dar, da er schon in der Türkei zur Zeit des Militärputsches gefoltert wurde. Seither ist seine psychische Konstitution stark beeinträchtigt. Ein weiterer Verbleib von Faruk in U-Haft ist schon allein aus menschenrechtlicher Sicht nicht zu verantworten.

Du hast bisher an den meisten Prozessterminen teilgenommen. Welchen Eindruck machen Richter und Staatsanwaltschaft auf dich?

Den Richtern dort wäre es am Liebsten, wenn sie die Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit führen könnten, denn es ist ein politischer Prozess und als Beweismittel greift der 2. Strafsenat am OLG auf Quellen zurück, die fragwürdiger Herkunft sind. Im Faruk-Prozess finden sich in den rund 100 Aktenordnern zahlreiche Foltergeständnisse aus der Türkei.

Welche Möglichkeiten siehst du, gegen die Behinderung und Kriminalisierung der Soliarbeit vorzugehen? Was muss geschehen, damit die staatlichen Angriffe auf solidarische Menschen, aber auch auf die § 129b-Gefangenen zurückgedrängt werden können?

Vor allem sollte das Vorgehen öffentlich gemacht werden. Das strikte Verbot, Foltergeständnisse zu verwenden, muss eingehalten wird. Menschenrechtsfragen und die Auswirkungen staatlicher Repression gehören ins Rampenlicht. Es ist die einzig vernünftige Antwort auf die Versuche uns zu kriminalisieren! Gemeinsam mit der "Plattform für die Freilassung von Mustafa Atalay" ist es uns gelungen, die Mauer des Schweigens zum Prozess in Düsseldorf zu durchbrechen. Deshalb wird auch versucht, einzelne Genossen/-innen einzuschüchtern. Wir müssen weiterhin unter anderem die Zusammenarbeit mit solidarisch handelnden Politikern/-innen, Intellektuellen und Menschenrechtsaktivisten/-innen ausbauen und immer wieder auf uns und die Gefangenen aufmerksam machen.

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REPRESSION

Hamburger Polizei verwehrt Anwälten/-innen gezielt den Zugang zu Gefangenen

Ermittlungsausschuss Hamburg

Der Ermittlungsausschuss (EA) Hamburg hat beobachtet, dass seit dem 1. Mai 2009 und im Zuge des ersten und zweiten Schanzenviertelfestes Fest- oder Ingewahrsamgenommene massiv von der Polizei daran gehindert werden, Kontakt mit Menschen ihres Vertrauens aufzunehmen. Dies beginnt bereits während der Festnahme, bei der zielgerichtet Menschen der Mund zugehalten oder aber ihr Kopf auf den Boden gedrückt wird, damit sie Umstehenden ihren Namen nicht nennen können. Oft geht dies auch einher mit der Drohung, dass es schmerzhaft würde, wenn die betreffende Person dennoch versuchen sollte, ihren Namen laut zu rufen.

Auf den Wachen wird den Inhaftierten ihr Recht auf mindestens ein erfolgreiches Telefonat in der Regel komplett verwehrt. Die zeitliche Verzögerung wird in der Regel mit dem Verweis auf die Langsamkeit der polizeieigenen Bürokratie, die angeblich Vorrang hat, begründet. Die vermeintliche Verzögerung dauert dann bis zur Freilassung an. Parallel dazu werden die vom EA informierten Rechtsanwälte/-innen ebenfalls hingehalten. Auch hierbei muss meist die vermeintliche Langsamkeit des polizeieigenen Systems als Begründung herhalten. Selbst wenn die Anwälte/-innen in der Wache sind, in der ihre Mandanten/-innen festgehalten werden, argumentieren die Beamten/-innen damit, dass auf Grund ihrer Bürokratie nicht klar sei ob beziehungsweise wo sich die betreffende Person aufhalten.

Bei dem Blockieren der anwaltlichen Arbeit setzten die Beamten/innen bewusst Lügen ein. Während die Festgenommenen gar nicht gefragt werden, ob sie die Anwälte/-innen sehen wollen, behaupten die Beamten/-innen, dass die Festgenommenen keine/n Anwältin/Anwalt sehen wollten.

Am ersten und zweiten Schanzenviertelfest hatte diese Taktik die Konsequenz, dass der EA Hamburg nicht einen Anruf von Gefangenen auf der Wache erhielt, so dass der EA nur auf Grundlage von zugerufenen Namen tätig werden konnte.

Mit diesem Verhalten schaffen sich die Repressionsbehörden einen unkontrollierten Raum, in dem allein sie ungestört die Regeln festlegen wollen - ungeachtet dessen, ob ihr Handeln legal ist. Die Behörden versuchen, gesetzlich zugesicherte Mindeststandards zu unterwandern und ihre eigenen Befugnisse so nach und nach zu erweitern. Dies gilt es aktiv zu bekämpfen, auch indem vehement bestehende Rechte eingefordert werden. Noch gibt es diese Mindeststandards, unter anderem bestehend aus dem Recht, telefonieren zu dürfen, und dem Recht auf anwaltlichen Beistand ab Zeitpunkt der Freiheitsentziehung. Der Polizei liegt gerade in den ersten Stunden nach einer Festnahme sehr daran, ungestört mit der beschuldigten Person umgehen zu können.

Teilt uns mit, wenn ihr oben beschriebenen Verhaltensweisen ausgesetzt wart und fertigt ein Gedächtnisprotokoll an. Besteht darauf, es schriftlich bestätigt zu erhalten, dass ihr nicht telefonieren dürft. Lasst euch die Namen oder Dienstnummern der Beamten nennen beziehungsweise bei Verweigerung versucht euch die Beamten zum Beispiel aufgrund ihres Dienstgrades zu merken.

Generell besteht die Möglichkeit einer Dienstaufsichtsbeschwerde, die danach und formlos gestellt werden kann. Infos dazu erhaltet ihr bei eurem EA oder der Roten Hilfe. Die Beschwerde zieht kein Gerichtsverfahren nach sich, sondern führt dazu, dass die jeweiligen Beamt/-innen, solange die Beschwerde läuft, nicht befördert werden, sowie einem dauerhaften Vermerk in ihren Akten.

Seid informiert,
Lasst euch nichts gefallen,
Schliesst euch zusammen,
fight back!


"Höhepunkte" in dieser Entwicklung:

- Der einzigen Person, die nach dem zweiten Schanzenfest in U-Haft kam, wurde zugesagt, dass sie die in der Wache anwesenden Rechtsanwälte/-innen sehen könne. Bevor es dazu kam, wurde sie dem Haftrichter vorgeführt. Auch die Vorführung fand dann ohne Rechtanwalt/-in statt. Nach Verkündung des Haftbefehls dauerte es vier Tage, bis sie ihr gesetzlich zugesichertes Telefonat tätigen konnte. Dass ihr dies letztlich überhaupt gelang, lag an ihrer Beschwerde beim zuständigen Abteilungsleiter.

- Einer Festgenommenen wurde gesagt, sie dürfe nicht telefonieren, weil die linken Rechtsanwälte zu schnell zu laut aktiv würden und dies nicht ins Konzept der polizeilichen Arbeit passe. Damit verfolgten die Beamten/-innen den Plan, eine Hausdurchsuchung und die erkennungsdienstliche Behandlung ohne anwaltlichen Beistand ungestört durchzuführen sowie die Person über Stunden im Ungewissen darüber, was weiter geschieht, festzuhalten.

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Vertrauen unter GenossInnen

PGP in der Praxis, Teil 2: Web of Trust

Datenschutzgruppe der Ortsgruppe Heidelberg

In der letzten Ausgabe hatten wir ein wenig über PGP-Schlüssel und ihre Veraltung sowie die digitale Signatur geplaudert. All das ist recht nett und auch sicher, solange sich die Gegenseite im Umgang mit der Technik so dämlich anstellt, wie sie das gegenwärtig tut (oder zu tun scheint). Wenn sie irgendwann mal geschickter wird, werden aber auch wir vorsichtiger sein müssen, und weil das nicht ganz trivial ist, lohnt sich schon jetzt ein Blick auf das Web of Trust.

Um kurz zu rekapitulieren: PGP funktioniert ein wenig wie eine große Wand von Briefkästen. Auf jedem Briefkasten steht mindestens eine Mailadresse. Der öffentliche Schlüssel entspricht in etwa einer Angabe wie "mein Briefkasten ist der 121. von links in der dreiundzwanzigsten Reihe". Euer geheimer Schlüssel ist demgegenüber wie der reale Briefkastenschlüssel.

Mann in der Mitte

Nehmen wir jetzt an, ihr wolltet an konspa@anarcho.org schreiben. Ihr besorgt euch also wie im ersten Teil diskutiert ihren öffentlichen Schlüssel - in der Briefkastenmetapher findet ihr raus, auf welchem Briefkasten "Konspa" steht. Leider ist es für Joe den Staatsschützer im wirklichen Leben nicht schwer, "Konspa" auf einen Briefkasten zu schreiben. Für PGP-Schlüssel kann das - je nachdem, wie die Schlüssel so verbreitet werden - schwieriger oder einfacher sein, möglich ist es auf jeden Fall.

Hat jetzt aber Joe euch seinen eigenen öffentlichen Schlüssel als den von Konspas untergeschoben, werft ihr den Brief in seinen Kasten, den er natürlich aufschließen kann. Ist er ordentlich perfide, wird er den gelesenen Brief nachher bei Konspa einwerfen (also mit Konspas wirklichem öffentlichen Schlüssel verschlüsseln), und niemand merkt, dass da was nicht stimmt.

Sowas heißt Man-in-the-Middle-Angriff und ist ein Einfallstor, um das sich alle Verschlüsselungssysteme kümmern müssen. Die Bundesregierung versucht sowas etwa gerade unter dem Titel "Bürgerportal", wobei der Staatsapparat Schlüssel ausgibt, unterschreibt und - vermutlich - Nachschlüssel einbehält. Damit kann zwar jedeR leicht nachprüfen, ob der Staat glaubt, dass ein Schlüssel zu einer Person gehört, aber wir müssen wohl kaum erläutern, warum mensch das so wirklich nicht haben will.

Die soziale Lösung

Wenn im realen Leben Anna wissen möchte, ob Arthur wirklich Arthur von der Aargauer Antifa ist - und exakt darum geht es hier -, wird sie (hoffentlich) nicht seinen Personalausweis prüfen. Stattdessen wird Arthur vielleicht von Barbara vom Baseler Bundschuh "vorgestellt", und wenn Anna Barbara von ein paar Vernetzungstreffen kennt, würde sie danach wohl an Arthurs Identität glauben.

Das ist das Vorbild für das Web of Trust bei PGP-Schlüsseln. Die erste Basis dafür ist die Signatur. Anders als im ersten Teil, als es um die Signatur von Nachrichten ging, unterschreiben wir jetzt öffentliche Schlüssel. Eine solche Unterschrift unter einen Schlüssel entspräche im realen Sozialleben einer öffentlichen und dauernden Kundgebung von Barbara, dass Arthur eben Arthur ist. Die zweite Basis ist eine Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit von Menschen. Im PGP-Universum gibt es vier Niveaus von Vertrauen: niemals, kaum, vollständig und absolut. Die Bedeutung dieser Begriffe ist konfigurierbar, ist aber typischerweise etwa, dass eine Unterschrift

→ von einer Person, der ihr niemals vertraut, ignoriert wird,
→ von einer Person, der ihr kaum vertraut, ein Drittel zum Vertrauen in den unterschriebenen Schlüssel zählt,
→ von einer Person, der ihr voll oder absolut vertraut, bereits ausreicht, um den Schlüssel für authentisch zu halten.

Der Rechner kann dazu noch "über Ecken" gucken. Vertraut ihr etwa B, und hat B einen Schlüssel von C unterschrieben, die dann wieder einen von D unterschrieben hat, kann das das Vertrauen in den Schlüssel von D auch stärken, was aber nichts an den einfachen Grundkonzepten von Vertrauen und Beglaubigung ändert. Wichtig dabei ist, dass ihr entscheidet, wie vertrauenswürdig eine Person für euch ist.

Gewonnen ist mit dieser ganzen Prozedur, dass ihr auch Schlüssel von Menschen prüfen könnt, die ihr noch nie gesehen habt, sofern das Web of Trust dicht genug geknüpft ist, und das ohne jede Obrigkeit. Darin liegt vielleicht auch der Charme der Sache: Hier wird letztlich ein technisches Problem sozial gelöst, und das ist ein schöner Gegensatz zur gesellschaftlichen Norm des Versuchs, soziale Probleme technisch (zum Beispiel durch Kameraüberwachung) zu lösen.

Wie unterschreiben?

Die einfachen Konzepte können am Rechner natürlich immer noch eher konfus aussehen. Die im ersten Teil erwähnten Schlüsselverwaltungen bieten aber normalerweise relativ durchschaubare Schnittstellen für die Einstellung von Vertrauen und das Unterschreiben von Schlüsseln. In Thunderbird/Enigmails Schlüsselverwaltung finden sie sich im Kontextmenü (also nach einem Rechtsklick) der Schlüsselzeilen.

Ihr solltet Schlüssel nur dann unterschreiben, wenn ihr sicher seid, dass der Schlüssel wirklich zur "Identität" passt, also zu der Person, die vernünftigerweise zu der/den E-Mail-Adresse/n gehört. Dazu müsst ihr einerseits sehen, ob ihr es mit der betreffenden Person zu tun habt was logischerweise nur geht, wenn ihr sie in der Realität kennt. Andererseits müsst ihr sehen, ob der öffentliche Schlüssel, den ihr habt, zum privaten Schlüssel dieser Person gehört.

Beim ersten Schritt kann euch PGP nicht helfen; der hat tatsächlich gar nichts mit Rechnern zu tun. Beim zweiten Schritt hingegen hilft die Mathematik. Ein PGP-Schlüssel ist nämlich eine sehr Lange Zahl, die kein Mensch angucken will. Deshalb definiert der OpenPGP-Standard ein Verfahren, das aus diesen sehr langen Zahlen etwas kürzere Zahlen macht, die zwecks Romantik "Fingerabdruck" genannt werden. Wenn die Fingerabdrücke von zwei Schlüsseln übereinstimmen, kann ziemlich sicher davon ausgegangen werden, dass sie auch wirklich identisch sind.

Wenn ihr nun einen Schlüssel beglaubigen wollt, könnt ihr euch von dem/der SchlüsselinhaberIn den Fingerabdruck vorlesen oder auf einem Zettel geben lassen oder etwas ähnliches. In der Schlüsselverwaltung von Thunderbird bekommt ihr den Fingerabdruck des fremden öffentlichen Schlüssels in der Dialogbox angezeigt, mit der ihr unterschreiben könnt. Experimentiert einfach mal - wenn ihr es euch anders überlegt, könnt ihr Unterschriften immer noch zurückziehen.

Damit das Web of Trust funktioniert, müsst ihr dafür sorgen, dass andere Menschen eure Unterschrift an dem Schlüssel sehen. Der einfachste Weg dazu ist, den fremden öffentlichen Schlüssel zu exportieren und auf einen Keyserver hochzuladen (Enigmail hat einen Menüeintrag extra für diesen Zweck). Die Keyserver sind schlau genug, nur die neuen Unterschriften rauszuziehen und sich gegenseitig abzugleichen.

Wenn andere Menschen euren Schlüssel unterschreiben wollen, müsst ihr den Fingerabdruck eures eigenen Schlüssels herausfinden. Auch das geht in Schlüsselverwaltungen - im Thunderbird/Enigmail etwa durch Rechtsklick auf euren eigenen Schlüssel und Auswahl von Eigenschaften". Vielleicht ist es keine schlechte Idee, immer ein paar Zettel mit diesem Fingerabdruck dabei zu haben.

Was unterschreiben?

Der technische Vorgang des Unterschreibens ist also eigentlich einfach. Viel schwieriger ist die soziale Frage, ob mensch wirklich öffentlich unterschreiben will (1). Das Web of Trust kann nämlich auch die Gegenseite nachbauen. Aus den Unterschriften unter einem Schlüssel ist zumindest zu rekonstruieren, wer alles meint, den/die SchlüsselinhaberIn zu kennen. Manchmal ist das nicht schlimm - etwa, wenn ihr ohnehin schon mit den Leuten telefoniert oder sie mit laufendem Mobiltelefon trefft und es nicht nötig ist, die Beziehung vor Privatmenschen (sagen wir, Nazis) geheimzuhalten.

In anderen Fällen ist so eine Kundgebung richtig blöd. Wenn ihr zum Beispiel eine klandestine Politgruppe habt, sonst nicht per PGP kommuniziert und dann, quasi als digitale Blutsbrüderschaft, alle gegenseitig ihre Schlüssel unterschreiben, könntet ihr die Mitgliedsliste auch gleich ans BKA geben. In so einem Szenario solltet ihr eure Schlüssel direkt austauschen und auf die Unterschreiberei verzichten.

Umgekehrt ist es sicher eine gute Idee, die Schlüssel von Ortsgruppen von "vertrauenswürdigen" Schlüsseln unterschrieben zu haben. Bei der nächsten BDV könnte die Datenschutzgruppe einen entsprechenden Dienst anbieten (das müssen wir aber erst mit Leuten abstimmen, die die OGn wirklich kennen ...). Dass wir die Schlüssel von Ortsgruppen und Ortsgruppen unseren Schlüssel unterschreiben, gibt der Gegenseite wenig Information über Offensichtliches ("Die sind auf Zack!") hinaus.

Eine allgemeingültige Regel, wann mensch zum Web of Trust beitragen will und wann nicht, ist kaum anzugeben. Je mehr aber eure Eltern, die Kumpels aus der Eckkneipe oder dem Ökocafe, befreundete HackerInnen und alle möglichen anderen Bekannten euren Schlüssel signieren (und ihr ihren), desto harmloser ist es, wenn auch Politleute unterschreiben; rauszukriegen, wer im Web of Trust Zecke ist und wer Bürger, wird unter diesen Umständen schon deutlich schwieriger.

Solange allerdings das BKA noch versucht, auf haarsträubende Weise externen Sachverstand zu PGP einzukaufen (2), sind allzu viele Gedanken zu dem Thema vermutlich übertriebene Paranoia. Vielleicht reicht es für die nächsten paar Jahre, die OG-Schlüssel signiert zu kriegen; mit dem Gedanken an das Web of Trust und späteren Umgang damit sollte mensch sich aber trotzdem vertraut machen, denn wenn die Gegenseite anfängt, unsere Verschlüsselung anzugreifen, schadet es bestimmt nicht, wenn wenigstens wir in der Roten Hilfe einen kühlen Kopf bewahren (können).


→ http://www.datenschmutz.de
→ datenschutzgruppe@rotehilfe.de
→ PGP Fingerprint: a3d8 4454 2eo4 686o oa38 a35e d1ea ecce f2bd 132a


Anmerkungen

(1) Ihr könnt Unterschriften auch so markieren, dass sie beim Export unterdrückt werden. Sowas kann sinnvoll sein, ist aber fürs Web of Trust natürlich irrelevant.

(2) http://annalist.noblogs.org/post/2009/01/44/bka-ratespielchen-rund-um-gnupg

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Reclaim your data! - Den Datensaugern auf die Pelle rücken!

Heiner Busch, Komitee für Grundrechte und Demokratie

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie ist eine von über 40 Organisationen aus elf europäischen Staaten, die eine Kampagne gegen den polizeilichen Datenhunger mittragen. Mit einer Veranstaltung im Berliner "Haus der Demokratie" starteten Bürgerrechtsgruppen am 1. Oktober 2009 die Kampagne "Nimm dir dein Recht im Europa der Polizeien, hol dir deine Daten zurück!". Sie rufen dazu auf, das Recht auf Auskunft wahrzunehmen und bei den Polizeibehörden anzufragen, welche Daten zur eigenen Person gespeichert sind.

Hintergrund des Aufrufs ist das so genannte Stockholmer Programm, das die Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrem Gipfeltreffen am 11. und 12. Dezember förmlich verabschieden wollen. Es handelt sich dabei nach den "Schlussfolgerungen von Tampere" 1999 und dem Haager Programm von 2004 um den dritten Fünfjahresplan für die Innen- und Rechtspolitik der EU. Die Vorbereitungen dazu begannen unter deutscher EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007. In der auf Herrn Schäubles Mist gewachsenen "Zukunftsgruppe", einer - wie es so schön hieß - "informellen hochrangigen Gruppe" des Rates führten die InnenministerInnen von neun Mitgliedstaaten und die EU-Kommission eine "offene Diskussion" und hatten einen "intensiven Meinungsaustausch". Herausgekommen ist dabei eine Fortschreibung der bisherigen Politik des EU-Staatsaufbaus. Hier nur ein paar Punkte:

Erstens:

Im Bereich Migration, Asyl und Grenzen ist nicht nur eine Stärkung der in Warschau ansässigen EU-Grenzschutzagentur Frontex und der im Mittelmeer und Südatlantik beginnende Aufbau eines Grenzüberwachungssystems mit Namen "Eurosur" geplant. Einig ist man sich auch über das E-Border-Konzept, für das die Kommission bereits im Februar 2008 einen Vorschlag präsentiert hatte - konkret: der Ausbau der biometrischen Kontrollsysteme. Für das Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II) und das Visa-Informationssystem sind die rechtlichen Grundlagen bereits beschlossen. Ein Ein- und Ausreisekontrollsystem für alle Drittstaatsangehörigen, ein Einreiseerlaubnissystem für Drittstaatsangehörige, die nicht der Visumspflicht unterliegen, und das zweifelhafte Angebot einer automatisierten Grenzkontrolle für die EU-BürgerInnen sollen hinzukommen. Voraussetzung dabei ist immer die Erfassung und der Abgleich von Fingerabdrücken. Das Ganze läuft unter dem Stichwort "Modernisierung des Schengener Ansatzes in der Grenz- und Visumspolitik". Das SIS II droht zwar technisch zu scheitern, an der biometrischen Kontrolle und ihrem weiteren Ausbau wollen die InnenministerInnen aber nicht rütteln und an der Abschottung der Grenzen erst recht nicht.

Zweitens:

Bereits im Haager Programm hatte die EU den Grundsatz der "Verfügbarkeit" verkündet: Man wollte nicht mehr (nur) zentrale Informationssysteme aufbauen, sondern dafür sorgen, dass die Polizeien der Mitgliedstaaten gegenseitig auf ihre nationalen Datenbanken zugreifen können. Der Vertrag von Prüm beziehungsweise der darauf fußende Beschluss des Rates bildeten den Einstieg in diesen freien Binnenmarkt für Polizeidaten. Für drei Bereiche - DNA-Profile, Fingerabdrücke und KFZ- beziehungsweise KFZ-Halterdaten - ist der automatische Abgleich schon beschlossen und zum Teil bereits umgesetzt. Im Gespräch ist nun eine "Top Ten"-Liste von Datenkategorien, auf die dieses Prinzip ausgedehnt werden soll. Bis 2014 soll die EU Strategien für einen Informationsverbund entwickeln und möglichst auch umsetzen.

Drittens:

Die Schlagworte für die nächsten fünf Jahre heißen nun "Konvergenz" und "vernetzte Sicherheit". Einige der Punkte, die die Zukunftsgruppe hierzu benannt hat, sind bereits seit Längerem in Arbeit: Die EU soll die Zusammenarbeit in gemeinsamen Zentren an den Binnengrenzen ausbauen. Die Zentren sollen Knotenpunkte des Informationsaustausches, aber auch der operativen Zusammenarbeit sein. Die EU will Europol zum "Fokus für die nationalen Polizeien" machen. Konkret heißt das, dass die nationalen Polizeien diesen Fokus auch tatsächlich mit allen möglichen Daten beliefern sollen, was sie bisher nur in höchst unterschiedlichem Maße tun. Europol soll darüber hinaus mit dem Gemeinsamen Lagezentrum SitCen zusammenarbeiten. SitCen ist Teil der Zweiten Säule, also der militarisierten Außenpolitik der EU, und eine der Keimzellen einer geheimdienstlichen Kooperation in ihr. Im Gespräch sind weiter Anti-Terror-Zentren wie das deutsche GTAZ. Die EU-weite Kooperation dieser Zentren könnte nach Meinung der Zukunftsgruppe das im geheimdienstlichen Bereich vorherrschende "Prinzip der Vertraulichkeit" knacken helfen und dafür sorgen, dass Informationen der Dienste über diesen Umweg dennoch unter den Sicherheitsbehörden frei in der EU zirkulieren.

Viertens:

Die erstaunlichste Stilblüte in dieser Diskussion ist jedoch die des "digitalen Tsunami". Den wollen die EU-InnenministerInnen jedoch nicht als Katastrophe verstanden wissen, sondern als "Herausforderung für die Behörden der öffentlichen Sicherheit". Die wachsende Verbreitung digitaler Technologien vergrößere auch die Massen von Informationen, die die besagten Behörden in ihrer täglichen Arbeit nutzen könnten. Die Leute legten bei ihren digitalen Transaktionen vom zahlungs- bis zum öffentlichen Nahverkehr immer mehr Datenspuren. Zum Schutz der Privatsphäre brauche es deshalb "privacy enhancing technologies". Die käme aber - "paradoxerweise", sagt die Zukunftsgruppe nicht nur den ordentlichen Bürgerinnen, sondern auch Terroristen und anderen Kriminellen zugute. Deshalb ist man gegen die automatische Anonymisierung der anfallenden Daten, was die "most privacy enhancing" Lösung wäre. "Hohe Schutzstandards" für die Schafe, "fairen Gebrauch effizienter Instrumente" gegen die Böcke - das sei der Ausweg. Dass dies in den Papieren der Zukunftsgruppe mit der Vorratsdatenspeicherung von Verkehrsdaten illustriert wird, macht die ganze schöne Datenschutzrhetorik zu einem Treppenwitz.

Schon heute werden massenhaft Daten im Europa der Polizeien hin und her geschoben. Das bestehende SIS enthält über eine Million Daten über Personen, von denen neunzig Prozent wegen ausländerrechtlicher Angelegenheiten in dieses System gelangten - "Crimes of arrival" nennt dies Frances Webber vom Londoner "Institute of Race Relations". Für die Fussball-Europa-Meisterschaft 2008 lieferte das BKA fast den gesamten Inhalt der Datei "Gewalttäter Sport" an die Schweiz und Österreich. Anlässlich des Nato-Gipfels in diesem Frühjahr speicherte das BKA Hunderte Datensätze aus anderen EU-Staaten in der Datei "Gewalttäter Links". Ein- oder Ausreisesperren und andere polizeiliche Zwangsmaßnahmen zeigen, dass solche Informationen eben nicht harmlos sind.

Beim kurzen Durchgang durch einige Punkte der Debatte um das Stockholm-Programm sollte klar geworden sein, dass Information auch in Zukunft der wichtigste Treibstoff des entstehenden EU-Staates sein wird. Vor diesem Hintergrund scheint die Auskunftsrechtskampagne als etwas klein geraten. Dennoch ist sie erstens ein Versuch, das was auf EU-Ebene geschieht, überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. Zum Zweiten sollen mithilfe der Antworten auf die Auskunftsersuchen Einsichten in die Praktiken des grenzüberschreitenden Informationsaustausches gewonnen werden. Und drittens gilt es, Betroffene bei der Wahrnehmung ihrer Rechte auf Berichtigung oder Löschung unzulässig gespeicherter Daten zu unterstützen und Rechtsbeistand zu vermitteln.

Zentrales Instrument der Kampagne ist ein "Auskunftsersuchengenerator", der nach Online-Eingabe der benötigten Angaben automatisch ein versandfertiges Anschreiben generiert, das nur noch per Post an die jeweils verantwortlichen Polizeibehörde geschickt werden muss. Bislang existiert die automatisierte Variante allerdings nur für die deutschsprachigen Länder. Die nächste Hürde wird daher sein, die Kampagne durch Anpassung an andere nationale Kontexte auf ein breiteres europäisches Fundament zu stellen.

Das Komitee ruft alle seine SympathisantInnen auf, diesen "Generator" zu nutzen, Freunde zum Mitmachen zu animieren und uns eine kurze Rückmeldung über die erhaltenen Antworten zu geben. Der Aufruf sowie ein Link zum Auskunftsgenerator finden sich auf der Komiteehomepage, die Website der Kampagne unter

→ http://euro-data.noblogs.org/

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KOLUMNE

Unsere Daten gehören uns!

Kolumne von Ulla Jelpke

Die Europäische Union ist ein datenklauender Moloch: Die Daten, die von nationalen Polizeien und Geheimdiensten über die Bevölkerung gespeichert werden, werden in gemeinsamen, internationalen Datenbanken miteinander vernetzt. Datenschutzbestimmungen werden auf dem Umweg über die EU ausgehebelt, indem Möglichkeiten geschaffen werden, an Daten heranzukommen, die nach nationalem Recht gar nicht erhoben werden dürften. Bürgerrechts-, Flüchtlings- und globalisierungskritische Organisationen aus derzeit elf Ländern der EU sowie der Schweiz rufen nun zu einer europaweiten Kampagne unter dem Motto "Meine Daten gehören mir!" auf.

Start der Kampagne war eine Informationsveranstaltung im Berliner Haus der Demokratie. Zumindest die Vorgehensweise ist denkbar einfach und besteht zunächst darin, bei den Behörden Auskunft zu beantragen, ob beziehungsweise welche Daten gespeichert sind. Das hört sich nach wenig an, aber: Die EU-Behörden selbst halten sich bedeckt über ihre Informationssammelei. SIS, VIS, Eurodac, Europol, Eurojus, dazu BKA und Verfassungsschutz - der Überblick, wo und von wem in EU und BRD Daten gesammelt werden, fällt heute selbst Experten schwer. Eric Töpfer, der sich im Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin intensiv mit dem Thema beschäftigt, bekannte auf der Veranstaltung, er sei selbst immer wieder davon überrascht, welche Verknüpfungen es noch gebe, und sprach von einem "Informationspuzzle", das mühsam zusammengesetzt werden müsse.


Die Behörden massenhaft unter die Lupe nehmen

Dazu gehört auch, durch massenhafte Auskunftsersuchen einen Überblick über Anzahl, Umfang und Vernetzungen der diversen Datenbestände zu erhalten. Nicht zuletzt gilt es auch die Auskunftsbereitschaft der Behörden unter die Lupe zu nehmen. Matthias Monroy, BKA-bekannter Gipfelaktivist, berichtete im Haus der Demokratie über seinen Kampf mit dem Bundeskriminalamt: Dieses habe ihm zwar mitgeteilt, dass Informationen über ihn vorlägen, wollte ihm aber keine Details nennen - um die Informationsquellen zu schützen, hieß es. Klar war nur, dass diese Informationen an die italienische Polizei geliefert worden waren, außerdem haben sie dazu geführt, dass er während des Nato-Gipfels in Strasbourg im April 2009 ein Ausreiseverbot erhielt. Kurz bevor seine Klage vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden verhandelt wurde, lenkte das BKA ein - und teilte mit, es habe den Datensatz nun gelöscht.

Über 100 Antimilitaristinnen und Antimilitaristen war die Ausreise nach Frankreich verboten worden - Grundlage hierfür waren sogenannte Gewalttäterdateien ("Gewalttäter links" beziehungsweise "International agierende gewaltbereite Störer"), in die man freilich auch geraten kann, ohne jemals eine Gewalttat begangen zu haben. Entscheidend ist die Einschätzung der Behörden, ob man wohl die Absicht habe, Großveranstaltungen gewalttätig zu stören; von "troublemaker" ist die Rede. Das betrifft (mutmaßliche) Fußball-Hooligans genauso wie politische AktivistInnen. Die Daten werden international ausgetauscht: Belgische Behörden belieferten im Frühjahr das BKA, dieses die französischen Behörden, vor dem G8-Gipfel in L'Aquila erhielten die Italiener Daten. Klagen gegen Ausreiseverbote sind nur begrenzt hilfreich: Wer das Ausreiserecht nach Strasbourg durchgesetzt hatte, erhielt von der französischen Grenzpolizei, die von der Bundespolizei entsprechend unterrichtet wurde, ein Einreiseverbot.

Momentan enthalten die Dateien mit "linken Gewalttätern" einige Tausend Datensätze, aber das Prinzip der Speicherung auf Verdacht lässt eine schnelle Steigerung zu, und um sich hinauszuklagen, muss man erst einmal über die Speicherung informiert sein - das geht nur über ein Auskunftsersuchen. Über eine Million Menschen sind im Schengen-Informationssystem (SIS) gespeichert. Generell kann eine Vielzahl von Polizeibehörden Einträge ins SIS veranlassen, an Zehntausenden Polizeicomputern können sie gelesen und "angereichert" (!) werden. Vor allem letzteres ermöglicht die oben erwähnte Möglichkeit der Datenwäsche. Knapp 90 Prozent der Gespeicherten sind Migrantinnen und Migranten, die mit Einreisesperren belegt sind. Grund: Sie sind abgeschoben worden.


Viele Einträge in den Dateien sind rechtswidrig

Allerdings sind etliche Einträge rechtswidrig, wie Rechtsanwältin Angela Furmaniak in Berlin ausführte. Gerade die deutschen Ausländerbehörden neigen dazu, gegen abgelehnte AsylbewerberInnen generell Einreisesperren verhängen zu lassen. Der Rechtsschutz hiergegen ist, wie generell bei allen europäischen Dateien, noch komplizierter: Zunächst muss bei der "nationalen Kontaktstelle" (das ist das sogenannte Sirene-Büro beim BKA) ein Auskunftsantrag gestellt werden. Klagen müssen dann aber in dem Staat eingereicht werden, der die Datenspeicherung veranlasst hat.

Unmittelbarer Anlass für die Kampagne ist die bevorstehende Verabschiedung des "Stockholmer Programms" durch den EU-Rat Anfang kommenden Dezembers. Das Programm stellt den Fünfjahresplan der EU bis 2014 dar. Seine Details werden noch ausgehandelt. Man kann aber davon ausgehen, dass es maßgeblich von den Vorstellungen der sogenannten "Future Group" beeinflusst werden wird. Deren treibende Kraft ist das deutsche Bundesinnenministerium. In einer Zusammenfassung fordert es neben der Verstärkung von Migrationskontrolle und Flüchtlingsabwehr die optimale Verarbeitung von Informationen. Um den "digitalen Tsunami", den die EU selbst hervorgerufen hat, nun auch bewältigen zu können, solle das "Konvergenzprinzip" gelten, heißt es in dem Papier: "Ziel dieser Idee ist es, die Mitgliedstaaten einander nicht nur über Mittel der Standardisierung, wenn nötig, sondern auch über operative Mittel näher zu bringen. Gemeinsame Ausbildungsprogramme, Austauschnetzwerke, Solidaritätsmechanismen, die Zusammenlegung bestimmter Ausrüstungsgegenstände, einfachere Verfahren der Zusammenarbeit und natürlich Informationsaustausch sind entscheidende Wege, um wahre operative Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen."

Die entscheidenden Weichenstellungen auf dem Gebiet der inneren (Un-)Sicherheit fallen heute auf EU-Ebene. Notwendig wäre deshalb, auch auf Seite von BürgerrechtlerInnen die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg aufzunehmen beziehungsweise zu intensivieren. Die InitiatorInnen der Kampagne wollen einen ersten Schritt zum Aufbau einer europäischen Bürgerrechtsbewegung gehen - dafür sollten sie reichlich Unterstützung erhalten!


→ Technix: Unter www.datenschmutz.de ist ein "Auskunftsgenerator" eingerichtet worden, der die Anschreiben formuliert.
Infos zum Stockholm-Programm unter http://stockholm.noblogs.org/.

Raute

AZADI

Informationen des Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland

Der Rechtshilfefonds AZADI unterstützt Kurdinnen und Kurden, die in Deutschland im Zuge ihrer politischen Betätigung mit Strafverfolgung bedroht werden.

AZADI e.V. | Graf-Adolf-Straße 70a | 40210 Düsseldorf | Telefon 0211/830 29 08 | Fax 0211/171 14 53
azadi@t-online.de | www.nadir.org/azadi/ | V.i.S.d.P. Monika Morres (Anschrift wie AZADI e.V.)

Spendenkonto GLS Gemeinschaftsbank e.G. | BLZ 430 60 967 | Konto 80 35 78 26 00


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Muzaffer Ayata ist frei - BGH verwirft Revision gegen OLG-Urteil - Regierungspräsidium Stuttgart verfügt Ausweisung nach Haftende

Mit Beschluss vom 7. Juli hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) auf Antrag des Generalbundesanwalts sowie nach Anhörung des Beschwerdeführers die Revision von Muzaffer Ayata gegen das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt/Main vom 9. März 2009 verworfen. Wegen des Vorwurfs der Rädelsführerschaft in einer "kriminellen Vereinigung" (§ 129 StGB) war der kurdische Politiker im April 2008 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden, wogegen er im Hinblick auf die Höhe des Schuldspruchs seinerzeit Revision eingelegt hatte. Nachdem der BGH im November 2008 das OLG-Urteil aufgehoben und erneut an das OLG zurückverwiesen hatte, endete die Neuverhandlung am 9. März 2009 mit einem um vier Monate reduzierten Strafmaß. Hiergegen erhob die Verteidigung Ayatas eine Verfahrensrüge und legte erneut Revision ein, die nun vom BGH abgewiesen wurde.

Mit Schreiben vom 14. August verfügte dann das Regierungspräsidium Stuttgart die Ausweisung des kurdischen Politikers Muzaffer Ayata. Nach seiner Haftentlassung (Verbüßung der Endstrafe voraussichtlich 8. Oktober 2009) soll er sich täglich bei der Polizei melden und darf den Stadtbereich von Stuttgart nicht verlassen. Gegen die Ausweisungsverfügung hat Ayatas Verteidiger Widerspruch eingelegt.

Bis zum letzten Tag wurde der kurdische Politiker in Haft gehalten, nachdem die Gerichte sämtliche Anträge der Verteidigung auf Aufhebung des Haftbefehls abgewiesen hatten. Und endlich: Am 8. Oktober konnte Muzaffer Ayata nach drei Jahren und zwei Monaten die JVA Weiterstadt verlassen. Von zahlreichen Freundinnen und Freunden wurde er empfangen. Auf einer Feier im kurdischen Verein sprach Muzaffer Ayata und erklärte gegenüber der prokurdischen Zeitung "Özgür Politika" auf die Frage, welche Erfahrungen er in Haft gemacht habe, unter anderem: "Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich war lange in der Türkei inhaftiert und kenne die Gefängnisatmosphäre. Damals waren wir allerdings mit vielen anderen zusammen, hier in Deutschland ist man alleine. Das war schwierig." Befragt nach den Erwartungen für die Zukunft und seiner Einschätzung zur politischen Lage, antwortete er, dazu im Moment nichts Konkretes sagen zu können. Die Haltung der deutschen Politik gegenüber den Kurden resultiere aus dem ungelösten türkisch-kurdischen Konflikt. Deshalb sei sie negativ. Deutschland habe sich eben nicht auf die eigene Politik konzentriert, sondern orientiere sich auf die Türkei und deren Verhalten. Folge hiervon seien Kontrolle, Überfälle und Verhaftungen. Er wisse nicht, wie auf juristischem Wege dagegen vorgegangen werden könne, aber der politische Kampf müsse fortgeführt werden. "Ich werde da weitermachen, wo ich aufgehört habe, als man mich verhaftet hat."

Muzaffer Ayata hat sich zeitlebens für die Rechte des unterdrückten kurdischen Volkes eingesetzt und war dafür über 20 Jahre in türkischen Gefängnissen. Nach seiner Flucht ins europäische Exil im Jahre 2002 setzte er seine politische Arbeit fort. So war er in Deutschland der Ansprechpartner für die prokurdischen Parteien HADEP/DEHAP (später verboten) beziehungsweise der DTP. Außerdem hat er sich publizistisch in zahlreichen Beiträgen vehement für eine politische Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts eingesetzt.


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LKA-Beamte suchen in kurdischen Vereinen und Wohnungen nach "Beweismitteln" / Ermittlungen gegen Vezir T. wegen §129 StGB

Im Zuge eines Ermittlungsverfahrens gegen Vezir T. wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§129) wurden die kurdischen Vereine in Halle und Leipzig, die Geschäftsräume eines Imbissbetreibers in Eichenbarleben sowie die Wohnungen einschließlich Kraftfahrzeuge von fünf Kurden in Leipzig und Hanau durchsucht. Laut Beschluss des Amtsgerichts Halle vom 7. Juli wurden die Durchsuchungen angeordnet, weil "aufgrund von Tatsachen zu vermuten" sei, dass diese "zur Auffindung von Beweismitteln" führen würden. Im einzelnen sollen das sein:

"Abrechnungsunterlagen, Spendenquittungen und -listen, Publikationen, insbesondere inkriminierte Zeitschriften, Propagandamaterial wie Plakate, Flugblätter etc., Telefonabrechnungen, elektronische Speichermedien und sonstige Unterlagen, die Aufschluss geben über die Tätigkeit des Beschuldigten für die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen. Ferner Telefone und Computer, da diese organisationsrelevante Daten enthalten und als Tatmittel der Einziehung unterliegen können."

Das Gericht ordnete auch die "Beschlagnahme dieser bzw. solcher Gegenstände" an. Die Durchsuchung erfolgte am 30. Juli durch Beamte des Landeskriminalamtes Sachsen-Anhalt.


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Früherer PKK-Verantwortlicher zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt

Am 12. August wurde der frühere Leiter der PKK-Region Süddeutschland, Aslan Y., vom Oberlandesgericht (OLG) wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§129a StGB) und zweifacher schwerer Brandstiftung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Der Angeklagte hatte eingeräumt, in der Zeit zwischen November 1993 und Februar 1994 für mehrere Anschläge - unter anderem auf einen türkischen Sportverein, eine Gaststätte und ein Reisebüro in Wiesbaden - mitverantwortlich gewesen zu sein. Von der PKK hat sich der Kurde bereits vor vielen Jahren getrennt. Der 41-Jährige war am 1. Oktober 2008 bei der Einreise aus Dänemark von Beamten der Bundespolizeiinspektion Flensburg verhaftet worden. Die Festnahme erfolgte aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des BGH vom 16. März 1999.


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Landgericht Dresden verurteilt Halil S. zu Freiheitsstrafe auf Bewährung

Am 6. Juli endete vor dem Staatsschutzsenat des Landgerichts Dresden das Verfahren gegen Halil S. mit einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf drei Jahre Bewährung wegen des Verstoßes gegen das Vereinsgesetz. Ursprünglich war gegen ihn wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§129 StGB) ermittelt worden; später wurden die Ermittlungen "nur" wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz fortgeführt. Das Gericht verurteilte ihn schließlich wegen des Vorwurfs, als "Raumverantwortlicher" für die PKK/den KONGRA-GEL aktiv gewesen zu sein. Halil S. war am 13. März 2009 an der deutsch-tschechischen Grenze fest- und in Untersuchungshaft genommen worden, in der er sich bis zum Ende des Prozesses befand. Der Haftbefehl wurde aufgehoben und Halil S. aus der Haft entlassen.


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15. August: Berliner Bündnis demonstriert für "Solidarität mit dem kurdischen Freiheitskampf" - Provokationen im Vorfeld

Seit Wochen wird in der Türkei breit über die von Abdullah Öcalan angekündigte neue Initiative zur Lösung des türkisch-kurdischen Konfliktes diskutiert, die zum 25. Jahrestag der Aufnahme des bewaffneten Kampfes der PKK vorgestellt werden sollte. Während Zehntausende Kurdinnen und Kurden am 15. August auf einem Festival in der kurdischen Kleinstadt Eruh an die Bildung der Guerilla erinnerten und mit einem Meer von Fahnen mit dem Bild von Öcalan für den Frieden demonstrierten, haben Berliner Behörden im Vorfeld der Demonstration "Solidarität mit dem kurdischen Freiheitskampf" alle Bilder des kurdischen Politikers verboten.

Gegen diese Provokation hat das Berliner Kurdistan-Solidaritätskomitee protestiert und am 14. August unter anderem erklärt:

"Wir sehen in diesem Verbot einen Angriff auf die Meinungsfreiheit. Offenbar sucht die Berliner Polizei bereits im Vorfeld nach Gründen, um gegen unsere Demonstration vorzugehen. Wir wollen friedlich von unserem Demonstrationsrecht Gebrauch machen, ohne dabei von der Polizei und der Stadt Berlin zensiert zu werden.

Mit unserer Demonstration wollen wir alle Schritte zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage unterstützen. Millionen Kurdinnen und Kurden haben immer wieder deutlich gemacht, dass sie in Abdullah Öcalan ihren Repräsentanten sehen. Zahlreiche Politiker, Persönlichkeiten, Journalisten, Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle auf türkischer und kurdischer Seite sowie Angehörige von im Krieg getöteten türkischen Soldaten und kurdischen Guerillakämpfern haben sich bereits positiv auf Öcalans Friedenslösung bezogen. Die türkische Regierung ist durch Öcalans Friedensinitiative unter Zugzwang geraten und hat ihrerseits Reformen angekündigt. Erstmals hat sich Ministerpräsident Erdogan mit Vertretern der im Parlament vertretenen kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP getroffen, die er bisher als Terror-Sympathisanten diffamiert hatte, weil sie sich positiv auf Abdullah Öcalan bezieht.

Offenbar wollen die Berliner Polizei und Versammlungsbehörde hinter den positiven Entwicklungen in der Türkei zurückbleiben. Damit stehen die Berliner Polizei und Versammlungsbehörde auf derselben Seite wie diejenigen Kräfte im türkischen Militär und Staatsapparat, die mit Provokationen und Gewalttaten jeden Schritt zum Frieden sabotieren."


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Bundesinnenministerium bestätigt Fortsetzung der Kriminalisierung - PKK/KADEK/KONGRA-GEL bis hin zu KCK-Kennzeichen verboten

Im Vorfeld einer in Frankfurt/Main geplanten Kundgebung zu Öcalans Friedensplan hatte das Polizeipräsidium (Kriminaldirektion K 42) beim Bundesinnenministerium um eine Bewertung der Zulässigkeit der Verwendung von Kennzeichen gebeten. Mit Schreiben vom 5. August 2009 teilte das Ministerium unter anderem mit: "Die unter der Bezeichnung PKK gegründete Organisation hat sich seit 2002 mehrfach umbenannt, zuletzt im Jahre 2007 in KCK. Über alle Umbenennungen hinweg hat sich die PKK programmatisch, strukturell, personell und in ihren Tätigkeiten im wesentlichen nicht verändert; die Umfirmierungen wirken sich daher in Bezug auf das vereinsrechtliche Verbot des Bundesministers des Innern (22. November 1993, Azadi) gegen die PKK nicht aus."

Deshalb - so das BMI - erstrecke sich das Verbot gegen die PKK "auf sämtliche Bezeichnungen der PKK, namentlich auf die aktuell verwendete Bezeichnung KCK."


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Im Vorfeld der Auflösung von VIKO und Verbot von ROJ TV: OVG NRW erklärt Anordnung zur Wohnungsdurchsuchung eines kurdischen Journalisten für rechtswidrig

Im Zusammenhang mit der Beschwerde gegen die Wohnungsdurchsuchung eines früheren Mitarbeiters der TV-Produktionsfirma VIKO in Wuppertal im Mai 2008, die Sendungen für den kurdischen Fernsehsender ROJ-TV hergestellt hatte, hat das Oberverwaltungsgericht für NRW mit Beschluss vom 19. Juni die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung festgestellt und diese aufgehoben.

Das Gericht sah die Voraussetzungen der Anordnung des Verwaltungsgerichts Köln als nicht gegeben, weil keine "hinreichenden Anhaltspunkte" nach § 4 Abs. 4 Satz 2 Vereinsgesetz vorgelegen hätten hinsichtlich des Verdachts, dass der Journalist ein Mitglied oder Hintermann des Vereins sei. "Vage Anhaltspunkte" oder "bloße Vermutungen" seien nicht ausreichend. Zudem habe das Arbeitsverhältnis des Journalisten mit der Firma VIKO "schon seit August 2007 nicht mehr" bestanden. Auch aus der Erwägung des VG Köln, Erdal A. sei einst Mitarbeiter der Zeitung "Özgür Politika" gewesen, hätten sich keine "aussagekräftigen Anhaltspunkte entnehmen" lassen. Das VG Köln hatte außerdem versucht, die Durchsuchungsanordnung mit der "Langjährigen umfangreichen exilpolitischen Tätigkeit für die PKK" - unter anderem als Vorsitzender eines kurdischen Vereins - zu begründen. Hierzu habe der Betroffene aber "glaubhaft" versichert, nach 2002 nicht mehr im Verein tätig geworden zu sein, "geschweige denn", eine Veranstaltung im Oktober 2007 angemeldet beziehungsweise geleitet zu haben - wie vom VG behauptet. Auch die Beschlagnahmeanordnung wurde vom OVG aufgehoben, weil sie "zu unbestimmt" gewesen sei. Nach Information der Verteidigerin wurden die aus der Durchsuchung gewonnenen Daten inzwischen sowohl vom Landeskriminalamt als auch vom Bundesinnenministerium vernichtet.


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Spitzelanwerbeversuch in Delmenhorst

In Delmenhorst hat das BKA versucht, einen kriegsversehrten ehemaligen Guerillakämpfer der PKK als Spitzel anzuwerben. Der Betroffene, Ismail Isik, der für den Kurdischen Roten Halbmond, Heyva Sor a Kurdistanê (HSK) tätig ist, wies den Versuch als Beleidigung zurück und machte den Vorfall öffentlich. Dem Anwerbeversuch vorausgegangen war eine Durchsuchung seiner Wohnung im Februar 2009, bei der persönliche Gegenstände beschlagnahmt wurden. Gegen Isik läuft ein Strafverfahren wegen Unterstützung der PKK. Knapp sechs Monate später wurde er aufgefordert, die beschlagnahmten Gegenstände abzuholen. Auf dem Polizeirevier wurde ihm dann jedoch gesagt, alle Gegenstände müssten noch einzeln aufgelistet werden und er solle am nächsten Tag wiederkommen. Am folgenden Tag erklärten die Polizisten, er könne die Dinge ohnehin nicht tragen, weil er ja keine Hände habe und er solle am nächsten Tag wiederkommen. Isik weigerte sich und teilte mit, er werde solange auf dem Polizeirevier sitzen bleiben, bis ihm sein Eigentum ausgehändigt werde. Daraufhin erschienen zwei Polizeibeamte, einer davon türkischer Herkunft, der andere mutmaßlich ein für PKK-Angelegenheiten Verantwortlicher, der bereits bei der Hausdurchsuchung anwesend war. Diese fragten ihn, warum er nicht gehe und bezeichneten ihn als PKK-Mitglied. Ismail Isik erklärte daraufhin." Ich erweise Ihnen Respekt, aber auch Sie müssen sich mir gegenüber respektvoll verhalten. Sie verfolgen mich, durchsuchen meine Wohnung, sind ständig hinter mir her - das ist eine gravierende Respektlosigkeit."

Als Antwort schlug ihm einer der Polizisten eine Zusammenarbeit vor. Im Gegenzug werde er viel Geld, eine Wohnung und ein Auto bekommen. Man wisse über ihn Bescheid, er kenne "jeden" und verfüge über "viele Beziehungen". Im Falle einer Zusammenarbeit werde er nicht weiter observiert und gestört. Dieses Ansinnen lehnte Isik vehement ab: "Ich werde mein Volk und mich niemals verraten." Daraufhin entstand ein heftiger Dialog, in dessen Verlauf der Polizist sagte: "Du arbeitest für die PKK und sammelst Geld für Heyva Sor. Wenn wir wollen, können wir Dir auch Deinen Pass wegnehmen", worauf Isik darauf hinwies, dass Heyva Sor eine Hilfsorganisation sei. Nach dem Vorfall wandte sich der Kurde an seinen Anwalt, um rechtliche Schritte gegen die beteiligten Polizisten zu prüfen.


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Konferenz für Integration und gegen Kriminalisierung

Am 9. September fand im Berliner Abgeordnetenhaus eine ganztägige Konferenz "Kurden in Deutschland - Geschichte, Gegenwart, Perspektiven für Gleichstellung" statt, an der rund 150 Interessierte teilnahmen. Veranstalter waren Giyasettin Sayan, der für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus sitzt, die Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, YEK-KOM, die Internationale Liga für Menschenrechte sowie der Deutsch-Arabische Dachverband, DAD e.V.. Eröffnet wurde die Konferenz vom ehemaligen Oberbürgermeister von Berlin, Walter Momper. Als prominenter Gast sprach Osman Baydemir, Oberbürgermeister von Diyarbakir (kurd.: Amed), insbesondere über die Integration der zahlreichen vertriebenen Inlandsflüchtlinge aus den kurdischen Dörfern in die Gesellschaft der Stadt. Er berichtete über die Initiativen und Projekte seiner "Partei der demokratischen Gesellschaft" (DTP).

Alle Redner_innen aus dem wissenschaftlichen, politischen und selbstorganisierten Bereich kritisierten die deutsche Politik hinsichtlich der Ungleichbehandlung der hier lebenden kurdischen Bevölkerung gegenüber anderen Migrant_innengruppen. Die Konferenzteilnehmer_innen positionierten sich zudem gegen die seit 16 Jahren anhaltende Kriminalisierung politisch aktiver Kurd_innen und forderten einhellig die Aufhebung des Betätigungsverbots der PKK. "Dieses Verbot ist ein Anachronismus", folgerte Dr. Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte. Der Abgeordnete der Linksfraktion im Bundestag und Völkerrechtler, Prof. Norman Paech, der wie Gössner die friedenspolitischen Bemühungen Abdullah Öcalans begrüßte, forderte ebenso dessen Freilassung.

Zu dem Komplex "Das PKK-Verbot und seine Auswirkungen auf die politische Integration der Kurden" wiesen sowohl Rolf Gössner als auch eine Vertreterin von Azadi auf die massiven Probleme hin, die mit der weitreichenden Kriminalisierung von Kurd_innen, ihren Initiativen und Institutionen verbunden sind. Über die konkrete Auswirkung berichtete ein kurdischstämmiger Student, der als Kind eine Hausdurchsuchung mit bewaffneten Polizisten erleben musste: "Ich wurde wie ein Terrorist behandelt, nur weil mein Vater sich für die Rechte der Kurden eingesetzt hat." Deshalb habe er heute immer noch das Gefühl, nur mit einem Bein in dieser Gesellschaft zu stehen.

Die Konferenzteilnehmer_innen verabschiedeten zum Abschluss eine 10 Punkte umfassende "Berliner Erklärung für Gleichstellung der Kurdinnen und Kurden mit anderen Migrantengruppen", in der es unter anderem heißt: "Die Teilnehmer_innen der Konferenz (...) sind der Überzeugung, dass Zivilgesellschaft, die demokratischen Kräfte unseres Landes, die Selbstorganisationen der Kurd_innen und die verantwortliche Politik große Anstrengungen unternehmen müssen, um eine friedliche, gleichberechtigte und demokratischere Zukunft gestalten zu können. Die aus der Migration der Kurd_innen in Deutschland herauswachsenden Probleme sollten als eine Herausforderung für Gesellschaft und Politik verstanden werden. Daher erklären die Teilnehmer_innen der Konferenz ihren Willen, auch in der Zukunft sich gemeinsam für die Lösung der Probleme der kurdischen Migrant_innen einzusetzen. Sie erachten die heutige Konferenz als einen Beginn weiterer Aktivitäten."


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Muharrem A. wieder auf freiem Fuß - Gericht verhängt dreijährige Bewährungszeit

Der 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin hat am 21. September beschlossen, den 60jährigen Muharrem A. am 24. September aus der Haft zu entlassen; die Restfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit beträgt drei Jahre. Am 7. März 2007 war der "mutmaßliche PKK-Führungsfunktionär" in Berlin festgenommen und beschuldigt worden, von Februar 1994 bis Februar 1995 als hauptamtlicher Kader für die "PKK-Region Bayern" verantwortlich gewesen zu sein und Anschläge "gegen türkische und deutsche Einrichtungen" angeordnet zu haben. Deshalb wurde Muharrem A. vor dem Staatsschutzsenat des Kammergerichts Berlin wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung" nach § 129a StGB angeklagt. Das Verfahren, das am 31. Oktober 2007 begann, endete am 23. Januar 2008 mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten; das Urteil wurde wenige Monate später rechtskräftig. Seit Mai 2009 befand sich der Kurde im offenen Vollzug.

Raute

INTERNATIONALES

Der Kampf geht weiter!

Zur Begnadigungsablehnung Leonard Peltiers

Von Michael Koch, Tokata - Leonard Peltier Support Group Rhein-Main

Der 12. September 2009, Leonard Peltiers 65. Geburtstag, war sicherlich für keinen Menschen ein Grund zum Feiern: Für die Herren des Morgengrauens, jene Beweisfälschungsmafia aus den Reihen des FBI, einer rassistisch motivierten Anklagebehörde und die immer noch auf Rache schwörenden Angehörigen der beiden getöteten FBI-Agenten Coler und Williams sowie die Mehrheit weißer Rednecks nicht, weil Leonard Peltier, seit 33 Jahren inhaftierter indianischer politischer Gefangener und Menschenrechtsaktivist, immer noch lebt; für seine Familienangehörigen, Freunde, Unterstützer - und letztere sind weltweit über 20 Millionen Menschen - nicht, weil die Hoffnung, dass Peltier diesen Geburtstag in Freiheit feiern könnte, wieder zerschlagen wurde.


Zur Person Leonard Peltiers

Leonard Peltier wurde am 12. September 1944 in North Dakota geboren und stammt von Ojibway- und Dakota-Indianern ab, wurde dann aber traditionell von den Lakota angenommen. Seine Kindheit und Jugend durchlebte er wie viele junge "Native Americans": Gegen seinen Willen und gegen den Willen seiner Familie in eine Internatsschule des Buero of Indian Affairs (BIA) gebracht, erfuhr er die Assimilationsgehirnwäsche des weißen Amerika. Die "Erziehungsprogramme" dieser Boarding Schools zielten darauf ab, die kulturelle Identität der indianischen Kinder zu brechen, sie von ihrer Kultur und ihren Familien zu entfremden, um sie so in die Welt des weißen Amerika zu assimilieren. Methoden dieser Zwangsumerziehung wie Schläge, Erniedrigung, sexueller Missbrauch und körperlich-seelische Misshandlungen gehörten zur Tagesordnung.

Nach seiner Rückkehr in das Reservat erlebte der junge Peltier seit Ende der 50er Jahre die Folgen der neuentwickelten "Relocation-Strategie", die Indianer zwingen sollte, ihre Reservate zu verlassen und in die Städte zu ziehen. Hintergrund dieser Maßnahme war, entgegen aller vorgeschobenen Integrationsargumente und Hinweise auf die unzumutbaren Lebensbedingungen in den Armutsregionen der Reservate, die Tatsache, dass sich in den Reservaten über 70 Prozent aller Bodenschätze befinden. Als Folge dieser Strategie starben viele "Native Americans" in ihren Reservaten an Hunger und Krankheit. Und diejenigen, die den Weg in die Städte antraten, landeten dort schnell entwurzelt in den Armutsghettos und überlebten dort zwischen Armut, Gewalt, Drogen und Alkohol.

Diese Erlebnisse sowie Medienberichte über die Auflösung indianischer Demonstrationen durch brutalste Polizeigewalt wirkten auf Peltier, wie er es selbst nannte, wie ein politisierender Elektroschock. Als 20-Jähriger engagierte er sich zunehmend für Bürger-, Menschen- und Indianerrechte, beteiligte sich als 26-Jähriger an der Besetzung von Fort Lawton durch indianische AktivistInnen und schloss sich 1972 dann dem 1968 gegründeten American Indian Movement (AIM) an und nahm auch an dem "March of Broken Treaties" in Washington teil. Spätestens seit diesem Zeitpunkt wurde er vom FBI verstärkt als Unruhestifter registriert. Nach einem Streit mit Polizisten in Zivil, in dessen Verlauf Peltier angeblich diese mit einer Pistole bedroht haben soll (1978 wurde er von dem Vorwurf des versuchten Mordes freigesprochen), tauchte Leonard Peltier unter, da er befürchtete, Opfer einer durch Polizei und Geheimdienste angestifteten Ferne zu werden. Seit diesem Zeitraum engagierte sich Peltier bei den Sicherheitskräften des AIM und kam so 1975 in die Pine Ridge Reservation nach Süd-Dakota.


Zum Hintergrund des Tatvorwurfs

In den 70er Jahren terrorisierte eine unter anderem durch das FBI aufgerüstete und unterstützte reaktionäre indianische Todesschwadron, die sogenannten "Guardians of Oglala Nations" (Goons) die Bewohner der Pine Ridge Reservation. Der korrupte Stammesvorsitzende Dick Wilson kollaborierte mit den Weißen, versuchte gegen den Willen der Mehrheit der Lakota indianisches Land unter anderem wegen möglichen Uranabbaus zu verkaufen und sagte sowohl traditionellen indianischen Familien als auch den sich politisierenden jungen "Natives" den Kampf an. In der Zeit der so genannten Herrschaft des Terrors wurden über 60 Lakota durch die Killertruppen Wilsons ermordet, manche reden von über 100 Personen. Viele wurden verletzt, eingeschüchtert, bedroht. Gegen diese von Weißen geduldete und unterstützte Terrorpolitik (die Morde wurden niemals aufgeklärt und niemals juristisch verfolgt) riefen einige Stammesälteste das American Indian Movement (AIM), eine den Black Panthers analoge, 1968 gegründete indianische Selbstverteidigungsbewegung, zu Hilfe, da weitere Morde zu befürchten waren.

Am 26. Juni 1975 rasten die FBI-Agenten Jack Coler und Ronald Williams mit ihren ungekennzeichneten Wagen in das AIM-Camp auf dem Gelände der Jumping-Bull-Familie bei Oglala. Angeblich verfolgten die beiden Agenten einen 14-jährigen Jungen, der ein paar gebrauchte Cowboystiefel entwendet hätte (typischer Job für das FBI!!). Wie die darauf folgende mehrstündige Schießerei begann ist unbekannt. Wer die oben skizzierte Situation in dem Reservat kannte, wunderte sich nicht und niemand wusste, ob es sich bei dem überraschenden Auftauchen der FBI-Agenten nicht um eine Provokation handelte, um die sich zu dieser Zeit in der Umgebung des Reservats befindlichen Scharfschützengruppen (SWAT-Teams), Nationalgarde-Einheiten und rassistischen Bürgerwehrler in das Reservat zu holen, um mit Unterstützung der Goons ein für alle Male blutig mit dem AIM aufzuräumen.

In Folge des Schusswechsels wurde der junge AIM-Aktivist Joe Stuntz durch Schüsse in den Rücken getötet (was niemals ein juristisches Nachspiel hatte), ebenfalls die beiden FBI-Agenten Coler und Williams. Als maßgebliche Täter wurden die AIM-Aktivisten Dino Butler, Bob Robideau (verstorben dieses Frühjahr in Barcelona) und Leonard Peltier zur Fahndung ausgeschrieben, obwohl viel mehr Personen an dem Schusswechsel beteiligt waren.

Während die schnell inhaftierten Butler und Robideau bereits 1976 vor Gericht gestellt und dort wegen der durchaus gegebenen Notwehrsituation freigesprochen wurden, wurde Leonard Peltier 1976 nach seiner Festnahme in Kanada aufgrund nachweislich gefälschter Beweise und Zeugenaussagen an die USA ausgeliefert und nun vor ein für seine indianerfeindliche und rassistische Gesinnung bekanntes Gericht gestellt. Der gesamte Prozess sowie die vorherige Anklagekonstruktion waren eine skandalöse Häufung von Zeugen- und Geschworeneneinschüchterungen, Erpressung von Falschaussagen von falschen Zeugen und die Unterschlagung von Entlastungsbeweisen sowie Nichtherausgabe von mehreren 100.000 Seiten FBI-Dokumenten. Es ging darum, eine Person symbolisch zu bestrafen, AIM zu zerschlagen und den indianischen Widerstand zu brechen. Um dieses Ziel zu erreichen infiltrierten Agenten der amerikanischen Geheimdienste die indianische Protestbewegung beziehungsweise wurden AIM-Mitglieder durch fingierte Fehlinformationen gegeneinander aufgehetzt, bis hin zum Mord (die so genannte COINTELPRO-Strategie).

Leonard Peltier wurde zu zweimal Lebenslänglich verurteilt. Seit seiner Inhaftierung 1976 gab es im Knast mehrere Attacken sowie ein Mordkomplott gegen Peltier. Die medizinische Versorgung des mittlerweile schwer erkrankten Mannes wurde immer wieder vernachlässigt, so dass Peltier auch hier kurz vor dem Tode stand. Obwohl Peltier als Mustergefangener gilt, zeigt das US-System keinerlei Recht und Gnade. Vielleicht liegt das auch daran, dass Peltier sich nach wie vor auch aus der Haft für die Rechte von Menschen und gegen Ausbeutung, Rassismus und Völkermord einsetzt. Leonard Peltier ist ein durch Krankheiten, Knast und Unrecht gezeichneter, aber ungebrochener Mann, ohne Hass und ohne billige Rachegelüste. Wer mit Peltier jemals Kontakt hatte, kennt dessen Menschlichkeit und seinen Wunsch nach Verständigung und Gerechtigkeit, aber auch sein Engagement und seine kompromisslose Entschlossenheit im Kampf für Gerechtigkeit und gegen die Ausbeutung von Mensch und Umwelt.


Die Tage vor und nach der Begnadigungsanhörung

Die Hoffnung stirbt zuletzt - mit diesem Gedanken riefen wir beim Leonard Peltier Defense Offense Office in Fargo, North-Dakota an, um mit Kari Ann Cowan, einer Nichte Leonard Peltiers, zu sprechen. Wie wird in den USA die Begnadigungsanhörung eingeschätzt? Was können wir in Europa an Unterstützung leisten? Wie geht es weiter, wenn Leonard freikommen sollte? In den Tagen vor und nach der Begnadigungsanhörung dominierte im Kreis von Peltiers Familie, seiner amerikanischen Freunde und UnterstützerInnen verhaltener Optimismus. "Sagt euren Leuten in Deutschland, dass wir dann dringend Geld für ein Mobile Home in der Turtle Mountain Reservation für Leonard benötigen, bis wir für ihn einen eigenen Trauer haben!" Aber auch: "Die nächsten Tage werden für ihn wie die Hölle sein, voller Angst und andererseits Hoffnung, die Ungewissheit kaum aushaltbar. Wir können jetzt nur abwarten. Schreibt ihm in dieser schweren Zeit, er braucht Mut. Euch allen Dank für die große Unterstützung!"

Es ist wie ein Deja-Vu. Seit 1987, seitdem so gut wie alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind, konzentrieren sich viele Bemühungen um Leonard Peltiers Freilassung auf den Begnadigungsweg. Doch bereits 1993 lehnt die Kommission für Strafaussetzung ein Begnadigungsgesuch auf Bewährung ab. Das hierauf erfolgte offizielle Gnadenersuchen an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, eingeleitet durch Peltiers damaligen Anwalt und früheren US-Justizminister Ramsey Clark, bleibt acht Jahre unbeantwortet. 1996 erneute Ablehnung eines Antrages, Peltier auf Bewährung freizulassen. Peltier solle 2008 einen erneuten Antrag stellen. Im Rahmen der Amtswechsel der Präsidenten Clinton/Bush 2001 und Bush/Obama 2009 wird die beantragte Begnadigung Peltiers durch die jeweils scheidenden Präsidenten ebenfalls abgelehnt, 2001 vor allem nach den massiven Interventionen des FBI und des damaligen Gouverneurs von Süd-Dakota, William "Wild Bill" Janklow, letzterer ein bekannter Hasser des indianischen Widerstands und ein der Vergewaltigung eines indianischen Dienstmädchens verdächtigter Rassist.

Am 28. Juli 2009 kommt die U.S. Parole Commission, eine dem US-Justizministerium zugehörige Begnadigungskommission für Bundesdelikte (1) dann im Falle Leonard Peltiers erneut zusammen. Peltier, begleitet von seinen Anwälten Eric Seitz und Bruce Ellison, hat etwa 90 Minuten Zeit sein Anliegen vorzutragen und auf seine Unschuld hinzuweisen. Eine Vertreterin der Turtle Mountain Band of Chippewa Indians bekundet die Bereitschaft, Peltier im Turtle-Mountain-Reservat, wo er vor 64 Jahren geboren wurde, aufzunehmen und sich um einen Wohnort zu kümmern. Der renommierte und mehrfach ausgezeichnete Autor Peter Matthiessen, der mit seinem Buch "In the Spirit of Crazy Horse" eine der umfassendsten Studien über den Fall Peltiers und dessen zeitgeschichtliche Einordnung verfasst hat, trat ebenfalls zu Gunsten Peltiers auf. Allerdings ließ es sich auch die Gegenseite nicht nehmen, die unter dem Vorsitz von Isaac Fulwood tagende Kommission, die aus Mitgliedern besteht, die alle noch durch George H. W. Bush und Georg W. Bush eingesetzt wurden, davon zu überzeugen, dass Peltier niemals aus der Haft entlassen werden dürfe.

Nach 23 Tagen des Hoffens und Bangens und 21 Tage vor Peltiers 65. Geburtstag gab dann die US-Begnadigungskommission am 21. August 2009 ihre Entscheidung bekannt: Die Begnadigung Leonard Peltiers wird erneut abgelehnt. Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft erklärte, die Entlassung Peltiers auf Bewährung "würde die Schwere seines Verbrechens herunterspielen und Respektlosigkeit gegenüber dem Gesetz fördern". An menschenverachtendem Zynismus kaum mehr zu überbieten ist der Hinweis, dass die nächste Begnadigungsanhörung 2024 stattfinden könnte. Dann wäre Leonard Peltier, so fern er noch leben würde, 79 Jahre alt und 48 Jahre unschuldig inhaftiert. Und nichts anderes wollen die gnadenlosen und gesetzlosen FBI-Büttel in den USA: Leonard Peltier soll erst als toter Mann den Knast verlassen - obwohl sie am besten wissen müssten, dass Peltier unschuldig ist. Solange bleibt er in Geiselhaft, damit die mit staatlicher Billigung oder gar Beteiligung geschehenen Morde an indianischen Aktivistinnen und traditionellen Familien, an Mitgliedern sozialer Bewegungen und auch Zeuginnen nicht offiziell ans Licht kommen.


Der Kampf geht weiter

Wie kann es weitergehen? Eines sei gleich vorweg gesagt, der Kampf um Leonards Freiheit muss und wird weitergehen - ab sofort und mit langem Atem. Bislang haben sich weltweit über 20 Millionen Menschen für Peltiers Freiheit eingesetzt - sie werden es weiter tun. Es wird gerade jetzt wichtig sein, die Bandbreite der Aktionen zu verbreitern und Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen zu schließen beziehungsweise zu verstärken. Die Forderung nach Freiheit für Leonard Peltier ist verknüpfbar mit den Kämpfen für die Freiheit Mumia Abu-Jamals und anderer politischer Gefangener aus den sozialen Bewegungen, der Unterstützung des zapatistischen indigenen Widerstands in Mexiko, mit den indigenen Protesten gegen die Regenwaldzerstörung in Peru und anderen lateinamerikanischen Staaten, mit dem weltweiten Kampf für Menschenrechte und gegen Todesstrafe und unmenschliche Haftbedingungen, mit der weltweiten Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht indigener Völker, mit dem ökologischen Widerstand in den USA und anderswo. Die Verweigerung der Begnadigung Leonard Peltiers ist auch ein Indikator dafür, dass die modernen Formen des schleichenden Genozids an den indigenen Völkern Amerikas noch immer Tatsache sind. Ein freier Peltier hätte, so die Befürchtung vieler Herrschenden in den USA, gegebenenfalls einen Nelson-Mandela-Effekt zur Folge, von Alaska bis Feuerland. Unvorstellbar, wenn sich eine gestärkte indigene Solidarität über den gesamten Kontinent gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur, gegen Rassismus, Krieg, Genozid und gegen Menschenrechtsverletzungen sowie für soziale Gerechtigkeit erheben und somit auch die Globalisierung sozialer Kämpfe vorantreiben würde. Doch nun mal ganz pragmatisch, was können die nächsten Schritte sein?


Schreibt an den Obersten Generalstaatsanwalt der USA, Eric Holder, und bittet um eine erneute Beurteilung des gesamten Falles, um die Justizfehler der Vergangenheit endlich korrigieren zu können:

Eric A. Holder, Attorney General U.S. Department of Justice
950 Pennsylvania Avenue, NW Washington, DC 20530-0001

→ Ruft die Telefon-Commentline des Weißen Hauses an und teilt Eure Empörung, Euer Unverständnis, Euren Protest gegen die Entscheidung der Begnadigungskommission mit: 001 202 456-1111 oder 001 202 456-1112.

→ Und außerdem Briefe und Faxe an: President Barack Obama, The White House, 1600 Pennsylvania Avenue, Washington, DC 20500, Fax 001 202 456-2461

→ Außerdem schreibt an Leonard selbst. Er braucht gerade jetzt Zeichen der Unterstützung und Stärkung. Leonard Peltier, # 89637-132, USP-Lewisburg, US Penitentiary, P.O. Box 1000, Lewisburg, PA 17837, USA

Unterschriftenlisten und Flugis können bezogen werden bei Tokata - LPSG e.V., Kölner Str. 1, 63110 Rodgau.
Weitere Informationen gibt es unter www.freepeltier-lpsgrheinmain.de oder auch über lpsgrheinmain@aol.com


Anmerkung

(1) Mehr Infos zur Begnadigungskommission für Bundesdelikte unter www.usdoj.gov.

Raute

INTERNATIONALES

Obamas politischer Gefangener

Seit Jahrzehnten eingesperrt "wegen meiner Unschuld als schlimmstem Delikt".

Von Leonard Peltier

Der nachfolgende Brief von Leonard Peltier wurde leicht gekürzt am 16. September 2009 in junge Welt Nr. 215 veröffentlicht. Hier die vollständige Fassung

Das US-Justizministerium hat einmal mehr gezeigt, dass sein vornehmer und anspruchsvoller Name eine reine Farce ist.(1) Nachdem Lynette Squeaky Fromme aus dem Gefolge des Todeskultführers Charles Manson (die versucht hatte, den früheren US-Präsidenten Gerald Ford zu erschießen), ein kroatischer Terrorist und ein weiterer Ford-Attentäter auf der Basis der gesetzlichen Vorschrift nach 30 Jahren Haft auf Bewährung freigelassen wurden, lehnte der US-Bewährungsausschuß meine Entlassung ab, weil sie "die Respektlosigkeit vor dem Gesetz fördern" würde.

Wenn die US-Regierung nur ihre eigenen Gesetze respektiert hätte, dann wäre ich niemals verurteilt und gezwungen worden, mehr als die Hälfte meines Lebens in Gefangenschaft zu verbringen. Ganz zu schweigen von den bestehenden Verträgen (mit den indigenen Nationen, J.H.), die nach der US-Verfassung das höchste Gesetz des Landes sind, und von der Tatsache, dass jedes Gesetz in diesem Land ohne Zustimmung der indigenen Völker geschaffen wurde und nur zu unseren Lasten angewendet wird. Meine Erfahrungen sollten zumindest kritische Fragen aufwerfen, ob die Bundespolizei FBI zu Recht zuständig ist für "Indianerland". (2) Dass meine Entlassung angeblich "die Respektlosigkeit vor dem Gesetz fördern" würde, stammt ursprünglich vom derzeit noch amtierenden US-Staatsanwalt Drew Wrigley, der hofft, bald mit Hilfe seiner FBI-Kavallerie in den Amtsitz des Gouverneurs von North Dakota einzuziehen. Damit tritt Wrigley in die Fußstapfen von William Janklow, der seine politische Karriere auf dem Ruf auf baute, ein "Indianerjäger" zu sein. Er schaffte es, vom Anwalt der Rosebud-Indianerreservation (wo er vermutlich eine Minderjährige vergewaltigte) zum Justizminister des Bundesstaates South Dakota und US-Kongressabgeordneten aufzusteigen. Manche mögen sich noch daran erinnern, dass Janklow für sich reklamierte, Präsident Clinton davon abgebracht zu haben, mich zu begnadigen, bevor er selbst wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde. Janklows historischer Vorgänger, General George Armstrong Custer, hatte auch gehofft, dass ihn das glorreiche Massaker des (7. US-Kavallerieregiments, J.H.) an den Sioux ins Weiße Haus katapultieren würde. Aber wir wissen alle, welches Schicksal ihn am Little Big Horn am 25. Juni 1876 ereilte.

Anders als die Barbaren, die laut kläffend auf den Fluren der Machtzentralen mein Blut verlangen, sind indigene Völker wahre Menschenfreunde, die für ihre Feinde beten. Dennoch müssen wir realistisch genug sein und uns für den Kampf um Freiheit und Gleichheit als Nationen zu organisieren. Wir stellen fünf Prozent der Bevölkerung von North Dakota und zehn Prozent von South Dakota, und wir könnten diesen Einfluß geltend machen, um unsere Machtposition auf den Reservationen zu stärken. Darauf sollten wir unser Hauptaugenmerk richten. Wenn wir uns als Wählerblock organisierten, könnten wir der ganzen rassistischen Propaganda von der Konkurrenz zwischen den Dakota-Stämmen eine Niederlage erteilen. In den 1970er Jahren waren wir gezwungen, zu den Waffen zu greifen, um unser Recht auf Überleben und Selbstverteidigung zu bekräftigen, aber heute kämpfen wir um Ideen. Gegen die bewaffnete Unterdrückung und Kolonisierung müssen wir uns mit Körper und Geist erheben. Das Völkerrecht ist auf unserer Seite.

Angesichts der eingangs genannten drei Haftaussetzungen zur Bewährung scheint es mein größtes Verbrechen zu sein, dass ich ein Indianer bin. Aber in Wahrheit ist meine Unschuld mein schlimmstes Delikt. In Iran werden politische Gefangene bisweilen freigelassen, nachdem sie Geständnisse zu lächerlichen Anklagen gemacht haben, für die man sie vor Gericht gezerrt hat, um sie oder andere gleichgesinnte Mitbürger zu diskreditieren und einzuschüchtern. Nichts anderes haben das FBI und seine Sprachrohre bei mir gemacht, genauso wie der Bewährungsausschuß, der schon 1993 meine Entlassung auf Bewährung ablehnte, weil ich das geforderte Geständnis verweigerte.

Wen jemand seine Unschuld beteuert, bedeutet das zwangsläufig, daß der Staat falsch liegt, gar selbst schuldig ist. Im US-Rechtssystem wird der Angeklagte nicht für das eigentliche Verbrechen verurteilt, sondern dafür, daß er sich weigert, sich auf einen Handel einzulassen, und weil er es wagt, die Justiz zu zwingen, dem Beschuldigten das Recht zuzubilligen, die vom Staat erhobene Anklage zurückzuweisen. Eine solche "Anmaßung" wird ausnahmslos mit den härtesten Strafanträgen der Staatsanwaltschaft beantwortet, die gängige Richtlinien für das Strafmaß überschreiten und bei denen Bewährung generell verweigert wird.

Der Haß, der uns von Nichtindigenen entgegengebracht wird, zeigt, dass wir alle in einem Boot sitzen. Wenn unsere Stammesregierungen versuchen, dieses Herrschaftssystem nachzuahmen, ist das gelinde gesagt erbärmlich.

Erst kürzlich hat der Oberste Gerichtshof der USA im Fall von Troy Davis die mutmaßliche Unschuld als ausreichende Begründung für einen Berufungsantrag anerkannt. Genau wie die Zeugen, die genötigt wurden, belastende Aussagen gegen mich zu machen, haben die gegen Troy Davis aufgetretenen Belastungszeugen ihre Aussagen widerrufen. Troy Davis stand schon kurz vor seiner Hinrichtung. Ich wäre schon lange hingerichtet worden, wenn die kanadische Regierung an meine Auslieferung nicht die Bedingung geknüpft hätte, dass die Todesstrafe gegen mich nicht verhängt werden darf.

Die alte Ordnung wird sehr treffend durch Richter Antonin Scalia vom Obersten Gerichtshof repräsentiert, der in seinem abweichenden Minderheitsvotum zum Berufungsantrag von Davis konstatierte: "Dieses Gericht hat noch nie geltend gemacht, dass die Verfassung die Hinrichtung eines verurteilten Beschuldigten verbietet, der einen vollständigen und fairen Prozeß hatte, später aber ein Habeas-Corpus-Gericht davon überzeugen kann, dass er 'faktisch' unschuldig ist. Ganz im Gegenteil haben wir diese Frage sogar oft unbeantwortet gelassen, während wir gleichzeitig erhebliche Zweifel äußerten, dass jede Behauptung einer vermeintlichen 'faktischen Unschuld' verfassungsrechtlich relevant ist."

Senator Byron Dorgan aus North Dakota, derzeit Vorsitzender des "Senatsausschusses für indianische Angelegenheiten", führte fast identische Argumente an, als er schrieb, "unser Rechtssystem hat Leonard Peltier des Verbrechens für schuldig befunden, wegen dem er angeklagt war. Ich habe die Prozeßakten durchgesehen, und ich bin überzeugt, daß das Urteil fair und gerecht war".

Für die Ureinwohner Nordamerikas ist es ein groteskes und unfaßbares Argument, dass die Frage nach Unschuld oder Schuld nur etwas mit einem rein rechtlichen Status zu tun haben soll, und die Antwort darauf nicht notwendigerweise in materiellen Fakten begründet sein muß. Es ist allseits bekannt, dass politische Gefangene unabhängig von der Frage nach faktischer Schuld oder Unschuld stets für das, was man ihnen vorwarf, auch verurteilt wurden.

Der Staat verlangt von mir ein falsches Geständnis, um damit ein eher schlampig durchgeführtes Gerichtsverfahren, mit dem ich unschuldig ins Gefängnis geworfen wurde, rechtfertigen zu können. Würden diese Machenschaften aufgedeckt, müßte das zwangsläufig zu einer Untersuchung darüber führen, wie die Vereinigten Staaten auf der Pine-Ridge-Reservation Schlägertrupps trainiert und mit Waffen ausgestattet haben, um eine Basisbewegung zu unterdrücken, die sich dort gegen die Diktatur einer von außen gesteuerten Reservationsverwaltung zur Wehr setzte.

In den USA ist klar definiert, dass es keine politischen Gefangenen geben kann, sondern nur Straftäter, die von ihrem gesetzlichen Richter ordnungsgemäß verurteilt wurden. Man meidet die öffentliche Kontroverse darum, ob die US-Regierung tatsächlich Beweise fabriziert oder unterdrückt, um jene zu bekämpfen, die man als politische Gegner ansieht. Aber genau das ist in jeder Phase des Verfahrens gegen mich geschehen.

Ich bin jetzt Barack Obamas politischer Gefangener, und ich hoffe und bete, dass er den Idealen treu bleibt, für die er als Präsidentschaftskandidat eingetreten ist. Aber wie Obama selbst einräumen würde, hätten wir seine Kampagne nicht verstanden, wenn wir von ihm die Lösung unserer Probleme erwarteten. Nur wenn wir uns selbst organisieren und Druck auf unsere vermeintlichen Anführer ausüben, können wir die Veränderungen erreichen, die wir so dringend brauchen. Unterstützt bitte das Leonard Peltier Defense/Offense Committee dabei, die US-Regierung beim Wort zu nehmen.

Ich danke euch allen, die ihr mir in all den Jahren zur Seite gestanden habt. Ich kann hier niemanden mit Namen nennen, weil ich dann zu viele weglassen würde.

Wir dürfen niemals die Hoffnung aufgeben in unserem Freiheitskampf.

In the Spirit of Crazy Horse,
Leonard Peltier
11. September 2009


Schreibt Leonard an folgende Adresse:
Leonard Peltier # 89637-132
USP-Lewisburg, US Penitentiary
P.O. Box 1000
LEWISBURG, PA 17837, USA


Anmerkungen:

(1) Im Englischen "US Department of Justice", also direkt übersetzt "US-Ministerium für Gerechtigkeit"

(2) Nach den seit dem 19. Jahrhundert bestehenden und immer noch rechtskräftigen Verträgen zwischen den einzelnen indigenen Nationen und der US-Regierung sind die Stammesgebiete (oder "Reservationen") souveräne Gebiete dieser Nationen innerhalb der US-Grenzen und unterliegen der in den Verträgen spezifizierten Selbstverwaltung, wozu in der Regel auch eine eigenständige Polizeigewalt gehört.

[Übersetzung: Jürgen Heiser]

Raute

INTERNATIONALES

Macht euch bereit für die Notfallproteste!

Sie wollen Mumia Abu-Jamal umbringen - wir alle gemeinsam können das verhindern!

Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V.

Seit 27 Jahren bereits sitzt der afroamerikanische Journalist Mumia Abu-Jamal als politischer Gefangener im Todestrakt von Pennsylvania (USA). Sein Prozess und sein Urteil 1982 waren ein Muster an Rassismus und Klassenjustiz - der Vorsitzende Richter verweigerte ihm das Geld für die Verteidigung und bezeichnete ihn als "N....r", das nach US-Standards schlimmste rassistische Schimpfwort. Der Staatsanwalt siebte sich eine Jury, die fast nur aus konservativen Weißen bestand und zeichnete dann vom Angeklagten das Bild eines eiskalten, linksradikalen Killers. In diesem von Rassismus und politischer Repression gekennzeichneten Prozess wurde der völlig chancenlose ehemalige Pressesprecher der Black Panther zum Tode verurteilt. Die lebensfeindlichen Haftbedingungen im Todestrakt haben Mumia jedoch weder gebrochen noch zum Schweigen gebracht. Auch aus der Todeszelle gibt er nicht auf und schreibt gegen die Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft.


Warum wir Mumia Abu-Jamal unterstützen

Die Todesstrafe ist rassistisch: Mehr als die Hälfte aller InsassInnen in den Todestrakten der USA sind Afro-Amerikaner. Die Todesstrafe richtet sich gegen die Armen - mehr als 90 Prozent der Gefangenen sind arm. Mumia Abu-Jamals Fall ist einer von vielen. Er war arm und konnte sich keine wirkliche Verteidigung leisten. Er ist Afro-Amerikaner. Mumias Fall ist beispielhaft für Tausende. Dazu kommt: Er ist politischer Aktivist und den Machthabenden ein Dorn im Auge. Mumia kämpft in all den Jahren nicht nur für seine Freiheit, sondern setzt sich unermüdlich ein - für die zum Tode verurteilten Menschen in den Todestrakten der Welt. Als "Voice Of The Voiceless" (Stimme der Unterdrückten), wie er schon vorher wegen seiner Arbeit als Radiojournalist genannt wurde, gibt er Gefangenen und allen, die keine Zugang zu medialer Darstellung haben, eine Stimme und ein Gesicht.

Anfang April 2009 zeigte das höchste Gericht erneut, was in den USA bereits bei vielen als "Mumia-Ausnahme" bekannt ist: Jedes geltende Recht wird umgedeutet oder einfach ignoriert, wenn es der Absicht der Justiz und Politik im Weg ist, Mumia dafür zu bestrafen, dass er nicht klein bei gibt. Der Oberste Gerichtshof der USA fand gerade mal zwei Worte, um diesen seit beinahe drei Jahrzehnten öffentlich bekannten Justizskandal um den politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal zu kommentieren: "Antrag abgelehnt." Sie wollen Mumia also entweder hinrichten oder für den Rest seines Lebens im Knast begraben.

Nachdem also mit der Entscheidung im April 2009 endgültig abgesegnet wurde, dass ihm kein neues Verfahren gewährt wird, steht für den Herbst 2009 nur noch eine Entscheidung des höchsten US-Gerichts aus: Ob das Todesurteil von 1982 bestätigt wird oder eine neue Jury darüber befinden soll, ob es in lebenslange Haft umgewandelt wird. Die Staatsanwaltschaft von Philadelphia will Mumias Hinrichtung um jeden Preis und macht großen Druck, um dieses Ziel zu erreichen. Nach Aussagen seines Anwalts R. Bryan befindet sich Mumia in der größten Lebensgefahr seit seiner Festnahme 1981.

Schon zweimal haben weltweite Proteste die angeordnete Hinrichtung verhindern können (1995 und 1999) - nur eine breite internationale Protest- und Solidaritätsbewegung wird es auch diesmal fertig bringen können, dass der geplante staatliche Mord nicht durchgeführt werden kann. Natürlich werden auch weiterhin alle rechtlichen Möglichkeiten von seinem Anwaltsteam ausgeschöpft, um ihn vor der Hinrichtung zu retten. Doch unabhängig von der juristischen Lage haben Mumia selbst, seine Verteidigung sowie auch die weltweiten Unterstützerinnen immer wieder klar gesagt, dass politische Verfahren eben nicht im Gerichtssaal, sondern vor allem auf der Straße gewonnen werden.

Die Solidaritätsbewegung in den USA versucht derzeit, politischen Druck auf die Obama-Regierung zu entwickeln. Natürlich ist allen klar, dass genau wie von der rassistischen US-Justiz auch von der Regierung keine Fairness gegenüber politischen Gefangenen zu erwarten ist. Trotzdem will die Bewegung in den USA die Regierung öffentlich in die Verantwortung nehmen und sie gerade in Bezug auf ihre (hohlen) Wahlversprechen von "Change" (Veränderung/Wandel) im Hinblick auf ihre Haltung zum Rassismus in den Gerichten zu einer Stellungnahme zwingen. Ausdruck findet das unter anderen in der Forderung der großen Bürgerrechtsorganisation NAACP nach einer "Civil Rights Investigation" - einer Untersuchung durch die Regierung über den Rassismus in der Justiz am Beispiel von Mumia Abu-Jamals Fall.

Was kann die weltweite Solidaritätsbewegung dazu beitragen, den Forderungen der US-Aktivist/-innen Nachdruck zu verleihen? Wie können wir von hier den politischen Druck auf die Obama-Regierung erhöhen? Schreibt Mumia in den Knast! Es ist wichtig, dass Mumia möglichst viel Post aus vielen verschiedenen Ländern erhält. Da sämtliche Post an ihn von den Behörden kontrolliert wird, bedeutet jeder gefüllte Postsack an ihn eine stille Protestkundgebung, die von Justiz und Regierung registriert wird. Damit können wir ihnen zeigen, dass Mumia Abu-Jamal auch nach 27 Jahren Isolationshaft im Todestrakt nicht vergessen ist und dass wir genau wissen und beobachten, was die Gerichte vorhaben. Es gibt zahlreiche weitere gute Vorschläge wie Mumia individuell geholfen werden kann. Es ist jedoch klar, dass wir gemeinsame starke Proteste brauchen werden, sollte die rassistische US-Justiz es wagen, die Todesstrafe gegen Mumia erneut in Kraft zu setzen.


Bundesweite Demonstration bei Hinrichtung

Die Rote Hilfe e.V. ruft gemeinsam mit den zahlreichen Mumia-Unterstützerinnengruppen und Bündnissen dazu auf, am letzten Samstag vor einem möglichen Hinrichtungstermin eine bundesweite Demonstration in Berlin für das Leben und die Freiheit von Mumia Abu-Jamal sowie für die Abschaffung der Todesstrafe durchzuführen. Im Unterschied zu 1995 und 1999, als die beiden damals gegen Mumia angesetzten Hinrichtungstermine durch ein Zusammengehen von gerichtlichen Einsprüchen seitens der Verteidigung und Protesten der weltweiten Solidaritätsbewegung erfolgreich verhindert werden konnten, kommt es diesmal vor allem auf Massenproteste vor den US-Botschaften und anderen US-Einrichtungen in aller Welt an, denn auf der juristischen Ebene werden wir die Hinrichtung - anders als in den 1990er Jahren - nicht stoppen oder aufhalten können, da der Weg vor die Berufungsgerichte versperrt ist.


"Mumia 3+12"

Sollten US Justiz und Politik ihre Todesdrohung gegen Mumia wirklich in die Tat umsetzen wollen, hat die Free Mumia Bewegung darüber hinaus einen dezentralen Aktionstag ausgerufen. So sollen am dritten Tag nach der Bestätigung des Todesurteils um zwölf Uhr (oder auch später) Einrichtungen der US-Regierung sowie von US-amerikanischen Konzernen Ziel von Protesten und Aktionen des zivilen Ungehorsams sein. Niemand weiß, wann genau eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Vollstreckung des Todesurteils oder lebenslange Haft gegen Mumia fallen wird. Aber ab dem 5. Oktober 2009 kann sie fallen. Sollte es eine Bestätigung des Todesurteils geben, wird möglicherweise nur wenig Zeit bleiben, bis der Gouverneur von Pennsylvania den Hinrichtungsbefehl unterzeichnet und einen Hinrichtungstermin anordnet. Wenn wir uns erst dann über Widerstand gegen diesen staatlich angekündigten Justizmord Gedanken machen, wird es zu spät sein. Wenn die Vorbereitungen aber bereits jetzt beginnen, entwickelt sich auch der notwendige politische Druck schon jetzt! - Worauf warten wir also?


Ohne Euch wird es nicht laufen! Organisiert die Notfallproteste: Werdet laut, werdet aktiv!

Sobald eine Hinrichtung angesetzt ist, muss alles ganz schnell gehen, müssen massenhafte Proteste durchgeführt, muss dafür schon alles vorbereitet sein. Nur sollte allen klar sein, daß eine solche Mobilisierung die Unterstützung und Beteiligung von vielen tausend Menschen benötigt. Daher appellieren wir an alle: Macht den Kampf für das Leben und Freiheit von Mumia Abu-Jamal und für die Abschaffung der Todesstrafe zu Eurer Sache!

Vom Ausgang des Verfahrens hängt nicht allein das Leben Mumia Abu-Jamals ab. Es wird ein entweder positives oder negatives Signal - für den Kampf gegen die Barbarei der Todesstrafe weltweit - sein. Es geht hier also nicht nur um das Leben eines Einzelnen, sondern um die Abschaffung der Todesstrafe generell und um die Freiheit der politischen Gefangenen - weltweit.

Sollte es bis zum Winter noch keine Entscheidung vom Gericht geben, hat die Free Mumia Bewegung bereits jetzt für Mumias 28. Haftjahrestag, den 9. Dezember 2009, einen weltweiten Aktionstag für seine Freiheit ausgerufen.


→ Für das Leben und die Freiheit von Mumia Abu-Jamal!
→ Kein Staat hat das Recht, Gefangene zu ermorden - weg mit der Todesstrafe überall!
→ Freiheit für Leonard Peltier!
→ Freiheit für alle politischen Gefangenen!
→ Baut die Bewegung auf!


*


FREE MUMIA! and all political prisoners!

"Mumia 3 + 12" dezentraler Aktionstag am dritten Tag nach Bekanntgabe eines Hinrichtungsbefehls um 12.00 Uhr (oder später).

Bundesweite Demonstration zur US-Botschaft am letzten Samstag vor der geplagten Hinrichtung, 14 Uhr, Oranienplatz, Berlin

Achtet auf Ankündigungen! Verbreitet Ankündigungen weiter!
YES WE CAN - FREE MUMIA - ABOLISH THE DEATH PENALTY!

Dieser Aufruf wird unterstützt von (Stand 23. Oktober):

Rote Hilfe.ev Bundesvorstand * VVN-BdA Bundessprecherkreis & VVN-BdA Bundesausschuss * Sabine Kebir, Autorin, Berlin * Free-Mumia-Bündnis Bremen * Internationales Verteidigungskomitee (IVK) Bremen * Kampagne; Freiheit für Mumia Abu-Jamal! * Freiheit für Mumie Abu-Jamal Heidelberg e.V. * Berliner FREE MUMIA Bündnis * !Basta ya! - Komitee * arab - Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin * Peter Schrott, Stellvertretender Vorsitzender ver.di Bezirk Berlin * Victor Grossman, Autor, Berlin * Stiftung Haus der Demokratie, Berlin * Hans-Litten-Archiv e.V. * Rote Hilfe OG Hannover * Rote Hilfe OG Bonn * Rote Hilfe OG Hamburg * Rote Hilfe OG Magdeburg * VVN-BdA KV Osnabrück * AbaKuZ e.V., Aschaffenburg * UBI-KLIZ Mieterladen, Berlin * Bürengruppe Paderborn * Suzanna, Sängerin. Berlin * Gipfelsoli * B.A.N.G. Berliner Anti Nato Gruppen * Ya-Basta-Netzwerk * Tierra y Libertad * Gruppe B.A.S.T.A. * Radikale Linke (RL) Nürnberg * Jugend Antifa Aktion (JAA) Braunschweig * Antifaschistische Plenum Braunschweig * Netzwerk Freiheit für alte politischen Gefangenen (bundesweit) www. political-prisoners.net * Gefangeneninfo www.gefangenen.info * Komitee gegen § §129 und Repression (Stuttgart) * Zusammen kämpfen (Magdeburg) www.zusammen-kaempfen.tk * DIE LINKE Landesvorstand Berlin * Netzwerk gegen die Todesstrafe * Mauerfall (Gefangenen Rundbrief) * Monika Morres AZADI e.V., Düsseldorf * FAU-IAA Bonn * FAU Lokalföderation Hannover * Infoladen Salzburg * Jürgen Rump, Bremen * Lea Kühn, BezirksschülerInnensprecherin Essen * Heike Weingarten, Berlin * Andreas Hartle, Architekt, Hannover * Antifaschistische Linke Fürth (ALF) * Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba e.V., Regionalgruppe Essen * Freundschaftsgesellschaft Berlin-Kuba e.V. * Freundeskreis "Ernst-Thälmann-Gedenkstätte" e.V., Ziegenhals * Max Renkl (Vorsitzender des Freundeskreises "Ernst-Thälmann-Gedenkstätte" e.V., Ziegenhals) * Dirk Borrmann, Köln * Phoney Tapes (Record Label) * Drake Records (Record Label) * Ernest Drake * DJ Phoney * Angelika Spell * Brigitte Heilenz, Grossröhrsdorf * Konstantin Brandt, Buchhändler, Berlin * Prof.Dr.Med Sophia Sepperer * Dr. Ursula Joseph, Berlin * Prof. Dr. Detlef Joseph, Berlin Prof. * Dr. Wolfgang Richter - Bundesvorsitzender der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V., amt. Präsident des europäischen Friedensforums (european peace forum epf) * Jutta Kausch, Schauspielerin * Laura Freiin von Wimmersperg, Moderatorin der Berliner Friedenskoordination * PD Dr. Johannes M. Becker * Dr. Diether Dehm, MdB * Hans Bauer, Rechtsanwalt, Berlin * Dr. sc. Gerhard Feldbauer, Historiker, Publizist. Poppenhausen * Dr. Angelika Hans, Berlin * Doris Pumphrey, Berlin * George Pumphrey, Berlin Revolutionäre Perspektive Berlin * SALZ - Bildungskreis Köln www.salz-köln.de * DAS ANTIEISZEITKOMITEE. Berlin * Gisela Ringwald * Anja Röhl, Rosa Luxemburg Freundeskreis Stralsund * Inge und Kurt Gutmann, Berlin * Dieter Kempe, Berlin * Ina Edelkraut, United Nation Network, Berlin * Ursula Austermann, Berlin * Tokata - LPSG RheinMain e.V. (Rodgau) * Claudia Weigmann-Koch (Rodgau) * Dr. Michael Koch (Rodgau) * Marianne Reiff-Hundt, Internationale Liga für Menschenrechte (Vorstand) * Ilsegret Fink, Berlin * Rosel Müller, Berlin * Erich Freisleben, Berlin * Gudrun Wischeidt, Berlin * Klaus Koch, Glöwen * Ahmad Majd Amin, Berlin * Heike Hänsel, MdB, Linksfraktion im Bundestag * Dr. Alexander King, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Büro Heike Hänsel (MdB) Linksfraktion im Bundestag * Birgit Bock-Luna, Berlin * Heidi Kloor, BundessprecherInnen der AG Betrieb&Gewerkschaft in und bei der Partei DIE LINKE * Birgit Bock-Luna, Berlin * Redaktion Anderslautern * Carsten Ondreka (freier Journalist & DJ) * Linker Block Rostock * Cor u. Gon Steinvoort * Rainer Dittrich (ehem. pol. Gefangener) * Clemens Ronnefeldt, Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes, Freising * Sigrid Becker-Wirth (MediNetzBonn e.V.. Medizinische Beratungs- und Vermittlungsstelle für Flüchtlinge) * Rote Hilfe International * Rote Hilfe des Revolutionären Aufbau Schweiz * Barbara Fuchs * Johannes M. Becker. PD Dr. Marburg. RFA/FRG * KPD (Alfred Fritz stellv. Vors.) * Monika Kneiseler * Bettina Lübeling * SSK - Sozialistische Selbsthilfe Köln e.V. * Dipl. Päd. Josie Michel-Brüning und Dipl. Ing. Dirk Brüning. Jülich * Stephanie Laimer, Bremen * Internationalistischer Abend / im Schnarup-Thumby Frustschutz e.V., Berlin * Tobias Schubert, Berlin * Rote Hilfe OG München * Mumia Bündnis München * Rotdorn, Polit Folk Gruppe, Hamburg * Peter Schenzer, Sozialarbeiter, Hamburg * Christiane Schmied, Künstlerin und Musikerin von EWO2 * Schaltplattenversand JUMP UP, Bremen * KARAWANE für die Rechte der Flüchtlinge und Migrantinnen * The VOICE Refugee Forum * Hildegard Heinemann, Hamburg * Mülayim Hüseyin, Rechtsanwalt, Hamburg * Goetz Steeger, Musiker, Autor, Hamburg * Gruppe Gutzeit, Hamburg * Matthias Kaul, Winsen * Birgit Gärtner, Journalistin, Hamburg * Lisa Politt & Gunter Schmidt, Kabarett-Duo Herrchens Frauchen, Polittbüro, Hamburg * Willi-Bredel-Gesellschaft Geschichtswerkstatt e.V., Hamburg * Nicole Gohlke, MdB, Linksfranktion im Bundestag * Bernd Köhler (Musiker, Grafiker) http://www.ewo2.de/berndkoehler * ewo2 (das kleine elektronische weltorchester) http://www.ewo2.de/ * Bundesausschuss Friedensratschlag, Kassel * Dr. Peter Strutynski, Sprecher Bundesausschuss Friedensratschlag, Kassel * Lühr Hecken, Sprecher Bundesausschuss Friedensratschlag, Hamburg * Hamburger Forum für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung e.V. * Dr. Ulrich Schneider, Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR), Kassel * Robert Krause, Abgeordneter der Bezirksfraktion DIE LINKE HH-Altona * Dr. Heinz Jürgen Schneider, Rechtsanwalt, Autor, Vorstandsmitglied von MAFDAD, Verein für Demokratie und internationales Recht, Hamburg * Flüchtlingsrat Hamburg * Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten, München * Bruno Mahlow, Berlin * Prof. Dr. Günter Wilms, Eichwalde * Hermann Klemser, Berlin * Edeltraur Felfe, Greifswald-Riemserort * Hans Watzek, Berlin * Manfred Coppik, Offenbach * Gretchen Binin, Berlin * Harri Czeprick, Berlin * Elfriede Juch, Berlin * Reiner Nowitzki, Berlin * Evelin Nowitzki, Berlin * Prof. Dr. Gregor Schirmer, Woltersdorf * Graswurzelrevolution - Redaktion und Verlag * DKP Kreisgruppe, Schwäbisch Hall * Eva Gagel, Berlin * Unruhe stiften - Netzwerk KünstlerInnen gegen rechts * Jürgen Reuter, Vorsitzender der Fachgruppe Gymnasien Bezirk Braunschweig, Stellv. Kreisvorsitzender DGB Braunschweig * Tini Reichardt, social worker * Julia Rozek, social worker * Susanne Schmedt, Braunschweig * Dr. Christian Gaedt, Wolfenbüttel * Karin Kelz, Hamburg * DKP Bremen-Nord * Initiative Nordbremer Bürger gegen den Krieg * Ursula Stöger, München * Holger Burner, Musiker * Dipl.Kfm. Axel Köhler-Schnura, Vorstand ethecon - Stiftung Ethik & Ökonomie, Düsseldorf * Marie Orquin, Berlin * Seyed Daniel Amir Ahyaz, Berlin * Anna Schmitt, Berlin * Alexandra Bebeuek, Berlin * Andreas Behrendt, Berlin * Michael Philips, Berlin * Jürgen Buchholz, Bad Sooden-Allendorf * Inge Bennecke, Ziegenhagen * Adrian Baumert, Berlin * Silke Baum, Berlin * Martin Gaube, Berlin * Elke Hahn (GEW Bayern), München

Eine jeweils aktuelle / fast täglich aktualisierte Version der Liste der UnterstützerInnen des RH-Aufrufs findet ihr unter:

www.mumia-soli-muenchen.tk

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INTERNATIONALES

250 Millionen Dollar für eine Hinrichtung

Was sich die USA die Todesstrafe kosten lassen

Für die Abschaffung der Todesstrafe gibt es genügend gute Gründe - unmoralisch ist sie, verhindert keinen einzigen Mord und wird überdurchschnittlich oft bei Minderheiten angewandt. Doch nun ergibt sich ein weiterer Grund gegen die Anwendung dieser Strafe. So profan es klingt: Die Todesstrafe ist schlicht und einfach zu teuer, belastet die ohnehin gebeutelten Budgets - etwa der USA - in nicht geringem Maße. Entgegen dem nationalen Trend machen sich derzeit einige Politiker in den USA wieder Gedanken über die Todesstrafe - aus finanziellen Gründen. Und auch den Befürwortern der Hinrichtungen stünde es gut an, sich mit den vom Death Penalty Information Center, einer Forschungsorganisation gegen die Todesstrafe, gesammelten Daten zu beschäftigen.

Viele US-Bundesstaaten geben Millionen von Dollars aus, um Hinrichtungsverhandlungen zu gewinnen, die einen teure, zweite Verhandlung, neue Zeugen und eine langwierige Jury-Auswahl erfordern. Eine solche Verhandlung vor einem Bundesgericht kostet im Schnitt 620.932 Dollar, acht Mal so viel wie ein Mordprozess ohne geforderte Todesstrafe (1). Auch die Todestrakte selbst, in denen die Verurteilten oft Jahrzehnte lang schmachten, kosten wegen verschärfter Sicherheitsmaßnahmen und nötiger Instandhaltungsarbeiten enorme Summen.

Im Schnitt dauern die Berufungsprozesse der zum Tode Verurteilten 15 bis 20 Jahre. Doch die von einigen Hinrichtunsverfechtern geforderte Abschaffung der Berufungsmöglichkeiten wird - noch - von den meisten US-Politikern abgelehnt. Denn dies wäre undemokratisch und würde die Zahl der unschuldig Hingerichteten noch erhöhen, heißt es.

Doch zurück zu den Zahlen. Nach Angaben des Death Penalty Information Center (DPIC) gibt allein der Bundesstaat Florida jedes Jahr 51 Millionen Dollar an Steuergeldern mehr aus, als die Unterbringung bei lebenslanger Haft kosten würde, um die Verurteilten in der Death Row zu halten. North Carolina hat seit 1976 insgesamt 43 Menschen hinrichten lassen - zu Gesamtkosten von 2,16 Millionen Dollar pro Exekution. Für den Staat Maryland berechnet das DPIC auf Grundlage der Hinrichtungen der Jahre 1978 bis 1999 einen Finanzaufwand von durchschnittlich 186 Millionen Dollar für je fünf Hinrichtungen.

Das krasseste Beispiel stellt California mit seinem Terminator-Gouverneur dar. Die dortige Death Row kostet den Steuerzahler jährlich 114 Millionen Dollar mehr, als die lebenslange Haft der zum Tode Verurteilten kosten würde. In diese Summe fließen unter anderem die jährlichen Zusatzkosten von jeweils 90.000 Dollar für jeden der 670 einsitzenden Todeskandidaten ein. Seit 1976 hat dieser Bundesstaat 13 Menschen exekutiert - insgesamt liefen für jede Hinrichtung Kosten in Höhe von etwa 250 Millionen Dollar auf. Nach dieser Rechnung lässt sich California sein Festhalten an der Todesstrafe jedes Jahr etwa 137 Millionen Dollar kosten. Es ist dies ein Staat, in dem die Gefängnisse aus allen Nähten platzen und die ständig klamme Regierung gnadenlose Einschnitte bei Sozialleistungen, Gesundheitswesen, Schulen und Parks vornimmt. Doch für Hinrichtungen scheinen die Millionen weiter zu fließen. Amerikanische Politiker argumentieren, ganz im Rahmen des Repressionsapparats, dass das Geld doch besser für Polizisten, Gerichte, Pflichtverteidiger und neue Gefängnisse ausgegeben werden sollte.

Die republikanische Senatorin Carolyn McGinn aus Kansas weist darauf hin, dass ihr Staat, der die Anwendung der Todesstrafe 1994 bestätigt hatte, in den letzten 40 Jahren keine einzige Hinrichtung durchgeführt hat, während die Kosten für die in den Todeszellen Einsitzenden weiter laufen. Im Februar brachte sie einen Gesetzentwurf ein, der die Todesstrafe in Kansas durch lebenslange Haft ersetzen sollte. Dieser Antrag erfuhr zwar einiges Interesse, wurde aber abgelehnt. Auch in anderen Bundesstaaten wurden ähnliche Argumente vorgebracht - ebenfalls erfolglos. Immerhin, New Mexico setzte die finanziell inspirierte Argumentation als einziger Staat konsequent um und schaffte die Hinrichtungen im März ab.

Wenn schon die moralischen, humanen und politischen Argumente bei der Mehrzahl der US-Politiker nicht verfangen, ließe zumindest darauf hoffen, dass sie wenigstens aus finanziellen Gründen dem Beispiel New Mexicos folgen und die Todesstrafe endlich abschaffen.


→ Weitere Informationen zu den Kosten der Todesstrafe finden sich auf der Homepage des Death Penalty Information Center:
www.deathpenaltyinfo.org/costs-death-penalty


Anmerkung

(1) Die Kostenfrage ist für die Verurteilten eine Frage von Leben und Tod: Wer genug Geld aufbringen kann und einen guten Anwalt hat, hat auch größere Chancen, mit dem Leben davon zu kommen. In einem Drittel der bisher vor einem Bundesgericht verhandelten Fälle konnten die Todeskandidaten weniger als 320.000 Dollar aufbringen - 44 Prozent von ihnen wurden hingerichtet, In den verbleibenden zwei Dritteln der Fälle konnten die Verurteilten über 320.000 Dollar für ihr Verfahren aufbringen. Hier lag die Quote der darauf folgenden Hinrichtungen bei 19 Prozent.

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INTERNATIONALES

Englands Gesetzeshüter außerhalb des Gesetzes

Die britische Polizei gerät immer mehr in die Kritik - selbst aus den eigenen Reihen. Dies zuletzt deshalb, weil sie die teils recht vagen Gesetze exzessiv zu ihren eigenen Gunsten auslegt und dabei auch vor harten Maßnahmen gegen Kinder und Jugendliche nicht haltmacht. So bemängelte der "Ethische Beirat" des Innenministeriums im September, dass die Polizei "auf freiwilliger Basis" DNA-Proben von Zehn- bis 18-Jährigen sammelt und speichert. Noch größeres Aufsehen erregte ein Zwischenfall im Londoner Süden im Juli, als Zivilpolizisten ein sechsjähriges Mädchen durchsuchten - unter Berufung auf das Anti-Terror-Gesetz. Derweil verbitten sich die zahlreichen britischen Polizeibehörden jegliche Einflussnahme von Seiten der Politik - sonst sei ihr "guter Ruf" gefährdet.

Einen Gesetzesverstoß begehen die britischen Gesetzeshüter immer öfter, wie der Ethik-Beirat des Innenministeriums kürzlich warnte. Nämlich immer dann, wenn sie DNA-Proben von Minderjährigen ohne deren schriftliche Einverständniserklärung oder die ihrer Eltern nehmen. Nach Ansicht der Kommission gibt es dafür keine rechtliche oder ethische Grundlage. Damit könnten solche Handlungen als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte oder als Zwang eingestuft werden.

Solche Zwangshandlungen kommen auf den britischen Inseln in den letzten Jahren immer häufiger vor. Überwiegend werden die DNA-Proben von Minderjährigen genommen, um nach dem Ausschluss-Prinzip Schuldige zu ermitteln. Die mehr oder weniger freiwilligen jugendlichen Blutspender stehen also meist nicht selbst unter Verdacht, sondern sollen durch diese Kooperation ihre Unschuld beweisen. Der ethische Beirat ist zwar der Ansicht, dass dies in Ausnahmefällen durchaus in Ordnung ist. Jedoch sollten diese Proben dann keinesfalls in der nationalen DNA-Datenbank gespeichert werden.

Doch genau dies ist der Fall. Wie die Kommission im September in einem Bericht festhielt, finden sich in dem Zentralregister die Datensätze von 24.000 Jugendlichen, die niemals eines Verbrechens verdächtigt oder gar verurteilt worden sind. Und offenbar sollen diese DNA-Proben - und nicht nur die von Jugendlichen - noch weitaus länger gespeichert werden, als dies bisher schon der Fall ist. Denn das Innenministerium plant, die Speicherdauer der Daten explizit unschuldiger Menschen auf zwölf Jahre zu verlängern. Um dieses zweifelhafte Vorhaben umzusetzen, soll es quasi "durch die Hintertür des Parlaments" gebracht werden, wie die Kommission kritisiert - nicht als Gesetz, sondern als Verordnung, die kaum das Interesse der Abgeordneten und der Lords erregen dürfte.


Was der Europäische Menschenrechtsgerichtshof für ungesetzlich erklärt hat, will die Regierung nun durch die Hintertür einführen

Damit handelt das Ministerium aber nach Auffassung seines eigenen Beirats im Widerspruch zum wegweisenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der entschieden hat, dass die unbegründete Blanko-Speicherung der DNA-Profile von Menschen, die zwar festgenommen, aber nicht angeklagt worden seien, ungesetzlich ist. Die Ethik-Kommission warnte vor ungewollten Nebeneffekten und erklärte, ein solches Durchpeitschen sei "bedauerlich", eine solche Vorlage sollte lieber ordentlich diskutiert werden.

Zur Rechtfertigung erklärte Innenstaatssekretär Alan Campbell, er habe die Meinung der National Policing Improvement Agency und der Nationalen DNA-Strategie-Kommission eingeholt. Doch das Ministerium steht nicht nur zu dieser einseitigen Absicherung, es geht noch weiter: Der Vorsitzende des Beirats, Professor Peter Hutton, der den kritischen Bericht zu verantworten hat, ist nach Pressemeldungen durch Innenminister Alan Johnson von seinem Posten abberufen worden. Nun präsidiert der willfährigere Christopher Hughes der Ethik-Kommission. Ein bezeichnendes Licht auf das Innenministerium wirft dies vor allem deshalb, weil der Beirat erst vor zwei Jahren gegründet worden war - mit dem offiziellen Auftrag, die Minister "bei der Einrichtung und Nutzung der nationalen DNA-Datenbank zu beraten", und nicht einfach abzunicken.

Der zweite Jahresbericht der Kommission, dem auch die hier behandelte Kritik entnommen ist, führt noch weitere Problemfelder auf. So heißt es dort, die Art der gespeicherten Daten zum ethnischen Hintergrund der Personen "entspricht nicht der Zielsetzung". Denn unter den insgesamt über vier Millionen Datensätzen (bei etwa 61 Millionen Einwohnern) finden sich Proben von 37 Prozent aller schwarzen Männer im Vereinigten Königreich, aber nur von weniger als zehn Prozent aller weißen Männer.


Selbst kleine Kinder werden auf offener Straße durchsucht

Doch die zunehmende Speicherung von DNA-Sätzen ist nicht der einzige Kritikpunkt, den sich die britische Polizei gefallen lassen muss. Auch die - anders als etwa in Deutschland - erst seit kurzem, nämlich unter der Anti-Terror-Gesetzgebung, zulässigen Körperdurchsuchungen auf offener Straße nehmen immer mehr zu - und damit das Unbehagen in der Bevölkerung und die Frage nach Sinn und Effizienz dieser Maßnahme. Und so haben inzwischen manche besonders drastischen Fälle eine offizielle Untersuchung zur Folge. Etwa eine Polizeiaktion vom Juli, als zwei Zivilpolizisten im Süden Londons einen 43-Jährigen auf offener Straße anhielten, vor eine Überwachungskamera führen, um sein Bild aufzunehmen (und zur Sicherheit noch Aufnahmen mit ihrer eigenen Kamera machten, da die CCTV-Bilder nur selten ausgewertet werden können) (1) und seine Mobiltelefone, seine USB-Sticks und eine CD beschlagnahmten. Dies alles unter Berufung auf die Anti-Terror-Gesetzgebung. Doch was zu einem öffentlichen Aufschrei führte war die Tatsache, dass die beiden Polizisten auch die beiden kleinen Mädchen filzten, mit denen der Mann unterwegs war - seine elfjährige Tochter und die sechsjährige Nachbarstochter.

Im September teilte die bei der Londoner Metropolitan Police angesiedelte "Unabhängige Polizei-Beschwerde-Kommission" mit, dass sie das Dienstaufsichtsverfahren gegen die beiden Polizisten leiten und beobachten werde. Dass sich die Beschwerdekommission in ein solches eher niederrangiges Verfahren einschaltet, ist ungewöhnlich. Ursache dessen ist, dass sich die Beschwerden über Körperdurchsuchungen häufen. Allein die Beschwerdekommission der Londoner Polizei hat in den letzten Monaten einige Dutzend solcher Nachrichten erhalten. Der oben angeführte Fall rechtfertigt selbst in den Augen der Beschwerdekommission eine öffentliche Untersuchung. In einer Presseerklärung teilte das Gremium Mitte September mit: "Der Beschwerdeführer erklärte, dass ihm, als er fragte, auf welcher Gesetzesgrundlage sein Eigentum beschlagnahmt würde, erklärt wurde, dies geschehe nach Paragraf 44 des Terrorismusgesetzes von 2000. Er beklagte außerdem, dass er nicht darüber informiert wurde, wann er seine Habe wieder bekommen könne oder wen er dazu kontaktieren müsse. Es habe von Seiten der Polizei keine Kommunikation gegeben außer der Versicherung, dass ihm mitgeteilt werden würde, wenn er seine Sachen abholen könnte."

Der Leiter der Kommission, Mike Franklin, erklärte, die Durchsuchungsbefugnisse nach Paragraf 44 seien "eine sehr sensible Angelegenheit". Es sei "besonders bedenklich, dass zwei junge Mädchen auf diese Art und Weise durchsucht wurden". Doch die Liste der Beschwerden über den Missbrauch der Anti-Terror-Vollmachten ist um einiges länger. Ebenfalls im Juli erklärte die 27-Jährige Gemma Atkinson, sie werde die Polizei vor dem Obersten Gericht verklagen. Sie war mit Handschellen gefesselt, auf eine Wache gebracht und mit Gewahrsam bedroht worden - weil sie Polizisten mit ihrem Mobiltelefon gefilmt hatte. Atkinsons Festnahme erfolgte einen Monat nach Inkrafttreten des umstrittenen Paragrafen 58a, einer Ergänzung des Terrorismusgesetzes, die das Fotografieren von Polizisten unter Strafe stellte, wenn die Bilder für Terroristen lediglich "nützlich sein können".


Konservative Politiker brüsten sich, bei der Polizei "das Ruder in der Hand" zu haben

Derweil treten die britischen Polizeibehörden lautstark für ihre Unabhängigkeit von politischen Weisungen ein. Denn was angesichts des oftmals reichlich überzogenen Auftretens der Polizei mancher schon länger vermutet hat, wollte ein Politiker der Konservativen Partei kürzlich auch offiziell erklären. Kit Malthouse, ein hochrangiger Mitarbeiter von Londons Oberbürgermeister Boris Johnson, hatte getönt, seine Partei habe Scotland Yard in der Hand. Umgehend erklärten sowohl Sir Paul Stephenson, Präsident der Metropolitan Police, als auch Ian Johnston, der Vorsitzende der Police Superintendents' Association, dass eine Politisierung der Polizei zugunsten "kurzlebiger politischer Dogmata" eine Gefahr für die Polizei als solche sei.

Der Konflikt über vermeintliche oder tatsächliche Einflussnahme auf die Polizei schwelt schon seit Monaten. In einem Interview mit dem "Guardian" erklärte Malthouse, stellvertretender Londoner Bürgermeister mit Zuständigkeit für Polizeiangelegenheiten, erst kürzlich, er und Oberbürgermeister Johnson hätten "die Hand am Ruder" der Metropolitan Police. Was Sir Stephenson umgehend klarstellen ließ, er habe das Kommando.

Tatsache ist aber, dass Stephenson selbst erst ans Ruder kam, als im vergangenen Jahr Sir an Blair als Polizeichef von London entlassen wurde - auf direktes Betreiben von Boris Johnson hin. Kein Wunder, dass Ian Johnston Ende September erklärte: "Gewählte Bürgermeister stellen eine ernsthafte Gefahr für die operative Unabhängigkeit der Polizei dar." Er sieht die Gefahr, dass der vermeintlich "gute Ruf (der Polizei) irreparablen Schaden nehmen könnte", wenn Politiker weiter Einfluss nähmen. Oder aber, wenn sie offen sagten, was längst Realität ist. Weiter sagte Johnston: "Es ist für die Polizei jetzt nötiger als je zuvor, standhaft zu sein und weiterer politischer Einflussnahme zu widerstehen." Dabei spielt gerade Johnston eine heikle Doppelrolle: Er ist sowohl Chef der Londoner Polizei und damit im Einflussgebiet von Oberbürgermeister Johnson tätig als auch oberster Terrorismus-Bekämpfer im Vereinigten Königreich, womit er dem Innenministerium untersteht. So zerren gleich zwei Dienstherrn an ihm: Das Londoner Rathaus, das von einer nach den Wahlen zu erwartenden konservativen Regierung unter anderem auch formal das Recht haben möchte, den Londonder Polizeichef zu feuern. Und andererseits die Regierung, deren wohl zukünftiger Chef, der Vorsitzende der Konservativen, David Cameron, darüber nachdenkt, lokale Polizeichefs von den Parlamenten wählen zu lassen.

Doch weder die Labour-Regierung, die für die Anti-Terror-Gesetze verantwortlich ist, noch eine vermeintlich unabhängige Polizei wären eine Erleichterung für die Bürger des Vereinigten Königreichs. Denn egal unter welcher Regierung, egal unter wie lautem Unabhängigkeitsgeschrei auch immer - als Teil des Apparats besorgt die Polizei schon seit langem die Politik der Einschüchterung und des Terrors. Dass sich die so um die korrekte Darstellung ihrer Funktion bemühten Offiziere dabei nur ungern an die Gesetze halten, lässt das Vertrauen in die Gesetzeshüter nicht unbedingt wachsen.


Anmerkung

(1) Vergleiche RHZ 3/08 und nebenstehenden Artikel "Der Große Bruder sieht alles - und ist damit überfordert.

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INTERNATIONALES

"Anti-Terror-Gesetze" füllen griechische Gefängnisse mit Linken

Heike Schrader, Athen

Lange Jahre erschien Griechenland im Vergleich mit Deutschland geradezu als demokratisches Paradies. Noch heute müssen Demonstrationen hier nicht angemeldet werden, es gibt keinerlei Auflagen für die Größe von Transparenten und die in Deutschland schon lange verbotenen Helme und als Fahnen getarnte Knüppel sind fester Bestandteil jeder Demonstration, nicht nur der außerparlamentarischen Linken.

Dennoch herrscht natürlich nicht nur eitel Sonnenschein im linken Griechenland. Die Bestrebungen der Europäischen Union zur Verschärfung der Gesetze im "Kampf gegen den Terror" und die Anstrengungen für die Austragung der Olympischen Spiele brachten die das Land fast zwei Jahrzehnte regierende sozialdemokratische PASOK schon vor Jahren auf den Pfad der Antiterrorgesetzgebung. In einem ersten Anlauf verabschiedete die PASOK im Sommer 2001 das "Gesetz gegen das organisierte Verbrechen". Es folgte im Wesentlichen den Vorgaben der Europäischen Kommission. Allerdings wurden abweichend weder die Besetzung öffentlicher Gebäude, noch Ausschreitungen im Zuge von Demonstrationen oder die Zustimmung zu terroristischen Aktionen unter Strafe gestellt. Im Sommer 2002 verhaftete die Polizei 19 mutmaßliche Mitglieder der griechischen Stadtguerillaorganisation "17. November". Im Dezember 2002, drei Monate vor Beginn der Gerichtsverhandlung, verabschiedete die Regierung ein Gesetz, mit dem die Einschränkungen der Rechte der Beschuldigten legalisiert und die Berichterstattung von Rundfunk und Fernsehen aus dem Gerichtssaal verboten wurde. Dem neuen Gesetz nach wurden die folgenden "Terroristenprozesse" auch nicht mehr vor Geschworenengerichten, sondern vor Berufsrichtergremien verhandelt.

Mit der Übernahme der Regierung durch die konservative Nea Dimokratia im März 2004 wurde die Repressionsschraube in Griechenland um eine ganze Reihe weiterer Drehungen angezogen. Bereits wenige Monate nach Regierungsantritt, kurz vor dem Beginn der Olympischen Sommerspiele in Athen im Sommer 2004, verabschiedete die Nea Dimokratia eine verschärfte Version einer noch von der PASOK entwickelten Gesetzesvorlage für ein neues Antiterrorgesetz. Zum ersten Mal wurde hier der Begriff des Terrorismus definiert. Demnach ist eine Handlung terroristisch, wenn sie "mit Methoden oder in einem Ausmaß oder unter Bedingungen ausgeführt wird, die geeignet sind, dem Land oder einer internationalen Einrichtung ernsthaft zu schaden, das Ziel hat, eine Menge in Angst zu versetzen oder eine staatliche oder internationale Einrichtung zur Ausübung einer Handlung zu zwingen oder diese zu verhindern, oder darauf gerichtet ist, die verfassungsrechtlichen, politischen oder ökonomischen Fundamente eines Landes oder einer internationalen Einrichtung zu zerstören oder ihnen ernsthaft zu schaden."


Das neue Antiterrorgesetz wird standardmäßig gegen Autonome und Anarchisten eingesetzt

Obwohl das selbe Gesetz auch die Bewertung von symbolischen Besetzungen öffentlicher Gebäude oder Militanz auf Demonstrationen als terroristische Handlungen zulässt, schlug die erste Probe einer solchen Anwendung zunächst einmal fehl. Als Ende 2006 drei Autonome für die Entwendung von Polizeiausrüstung bei gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht vor ein Berufsrichtergericht gestellt werden sollten, entschied der zuständige Untersuchungsrichter, dass das Werfen von Molotow-Brandsätzen noch keine terroristische Strafstaat darstelle und verwies den Fall an ein normales Geschworenengericht. Mit dem Erfolg, dass die drei Aktivisten mit einem Freispruch und zwei durch die Untersuchungshaft abgedeckten Strafen freikamen.

Allerdings wird das Antiterrorgesetz geradezu standardmäßig gegen im Zusammenhang mit Demonstrationen verhaftete Autonome und AnarchistInnen verwendet, um sie mit sehr löcheriger Anklage für lange Monate ohne angesetzten Prozesstermin in U-Haft verschwinden zu lassen. Bei den zahlreichen Verhaftungen während der Jugendrevolte im vergangenen Dezember wurde das Gesetz in dieser Weise sogar gegen eine Reihe Minderjähriger angewandt. Häufig kann die meist lediglich auf Aussagen von Polizisten beruhende Anklage vor Gericht vollständig entkräftet werden und die AktivistInnen werden freigesprochen. Eine Entschädigung für die zu Unrecht verhängte Untersuchungshaft jedoch wird in den seltensten Fällen gezahlt. Bei einem gesetzlich vorgesehenen Betrag von etwa 3,5 Euro pro erlittenem Knasttag könnte man sie allerdings auch kaum als echte Entschädigung bezeichnen.

Besonders in den letzten Monaten ihrer Regierungszeit wurden von der Nea Dimokratia darüber hinaus eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet, die einzig und allein der Unterdrückung von jeder Art militantem oder potenziell militantem Widerstand dienen. So werden die seit einigen Monaten in Athen agierenden, mit wendigen kleinen Motorrädern ausgestatteten schnellen Eingreiftrupps der Polizei hauptsächlich für die Verfolgung mutmaßlicher Steine- oder BrandsätzewerferInnen eingesetzt. Auch in Griechenland bisher unbekannte Polizeitaktiken wie Kessel, flächendeckende Kontrollen und Massenverhaftungen bei Protestveranstaltungen wurden ins polizeiliche Repertoire aufgenommen. In Kürze sollen der Polizei in Athen und Thessaloniki erstmals auch Wasserwerfer zur Verfügung stehen.

Ein neues Gesetz sieht drastische Straferhöhungen für jedes Vergehen vor, wenn der Täter oder die Täterin dabei ein Kapuze getragen oder das Gesicht auf andere Weise vermummt oder unkenntlich gemacht hat. Die seit Ende der Olympischen Spiele nur noch zur Verkehrsüberwachung erlaubten Kameras sind nun zur Rund-um-die-Uhr-Überwachung - auch von Demonstrationen - zulässig. Außerdem wurde im Justizministerium die Einrichtung einer flächendeckenden DNA-Datenbank vorbereitet, in der jedeR einer Straftat auch nur Verdächtigte erfasst werden soll. Mobilfunkunternehmen wurden verpflichtet, die Adressdaten auch der BenutzerInnen von Prepaid-Kartentelefonen zu erfassen. Bisher konnte man Prepaid-Verbindungen an jedem Kiosk des Landes ohne Vorlage eines Ausweises erwerben.

Darüber hinaus gab der leitende Staatsanwalt am Obersten Gerichtshof kurz vor seiner Pensionierung noch zwei Gutachten heraus, nach denen Besetzungen zukünftig als automatisch von der Staatsanwaltschaft zu verfolgende Straftat (Offizialdelikt) zu gelten, Telefon- oder Internetprovider auf jeden Antrag der Polizei hin die Kommunikationsdaten ihrer NutzerInnen freizugeben haben und der Einsatz von Kautschukkugeln seitens der Polizei erlaubt wird. Derartige Gutachten sind zwar im Anwendungsfall vor Gericht anfechtbar. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass solche staatsanwaltlichen Vorlagen über kurz oder lang mit entsprechenden Gesetzen rechtlich verbindlich gemacht werden.


"Anarchismus" = "Terrorismus" = "Organisiertes Verbrechen"

In der öffentlichen Propaganda dienten die neuen Gesetze und Maßnahmen der "Kriminalitätsbekämpfung" und entsprechen dem "Sicherheitsbedürfnis des Bürgers". Immer wieder mussten auch die als Reaktion auf die Ermordung des 15-jährigen Schülers Alexis Grigoropoulos durch einen Polizisten erlebten militanten Proteste tausender Jugendlicher im vergangenen Dezember als "Begründung" für derartige Polizeistaatmaßnahmen herhalten. Darüber hinaus wurde in den Massenmedien bei jeder Gelegenheit eine Verbindung von "Anarchismus" beziehungsweise "Terrorismus" mit dem "Organisierten Verbrechen" herbeigemutmaßt.

Doch der Verweis auf die Dezemberunruhen war der Nea Dimokratia nur ein Vorwand, um von den eigentlichen Gründen für den aus ihrer Sicht notwendigen drastischen Anzug der Repressionsschraube abzulenken. Militanz in allen Formen, vor altem aber die seit der Dezemberrevolte tatsächlich gestiegene Bereitschaft zur Selbstorganisierung und Teilnahme an sozialen Auseinandersetzungen, sind den Herrschenden in Griechenland natürlich alles andere als willkommen. Sie haben zu fürchten, dass sich im Zuge der immer heftiger werdenden Krise mehr und mehr Arbeitende, sozial Ausgegrenzte oder Abgerutschte in den Kampf um eine gerechtere Verteilung der Güter dieser Welt einklinken. Deswegen wird hier mit alten Mitteln sowohl an der Unterdrückung von Klassenkämpfen als auch an der Schaffung von Feindbildern und Sündenböcken gearbeitet.

Dazu kam der Druck von rechts außen, vor allem seit den Wahlen zum Europaparlament im Juni dieses Jahres. Hier hatte Nea Dimokratia massiv WählerInnen an die rechtsextreme und rassistische Partei "Völkisch Orthodoxe Sammlung, LAOS" verloren (siehe auch nebenstehenden Kasten). Die vor der Europawahl fast ausschließlich von LAOS verbreitete Mär einer vermeintlichen Überfremdung der Innenstädte durch angeblich Krankheiten verbreitende und kriminelle MigrantInnen wurden nach dem Wahlerfolg der Rechtsextremen sofort von der konservativen Regierungspartei aufgegriffen. Mit Razzien, Massenabschiebungen, der Einrichtung von Internierungslagern und Gesetzesverschärfungen versuchte die Nea Dimokratia, die am rechten Rand verlorenen WählerInnen zurückzugewinnen. Die von ihr verabschiedeten Regelungen sehen unter anderem die Verdoppelung der möglichen Dauer der Internierung von Flüchtlingen auf sechs Monate, die Verkürzung des Asylverfahrens auf eine einzige Instanz - Widerspruch ist nur noch wegen Verfahrensfehlern möglich - sowie hohe Strafen für "illegale Einwanderer" und Schleuser vor, unabhängig davon, ob letztere gegen Bezahlung oder uneigennützig gehandelt haben.

Während die Systemparteien auf diese Weise die Opfer einer menschenverachtenden Asylpolitik zu Tätern umdefinierten, gelang es den Straßenfaschisten erstmalig, in systematisch erzeugten Problemzonen Fuß zu fassen. Sankt Panteleimon im Zentrum Athens ist eines der Viertel, in denen hunderte von MigrantInnen ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Möglichkeit eines legalen Broterwerbs, in Abbruchhäusern oder auf dem zentralen Platz vor der gleichnamigen Kirche Leben. Bereits im November vergangenen Jahres trat hier erstmalig ein "Komitee aufgebrachter Bürger" in Erscheinung, das mit den LAOS-"Argumenten" Stimmung gegen MigrantInnen machte. Nach Einschätzungen von in Athen seit Jahren aktiven Antifa-AktivistInnen wurde das Komitee durch Kader von LAOS und der straßenfaschistischen Organisation Chrisi Avgi, zu deutsch Goldene Morgendämmerung, initiiert. Ende November organisierte das "Bürgerkomitee" seine erste Kundgebung, aber nur 40 bis 50 Leute ließen sich unter den offen gezeigten Fahnen der Chrisi Avgi und deren Parolen von "Blut, Ehre, Goldene Morgendämmerung" sehen. Während Linke und MigrantInnen eine Gegenkundgebung organisierten, stellte sich der Staat an die Seite der Faschisten. Kurze Zeit später wurden die ersten "illegalen" Migrantenunterkünfte von der Polizei geräumt.


LAOS - Griechenlands neue, alte Rechte

LAOS war im Jahre 2000 vom ehemaligen Abgeordneten der Nea Dimokratia Giorgos Karatzaferis gegründet worden. Der bis dahin den äußeren rechten Flügel der Partei bedienende Karatzaferis war aus der Nea Dimokratia ausgeschlossen worden, weil er einem Parteifunktionär Homosexualität und ein Verhältnis mit dem Parteivorsitzenden Kostas Karamanlis angedichtet hatte. Schon während seiner Zeit in der Nea Dimokratia hatte Karatzaferis versucht, anderen rechtsextremen oder offen faschistischen Kleinstparteien eine Heimat in der Partei zu bieten. Die dafür innerhalb der Nea Dimokratia gegründete Fraktion "Neue Hoffnung" hatte allerdings keinen entsprechenden Wiederhall gefunden. Mit dem LAOS sollte das anders werden. Schon auf dem Gründungsparteitag sprachen bekannte Faschisten wie Makis Voridis, Chef der "Griechischen Front", Pendant der "Nationalen Front" von Le Pen in Frankreich und Kostas Plevris vom "4. August", benannt nach dem Putschdatum des Hitlerverehrers und ehemaligen Diktators Ioannis Metaxas.

Weil "Griechische Front" und LAOS trotz weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung bei den Parlamentswahlen im März 2004 noch getrennt antraten, verfehlten beide den Einzug ins Parlament. Im Oktober 2005 aber wurde man sich auch personell einig. Die "Griechische Front" löste sich auf, Makis Voridis zog zusammen mit zehn von ihm ausgewählten Funktionären ins Zentralkomitee des LAOS ein. Derart vereint gelang der extremen Rechten bei den Wahlen im September 2007 mit 3,78 Prozent der Sprung über die Dreiprozenthürde. Bei den jüngsten Europawahlen im vergangenen Juni gelang es den Rechten dann, mit der von den Medien hofierten Hetze gegenüber MigrantInnen und der Forderung nach mehr Polizeistaat dieses Ergebnis auf 7,15 Prozent fast zu verdoppeln. Bei den Wahlen zum Parlament im Oktober erzielte die Partei 5,62 Prozent und 15 Mandate im 300 Sitze zählenden Parlament.

In Griechenland bestimmen die WählerInnen durch Kreuze auf der Parteiliste, welche Abgeordnete ins Parlament einziehen. Bei den Wahlen am 16. September 2007, aber auch bei den jüngsten Wahlen Anfang Oktober gab die Klientel von LAOS neben Karatzaferis eindeutig den bekannten Faschisten den Vorzug. Außer Voridis zog auch Thanos Plevris beide Male ins Parlament. Letzter verdankt seinen Sitz einzig und allein der Tatsache, Sohn des bekannten Faschisten Kostas Plevris zu sein. Der ehemalige Sekretär des Diktators Metaxas steht wegen Aufstachelung zum Rassenhass vor Gericht, weil er in seinem letzten Buch unter anderem geschrieben hatte, Juden verstünden keine andere Sprache als die Exekution und Hitler hätte gut daran getan, sie aus Europa zu vertreiben.

Bei ihrer Demagogie nutzt LAOS geschickt Probleme aus, die in Griechenland aufgrund des EU-Abkommens auftreten, nach der ausschließlich das erste Einreiseland innerhalb der EU für Flüchtlinge zuständig ist. Die Anzahl der im elf Millionen Einwohner zählenden Land gestellten Asylanträge übertrifft die der in der BRD gestellten bereits seit Jahren. Aussicht auf eine Anerkennung als Flüchtling oder eine Duldung haben die Wenigsten, Anspruch auf Unterbringung, Verpflegung oder Arbeitserlaubnis gibt es nicht. Und so überleben vor allem in den großen Städten tausende von MigrantInnen ohne Papiere in leerstehenden Häusern, in Parks oder selbstgebauten Baracken.


Polizei und Faschisten gehen gemeinsam gegen Antifaschisten vor

Ermutigt von solchen "Erfolgen" und der offenen Zusammenarbeit der Polizei mit den Faschisten, die immer häufiger gegen MigrantInnen, solidarische Linke und AnarchistInnen vorging, gelang es den Faschisten, sich in Sankt Panteleimon festzusetzen. Heute sind die AnwohnerInnen in zwei Lager gespalten, wobei die Rechten die Oberhand haben. Veranstaltungen von griechischen und ausländischen ViertelbewohnerInnen, linken Organisationen und Flüchtlingsvereinen wurden von Faschisten zerschlagen. Im Mai zündeten "Unbekannte" ein als Gebetsraum genutztes Untergeschoss eines Hauses an. Der Pfarrer von Sankt Panteleimon wurde bedroht, ein von Flüchtlingen genutzter Kellerraum der Kirche ausgebrannt.

An anderer Stelle schrecken die Faschisten sogar vor Mordanschlägen auf Migranten und Antifaschisten nicht zurück. So warfen "Unbekannte" im Februar dieses Jahres beispielsweise eine Handgranate gegen ein Fenster eines vom "Netzwerk für Migranten" genutzten linken Zentrums. Im entsprechenden Raum tagte zu dem Zeitpunkt eine Versammlung von Kriegsdienstverweigerern. Nur die von innen gegen die Scheibe geklebte starke Plastikfolie verhinderte, dass die Handgranate in die Menschenmenge flog. Im Juli dieses Jahres griffen Faschisten mit Molotowcocktails eines der ältesten besetzten Häuser in Athen an, in dem gerade eine Theatervorstellung beendet worden war. Die mehrheitlich aus der anarchistischen Szene stammenden Bewohner und Theaterbesucher konnten den Angriff jedoch zurückschlagen. Pikantes Detail: Die angreifende Gruppe von Faschisten war kurz zuvor noch im trauten Gespräch mit dem damaligen Vizeinnenminister und politischem Dienstherrn der Polizei beobachtet worden.

In den wenigsten Fällen kümmert sich die Polizei darum, die Täter dingfest zu machen, Verurteilungen von Faschisten sind selten. Statt dessen schützen griechische Polizisten, in der nach Einschätzung von Antifa-AktivistInnen nicht wenige Mitglieder der Chrisi Avgi sind, die Faschisten nicht nur vor militanten Gegendemonstranten, sondern greifen diese Demonstrationen sogar gemeinsam an. Immer wieder gelangen Fotos und Videoaufnahmen an die Öffentlichkeit, in denen zu sehen ist, wie Polizei und mit Messern und Knüppeln bewaffnete Faschisten gemeinsam Jagd auf Antifaschisten machen. Bei einer Demonstration am 7. Juli dieses Jahres konnten Fotoreporter festhalten, wie Faschisten aus dem Schutz der Polizei heraus Brandsätze auf anarchistische Demonstranten warfen.


"Ministerium für den Bürgerschutz": Neuer Name, altes Programm

Anfang Oktober wurde in Griechenland ein neues Parlament gewählt. Dabei gelang der sozialdemokratischen PASOK die Rückkehr an die im März 2004 an die konservative Nea Dimokratia verlorene Regierungsmacht. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Verhältnisse unter der neuen Regierung zum Besseren verändern. Zwar bekam das ehemalige "Ministerium für Öffentliche Ordnung" vom neugewählten Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou den wohlklingenden Namen "Ministerium für den Bürgerschutz" verpasst. Dass es sich dabei aber um Orwell'sches Neusprech handelt belegt schon die Tatsache, dass mit Michalis Chrysochoidis ein alter Bekannter zum Minister gekürt wurde. Chrysochoidis war bereits in der letzten PASOK-Regierung oberster Hüter der "Öffentlichen Ordnung". Unter seiner Dienstherrschaft waren dem im Sommer 2002 schwerverletzt aufgegriffenen Mitglied der Stadtguerillaorganisation 17. November, Savvas Xiros, kaum aus dem Koma erwacht und noch auf der Intensivstation liegend unter Umgehung jeder rechtstaatlichen Gepflogenheiten Informationen über die Organisation abgepresst worden (1).

Nur eine Woche nach seiner Vereidigung zeigte der alte und neue Oberpolizist denn auch, wie seine Vorstellungen von "Bürgerschutz" aussehen. Im Athener Stadtviertel Exarcheia, einem von Alternativen, Linken und vor allem Autonomen, keinesfalls aber von Kriminalität geprägten Stadtteil wurde die Polizeipräsenz drastisch verstärkt. In Mannschaftsstärke patrouillieren Uniformierte jetzt täglich durch die Straßen des Viertels und kontrollieren alles, was auch nur im Entferntesten nach Unangepasstem aussieht. Dabei wurde auch schon mal ein zufällig anwesender Rechtsanwalt mit festgenommen, nur weil er Einspruch gegen die unbegründete Ingewahrsamnahme von Jugendlichen erhoben hatte.

Als Lippenbekenntnis ist auch die Ankündigung von Chrysochoidis einzuschätzen, unter seiner Herrschaft werde jeder Polizist, der sich nicht an die Gesetze halte, vom Dienst suspendiert. Kurz nach Dienstantritt des Polizeiministers war im Athener Stadtteil Nikaia ein Migrant an den Folgen schwerer Misshandlungen auf der dortigen Polizeiwache verstorben. Bisher ist hier jedenfalls noch kein Beamter vom Dienst suspendiert worden.

Von der PASOK-Regierung ist auch kein Umdenken im Umgang mit Migration zu erwarten. Bereits vor der Wahl hatte der jetzige Ministerpräsident, Girogos Papandreou, "Null Toleranz" gegenüber "illegaler Einwanderung" angekündigt. Wie schon bei der Nea Dimokratia setzt man auch bei der PASOK auf den "Ausbau der Grenzsicherung" mit Hilfe der Europäischen FRONTEX. Weil dies allein nicht genügte, hatte man unter der Nea Dimokratia massiv auch zu illegalen Rückführungen von aufgegriffenen Flüchtlingen in die Türkei gegriffen. In verschiedenen Fällen konnte nachgewiesen werden, dass Flüchtlinge gar nicht erst als solche registriert, sondern an die Grenze zur Türkei verschleppt und von dort aus in kleinen Booten über den Grenzfluss ins Nachbarland gebracht wurden. Ob diese Methode auch unter der PASOK zum Einsatz kommt, wird sich zeigen.


Katastrophale Zustände in den Gefängnissen

Gar nichts zu hören, weder im Wahlkampf noch danach, war von der PASOK zur Lage in den griechischen Knästen. Hier hatten sich im November 2008 etwa 5000 der insgesamt 12.500 Gefangenen an einem Hungerstreik gegen ihre unmenschlichen Haftbedingungen gewehrt. Die noch vom Nea Dimokratia-Justizminister versprochenen Maßnahmen gegen die unglaubliche Überbelegung, fehlende medizinische Versorgung, willkürlichen Disziplinarstrafen und fehlenden Alternativen zur Gefängnisstrafe sind jedoch nur in schwachen Ansätzen umgesetzt worden.

Kein Ton auch zur Lage der seit mehr als sieben Jahren gefangengehaltenen politischen Gefangenen aus dem 17. November-Prozess. Von den ehemals 15 Verurteilten sind sechs nach Absitzen der Mindeststrafe bereits nach und nach entlassen worden. Drei zu je 25 Jahren Verurteilte und die sechs "Lebenslangen" sitzen aber nach wie vor in unterirdischer Kleingruppenisolation. Zwei von ihnen haben im Gefängnis mit schweren gesundheitlichen Schäden zu kämpfen. Dem durch die vorzeitige Explosion einer Bombe und die nachfolgende "Behandlung" in einem Athener Krankenhaus schwer geschädigten Savvas Xiros wird trotz zahlreicher Anträge jede Unterbrechung der Strafe zur Behandlung verwehrt. Im Gefängnis hat er bereits zwei Netzhautablösungen erlitten und droht durch die Haftbedingungen auch das wenige ihm noch verbleibende Augenlicht vollständig zu verlieren.

Um dieser Gefahr zu begegnen hat Savvas Xiros Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben. Dazu kommt eine mysteriöse Infektion an den Beinen, derentwegen Savvas mittlerweile zwischen Gefängniskrankenstation und Zelle hin und her pendelt. In unregelmäßigen Abständen schwellen dem Gefangenen die Beine an, werden schwarz und die Haut bricht an verschiedenen Stellen mit eitrigen Wunden auf. Auf der Krankenstation wird dies mit massiver Vergabe von Antibiotika solange behandelt, bis die Symptome verschwunden sind. Doch zurück in der Zelle bricht die Krankheit nach kurzer Zeit wieder aus. Auch den Ärzten ist bewusst, dass die Quelle für die immer wiederkehrende Infektion in den lichtlosen Kellerverliesen liegen muss. Trotzdem kommt für die Behörden eine Verlegung des Kranken oder gar eine Entlassung aus gesundheitlichen Gründen nicht in Betracht.

Savvas älterer Bruder Christodoulos, bis vor seiner Verhaftung ein kerngesunder Mann, hat in den Kellerverliesen eine Allergie entwickelt, die ihn bereits mehrmals mit den Symptomen eines lebensgefährlichen allergischen Schocks ins Krankenhaus gebracht hat. Trotz hoher Dosierung von Antihistaminika, Cortison und ansonsten in der Krebsbehandlung eingesetzten Medikamenten ist die sich durch entzündete Geschwüre am ganzen Körper äußernde Allergie nicht geheilt worden. Obwohl Ärzte auch hier bestätigen, dass die Krankheit durch die sonnenlichtlose, unterirdische Haftumgebung ausgelöst wird, wurden mehrere Anträge des Gefangenen auf Verlegung in einen anderen Zellentrakt abgelehnt.


Die Zellen im unterirdischen Isolationstrakt könnten noch voller werden

Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die leeren Zellen im unterirdischen Isotrakt demnächst wieder gefüllt werden könnten. Zum einen nähert sich das seit dem 22. Oktober letzten Jahres laufende Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der griechischen Stadtguerillaorganisation "Revolutionärer Volkskampf" (ELA) dem Ende. Von den ursprünglich vier Angeklagten ist einer, Kostas Agapiou, inzwischen verstorben. Er hatte zusammen mit Christos Tsigaridas, Irini Athanasaki und Angeletos Kanas in gleich zwei getrennten erstinstanzlichen Verfahren unter der Anklage der Mitgliedschaft im ELA und der Beteiligung an deren Anschlägen vor Gericht gestanden. Beide Male hatte sich kein Beweis für eine Beteiligung auch nur einer oder eines der Angeklagten an irgendeinem Anschlag der Organisation finden lassen. Der Anklagepunkt der Mitgliedschaft war jedoch nach Ansicht beider Gerichte verjährt. Trotzdem fielen die Urteile in beiden Verfahren diametral entgegengesetzt aus.

Das erste Gericht leitete von einer zwar verjährten, aber als erwiesen betrachteten Mitgliedschaft der Angeklagten ohne weitere Beweise deren Beteiligung an den Anschlägen des ELA ab. Die Urteilsbegründung lautete, dass man nicht nur Christos Tsigaridas, der als einziger eine Mitgliedschaft im ELA zugegeben hatte, sondern alle Angeklagten für ehemalige Mitglieder der Organisation halte. Als Mitglieder aber hätten sie den unbekannten Tätern auf unbekannte Weise bei der Vorbereitung der Anschläge geholfen.

Das zweite Gericht dagegen wies eine derartige Herleitung zurück und sprach alle Angeklagten frei. In der Begründung hieß es für Tsigaridas, eine Mitgliedschaft allein sei noch kein Beweis für die Teilnahme an den Anschlägen, während den anderen Dreien die Mitgliedschaft nicht nachgewiesen worden sei. Das Berufungsgericht muss nun im Grunde entscheiden, ob der Schuldspruch oder der Freispruch in erster Instanz rechtens war. Obwohl auch im Berufungsverfahren der Vorwurf der Mitgliedschaft als verjährt gilt und es nicht den kleinsten Hinweis auf die Beteiligung der Angeklagten an den Anschlägen gibt, fürchtet die Verteidigung, dass das Gericht mit aller Gewalt versucht, dem Schuldspruch aus erster Instanz Geltung zu verschaffen. In einem Interview erklärte Marina Daliani, Verteidigerin von Christos Tsigariadas, das Gericht versuche, theoretischen Konstrukten und Hypothesen über den Aufbau der Organisation, Rollen zu verteilen und darüber eine strafrechtliche Verantwortung der Angeklagten an den Anschlägen abzuleiten. Die Zeugen würden Dinge gefragt, die nicht zum Gegenstand der Anklage und auch nicht in die Zuständigkeit eines Strafgerichts gehören. So frage man zum Beispiel nach den politischen Einstellungen der Angeklagten.


Auch griechische Richter finden Geschmack am Konstrukt der "kollektiven Schuld"

Sollte sich dieses Konstrukt der kollektiven Schuld vor dem Berufungsgericht und in Folge auch vor dem Obersten Gerichtshof durchsetzen, wäre dies ein Präzedenzfall, der richtungweisend für kommende Entscheidungen ist. Unmittelbar bedroht von einer derartigen Erweiterung der Strafbarkeit, mit der die strafrechtliche Verantwortung von der Tat und dem Tatbeweis abgekoppelt wird, sind dann zumindest vier junge Menschen. Sie wurden kurz vor den Wahlen in einer studentisch genutzten Wohnung festgenommen. In der Wohnung wurde nach Angaben der Polizei ein Schnellkochtopf zusammen mit Materialien wie Dünger gefunden, aus denen sich eine Art Bombe herstellen ließe. Obwohl auch andere Studierende die Wohnung genutzt hatten und sich keine Fingerabdrücke der Festgenommenen an dem Kochtopf fanden, wurden der Mieter der Wohnung, sein im gleichen Haus lebender Cousin sowie ein Freund, der einen Schlüssel zur Wohnung hatte, in Untersuchungshaft gesperrt. Nur die Freundin des Cousins wurde vom Haftrichter gegen Auflagen verschont.

Allen Vieren wird - zusammen mit Sechs weiteren, die von der Polizei gesucht werden - die Mitgliedschaft in der Organisation "Verschwörung der Feuerzellen" vorgeworfen. Die "Feuerzellen" traten erstmalig im Januar 2008 mit einer Reihe gleichzeitiger Brandanschläge gegen Banken, staatliche Einrichtungen, Polizeiwagen und Luxuskarossen in Erscheinung. Seit Anfang dieses Jahres verwendet die Organisation nicht mehr nur Gaskartuschen und Brandbomben, sondern auch aus Schnellkochtöpfen gebaute Bomben bei ihren Anschlägen. In einer den Festnahmen folgenden Erklärung bestätigte die Organisation allerdings die Angaben der kriminalisierten Vier, diese hätten rein gar nichts mit der Organisation zu tun. Bleibt zu hoffen, dass die optimistische Einschätzung eines Anwaltes der Beschuldigten Recht bekommt, nach der die filmreife Festnahme lediglich eine Wahlkampfaktion der Nea Dimokratia darstellte, die damit "Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus" vorspiegeln wollte.


Anmerkung

(1) Savvas Xiros hat seine Erlebnisse auf der Intensivstation in einem Buch festgehalten, das auch auf deutsch erhältlich ist: Savvas Xiros, "Guantanamo auf griechisch - zeitgenössische Folter im Rechtsstaat", Pahl-Rugenstein-Verlag, 13,90 Euro.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Aufstehen gegen den repressiver werdenden Staat: Diese Bilder zeigen die vor allem von Jugendlichen getragenen Proteste in Athen im Dezember 2008 und den Folgemonaten

Savvas Xiros, Mitglied der Stadtguerilla 17. November, bei seinem Prozess 2002

Raute

INTERNATIONALES

Gemeint sind wir alle!

Anfang 2010 beginnt der Prozess gegen 10 österreichische Tierrechtler_innen wegen Bildung einer kriminellen Organisation

Valerie Smith

Noch in diesem Jahr wird mit dem Prozessbeginn gegen insgesamt zehn österreichische Tierrechtler_innen, Mitglieder der BAT (Basisgruppe Tierrechte) und des VgT (Vereines gegen Tierfabriken), der Vier Pfoten und der Veganen Gesellschaft gerechnet. Am 10. August wurden die 200-seitigen Strafanträge vorgelegt, die sich vor allem auf den Verstoß gegen den § 278a des Österreichischen Strafgesetzbuches beziehen, ein Gesetz, das als Äquivalent zum § 129 des StGB gilt. Fast alle anderen, zuvor aufgeführten angeblichen Straftatbestände, die von der individuellen Beteiligung an Sachbeschädigungen und so weiter. Zeugnis abgelegt hätten, wurden indes aus Mangel an Beweisen fallen gelassen. Dennoch hat die Staatsanwaltschaft einiges aufgefahren: Über 100 Zeugen sollen vor Gericht geladen werden, darunter Mitglieder der Geschäftsführung von Peek & Cloppenburg, C&A und Escada sowie einzelne Jäger und andere angebliche "Opfer" der Aktionen der Tierrechtsbewegung. Die zu verhandelnde Akte umfasst circa 70 Bände. Es wird erwartet, dass sich die Prozesse über Wochen hinziehen und mehrere zehntausend Euro für die Betroffenen an Anwalts- und Gerichtskosten anfallen werden - von möglichen zivilrechtlichen Ansprüchen und Schadensersatzforderungen bei einer Verurteilung ganz zu schweigen.

Ein kurzer Rückblick: Am 21. Mai 2008 wurden in ganz Österreich insgesamt 23 Wohnungen gestürmt und durchsucht und zehn Personen festgenommen. Die Begründung für die Hausdurchsuchungen lieferte der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Organisation nach § 278a, da die Aktivist_innen für ihre E-Mail Kommunikation standardisierte PGP-Verschlüsselung verwendet hätten und daher "Verdunkelungsgefahr" bestehe. Die Aktivist_innen verbrachten 105 Tage abgeschirmt voneinander in Untersuchungshaft, da sie sich weigerten, Aussagen zu machen und ihre Passwörter herauszugeben. Mehrere Haftprüfungstermine sind damals verschoben worden beziehungsweise wurde die Haft bestätigt (1).

Der § 278a, das sogenannte österreichische "Anti-Mafia-Gesetz", wurde 1993 im Rahmen einer UN-Konvention zur Bekämpfung internationaler Kriminalität eingeführt und 2002 unter dem Eindruck der Terroranschläge vom September 2001 noch einmal verschärft. Er zielt auf Terroristen, Schlepperbanden, Kinderpornoringe, die Schutzgeldmafia, Drogenbanden oder andere organisierte Verbrechen ab. Der Tatbestand des § 278a des österreichischen Strafgesetzbuches erfordert die "wiederkehrende und geplante Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen", Bildung einer "unternehmensähnlichen Vereinigung" von mindestens zehn Personen - genauso viele wurden verhaftet -, die "erheblichen Einfluss auf Politik oder Wirtschaft anstrebt".(2)

Konkrete Vorwürfe sind jetzt zwar in der Anklageschrift benannt, bleiben jedoch auf der Metaebene. Es geht um Rekrutierung, Organisierung, Recherche, Dokumentation, Anmeldung und Teilnahme an Demonstrationen sowie um das Verbreiten der "Animal Liberation Front Ideologie". Letzteres wird dadurch als bewiesen angesehen, dass Vorträge zur Geschichte der ALF angeboten wurden. Überhaupt werden in der Anklageschrift öffentliche Kampagnen, wie die der Offensive gegen die Pelzindustrie (OGPI) mit der ALF gleichgesetzt, Kontakt zu englischen Aktivist_innen als Beweis für ein konspiratives europäisches Netzwerk von "Tierrechtsterrorristen" gelesen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Akten ausführlich über die Geschichte der englischen Tierrechtsbewegung Auskunft geben und zahlreiche Informationen von Europol zur Verfügung gestellt worden sind. Dabei bleibt nicht nur die genaue Verbindung zu den Angeklagten schleierhaft, vielmehr wird ein weltweit operierendes Gespenst der Tierbefreiungsbewegung heraufbeschworen. Auch Europol berichtet in seiner Trendstudie zur Entwicklung des Terrorismus, in der Rubrik 'Single Issue Terrorism'(3), österreichische Tierrechtler_innen hätten sich europaweit organisiert und entsprechende Kontakte geknüpft. Mit dem Verweis auf ,englische Verhältnisse' soll also jeglicher Protest im Keim erstickt werden. Dass hier für die Verfolgungsbehörden ganz offensichtlich Handlungsbedarf besteht, zeigen die erfolgreichen Aktivitäten der Tierrechtsbewegung, bestimmte wirtschaftliche Zweige wie die Pelzindustrie effektiv anzugehen und dauerhaft zu schwächen. So werden auch einzelne Angeklagte der schweren Nötigung und der "beharrlichen Verfolgung" beschuldigt, Delikte aus der Anti-Stalking Gesetzgebung, die in Großbritannien vor allem in Verbindung mit der Stop Huntingdon Animal Cruelty (SHAC) Kampagne dauernde Anwendung findet.(4)

Um den Organisationsparagraphen zu erfüllen, werden zudem einzelnen Angeklagten verschiedene Funktionen zugerechnet, also der Computerexperte, Archivare, Pressesprecher, etc. Auf derlei Feinheiten wie die Tatsache, dass die genannten Gruppierungen nicht miteinander arbeiten, sich persönlich teilweise nicht einmal kennen und gänzlich unterschiedliche politische Positionen vertreten, wird dabei nicht geachtet beziehungsweise am Konstrukt der vermeintlichen kriminellen Organisation trotz besseren Wissens festgehalten.

Als Nachweis der Dauerhaftigkeit der vermeintlichen Organisation wird dann auf teilweise schon über zehn Jahre zurückliegende Tierbefreiungen verwiesen, die wiederum ins Verantwortungsfeld der Angeklagten gerückt werden. Dort ist man sich dann auch nicht zu schade Vorwürfe der Tierquälerei zu äußern, die den Tieren bei ihrer Befreiung aus der Massentierhaltung widerfahren sei. So werden tatsächlich nahezu alle Straftaten, die im weiteren Sinne mit Tierbefreiungsthemen zusammenhängen, den zehn Angeklagten vorgehalten, die Tatsache, dass es seit der Festnahme weniger Straftaten in dem Bereich gegeben hätte, gar als Beweis dafür gelesen, "die Richtigen" erwischt zu haben. Dabei fehlen konkrete Strafnachweise nach wie vor. Die sind auch nicht notwendig: Im Rahmen des § 278a StGB ist eine Zuordnung einzelner strafbarer Handlungen zu bestimmten Personen nicht erforderlich. Es genügt der Vorwurf, Mitglied einer kriminellen Organisation zu sein, die unter bestimmten Zielen schwerwiegende strafbare Handlungen begangen hätte. Konkrete Straftaten sollen dann auch fast ausschließlich von "unbekannten Mittäter_innen" begangen worden sein.

Es ist eindeutig, dass sich die staatlichen Verfolgungsbehörden hiermit einen Präzedenzfall schaffen wollen, um damit künftig unliebsamen politischen Gruppen zu Leibe zu rücken. Der § 278a StGB wird entgegen seiner ursprünglichen Intention, Waffenschiebereien, Menschenhandel und Zwangsprostitution anzugehen, zur Kriminalisierung von linken Bewegungen gebraucht. Damit erlangt der konkrete Fall eine Dimension, die weit über die Aktivitäten der Tierrechtler_innen hinausgeht. Die Nutzung des § 129 in Deutschland und des § 278a in Österreich zeigen, dass keine kritische, oppositionelle Organisation geduldet wird. Es besteht die Gefahr, dass dies erst der Anfang ist und unter der unter Heranziehung des § 278a StGB künftig Umweltorganisationen, antifaschistische Gruppen oder Globalisierungsgegner_innen beliebig irgendwelche Straftaten zugeordnet und so Hausdurchsuchungen gerechtfertigt werden. Wie der österreichische Fall zeigt, war die Hausdurchsuchung dabei nicht unbedingt der Kulminationspunkt der Überwachung und Ermittlungsarbeit, sondern in manchem Fall der Anfang. Die erhofften Beweise der individuellen Tatbeteiligung konnten hierdurch jedoch genauso wenig erbracht werden wie durch die flächendeckende Observierung vor dem Zugriff.

Wie nämlich aus den Ermittlungsakten hervorgeht, wurde auf alle Maßnahmen der totalen Überwachung zurückgegriffen. Der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gibt den Verfolgungsbehörden beachtlichen Freiraum in der Nutzung dieser Maßnahmen. Konkret wurden bei der Ermittlungsarbeit sowohl ein Großer Lauschangriff durchgeführt, das heißt, Wohnungen der Betroffenen 24 Stunden audioüberwacht, Treppenhäuser mit Videokameras ausgestattet, um dann zu filmen, wer die Wohnung betritt. In den Wohnungen wurden des weiteren Mikrofone installiert als auch Autos mit Peilsendern versehen. Ferner wurde eine umfangreiche Telefonüberwachung sowohl des Festnetzes wie des Mobilfunks durchgeführt. Die inhaltliche Überwachung umfasste nicht nur themenbezogene Auswertung der einzelnen Gespräche, sondern auch strukturbezogene, das heißt, Verbindungen der einzelnen Personen untereinander wurden erspitzelt. Die Verfolgungsbehörden forderten zudem die Telefondaten der Mobilfunkbetreiber an, das heißt, sie ermittelten Telefonate bis zu sechs Monate rückwirkend. Überwacht wurden jedoch nicht nur private Telefonanschlüsse, sondern auch Diensthandys und so weiter. Zudem wurden linguistische Profile für Bekennerschreiben erstellt, Sprachproben, DNA-Spuren und Fingerabdrücke zum Teil heimlich entnommen (Trinkflaschen, Flugblätter etc.) und der Müll regelmäßig durchwühlt, auch in Tatortnähe, um eventuelle DNA-Spuren abzugleichen. In die Kontoführung wurde auch Einblick genommen. Zahlreiche Personen, auch über den Kreis der Beschuldigten hinaus, wurden zudem monatelang ständig observiert. Durchgeführt wurden die Observationen von der Sondereinheit für Observation (SEO) des Innenministeriums. Beantragt wurde auch die Installation von Trojanern auf den Computern der Beschuldigten. Über all dem hinaus wurden verdeckte Ermittler_innen in die Szene eingeschleust. Was hier durchgeführt wurde war die totale Durchleuchtung einer politisch unliebsamen Bewegung, der nun durch massive Repression der Garaus gemacht werden soll.

Nun gilt es praktische Solidarität zu zeigen. Lasst die Angeklagten mit diesen immensen Prozesskosten nicht alleine. Beteiligt euch als Prozessbeobachter_innen, verfasst Solidaritätsbekundungen, organisiert Soli-Veranstaltungen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Tierrechtsbewegung hier ins Visier genommen wird, um die Wirksamkeit des § 278a auszutesten. Das liegt zum einen an ihren Kampagnen, die sich direkt ans Herz dieses Systems, an ihr Kapital richten. Zum anderen wird die Tierrechtsbewegung innerhalb der Linken marginalisiert, das heißt, sie kann nicht mit der gleichen breiten Unterstützung rechnen wie beispielsweise antifaschistische Gruppen. Deshalb ist sie als ein Testfeld für weitgehende Durchsetzung der Organisationsparagrafen zu verstehen und die Prozesse als Präzedenzfall zu betrachten. Doch gemeint sind wir alle! Die Tierrechtsbewegung ist hält nur die erste, an der praktisch ausprobiert wird, inwieweit das Gesetz taugt, linken Widerstand mundtot zu machen. Lassen wir den Repressionsapparat in Österreich wie in Deutschland damit nicht durchkommen!


Stichwort § 278a

Der Bundesvorstand der Roten Hilfe teilt die in diesem Artikel aufgestellte Einschätzung, dass das Verfahren gegen die österreichischen Tierrechtler_innen eine Art Testballon für die dortige Justiz darstellt. In diesem Sinne ist es vergleichbar den bundesdeutschen § 129b-Verfahren, welche ebenfalls an politischen Bewegungen durchexerziert werden, die innerhalb der Linken eine marginalisierte Position innehaben.

Der Bundesvorstand wirbt dafür, unter dem Stichwort "§278a" auf das Konto "Rote Hilfe e.V., Kto: 191100462, BLZ: 44010046, Postbank Dortmund" zur Unterstützung der in diesem Verfahren angeklagten linken Aktivist_innen zu spenden.

Diejenigen der zehn Angeklagten, die sich ausdrücklich im Sinne der RH als linke Aktivist_innen verstehen, sollen aufgrund der Bedeutung des Verfahrens für die Vereinheitlichung europäischer Rechtssprechung durch diese Spenden unterstützt werden.


→ Unterstützt die Genossinnen und Genossen der Basisgruppe Tierrechte!
Spendenkonto Rote Hilfe e.V. Postbank Dortmund BLZ 440 100 46 Konto Nr. 19 11 00 - 462 Stichwort "278a"


Anmerkungen

(1) Vgl. auch Rote Hilfe Zeitung 4/08 S.65-67
(2) Österreichisches StGB, § 278a.
(3) http://www.scribd.com/doc/14818199/EuroPol-2009-report
(4) Vgl. Rote Hilfe Zeitung 4/08 S.61-64

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INTERNATIONALES

Hilfe für Flüchtlinge und Gefangene

Aus der Arbeit der Roten Hilfe Österreichs in den 20er und 30er Jahren

Nick Brauns

Mit dem auf Anregung der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) geschaffenen "Revolutionären Roten Kreuz" zur Unterstützung der Opfer der Konterrevolution in Österreich und des Weißen Terrors in Nachbarländern wie Ungarn existierte in Österreich bereits seit Ende 1919 eine Vorläuferorganisation der Roten Hilfe. 1925 trat die Rote Hilfe Österreichs als formal selbstständige überparteiliche Mitgliederorganisation auf, deren Mitgliederzahl bis 1932 auf 4400 anstieg. Neben 2100 Kommunisten und 1200 Parteilosen machten 1100 Sozialdemokraten ein Viertel der Mitgliedschaft aus, obwohl die österreichische Sozialdemokratie ihre Mitglieder mit Parteiausschluss bedrohte, wenn diese in der Roten Hilfe aktiv wurden. Innerhalb des Funktionärskaders der RHÖ dominierten die Kommunisten mit 65 Prozent.

Vorsitzende der Roten Hilfe Österreich seit 1925 war Malke Schorr, die ab März 1927 auch dem Exekutivkomitee der Internationalen Roten Hilfe angehörte. Die 1885 im galizischen Lemberg in eine arme, orthodox-jüdische Familie geborene Schneiderin Schorr war mit dem linken Flügel der jüdisch-sozialistischen Poale Zinn nach Kriegsende zur neugegründeten KPÖ gestoßen. "Eine Frau, unermüdlich tätig in ihrem Zweizimmersekretariat am Neubau. Hin- und hergerissen zwischen Manuskriptblättern, unzähligen Telefonaten und den Besuchen jener meist mageren Gestalten, die dem weißen Terror eben erst entronnen waren", so wird die 1961 verstorbene Schorr in einem vom KPÖ-Frauensekretariat veröffentlichten Porträt geschildert. "Für sie, die sich - mittellos und gehetzt - in einer fremden Umgebung zurechtfinden mussten, organisierte Malke Schorr Geldmittel, Rechtshilfe, Unterkunft. Ein Netz von materieller, juristischer, aber auch menschlicher Hilfestellung. Dieses Netz reicht bis in die Herkunftsländer der Verfolgten. In Ungarn, Rumänien, Bulgarien hatten sich faschistische Regimes schon in den zwanziger Jahren etabliert. Den politischen Häftlingen dort werden Rechtsanwälte beigestellt, die Familien finanziell unterstützt."

Schon bei dieser Aufgabenbeschreibung wird eine wesentliche Besonderheit in der Arbeit der Roten Hilfe Österreichs gegenüber etwa der Roten Hilfe in Deutschland deutlich: die starke Konzentration auf die Unterstützung politischer Flüchtlinge. Dies ergab sich durch unmittelbare Nachbarschaft zu Ländern wie Italien, Ungarn oder Jugoslawien, in denen faschistische Regimes oder Militärdiktaturen die Arbeiter- und Bauernbewegung blutig unterdrückten. "In Oesterreich fanden viele revolutionäre Arbeiter anderer Länder Unterkunft. Die Rote Hilfe Oesterreichs hat es sich zur besonderen Aufgabe gestellt, die politischen Flüchtlinge unterzubringen, zu welchem Zweck ein Emigrantenheim errichtet wurde. Die Sektion hat das alleinige Recht den Aufenthalt aller Emigranten in Oesterreich zu sanktionieren", heißt es im Rechenschaftsbericht des ZK der Internationalen Roten Hilfe 1924. "Bei der elenden Lage der Revolutionäre im Süden und Südosten Europas, wo dieselben zur Flucht gezwungen werden, ist diese Arbeit der oesterreichischen Sektion eine sehr wichtige."(2)

Die finanziellen Ausgaben für die Unterstützung der "Politemigranten" betrugen Ende der 20er Jahre das zweieinhalbfache der Ausgaben für die politischen Gefangenen und machten bis zu 50 Prozent des Gesamtbudgets der Organisation aus (3). Eine Statistik für die Jahre 1928/29 nennt folgende Zahlen: "Im Jahre 1928 wurden unterstützt: 220 politische Gefangene und 68 Familien, 1929 - 257 politische Gefangene und 58 Familien. Für diese Opfer der Klassenjustiz wurde in der Form von Rechtsschutz und Unterstützung der Betrag von 29.270 Schillingen verausgabt. In derselben Zeit wurden 1020 politische Emigranten mit dem Betrage von 72.427 Schilling unterstützt." (4) Immer wieder musste die Rote Hilfe gegen die Abschiebung verfolgter Revolutionäre kämpfen, wie im Falle des Ende 1928 in Auslieferungshaft gekommenen jugoslawischen Kommunisten Anton Mavrak. "Im Rahmen des faschistischen Kurses ist Österreich das Land geworden, wo politische Emigranten am meisten und am schwersten verfolgt werden", hieß es im Dezember 1928 in der Zeitung der RHÖ.


Russenfilme

Zur Bewährungsprobe für die Rote Hilfe Österreichs wurde das Jahr 1927. Nach dem Polizeimassaker vor dem Justizpalast am 15. Juli, bei denen 86 Arbeiter getötet und weit über 1000 verhaftet wurden, stellte die Rote Hilfe den Angeklagten Anwälte, sammelte Gelder für die Familien der Opfer und dokumentierte die Ereignisse in einem "Rotbuch". Über die sonstigen Aktivitäten der Roten Hilfe heißt es in einem Polizeiprotokoll: "Die 'Österreichische Rote Hilfe' (Vorsitzende: Malke Schorr) veranstaltete im zweiten Halbjahr 1931 in Wien eine große Anzahl von Versammlungen und Lichtbildvorträgen sowie Filmvorführungen. Für die im In- und Ausland verhafteten Kommunisten wurde ein eigener Rechtsschutz eingerichtet. In Wien wurde auch ein Rechtslehrkurs (...) abgehalten." (5) Behebt waren insbesondere Filmvorführungen so genannter "Russenfilme" wie "Panzerkreuzer Potemkin" von Sergeij Eisenstein, die von Russlanddelegationen der KPÖ importiert wurden. Die Einnahmen kamen der Solidaritätsarbeit zugute. Da die Filmabende zunehmend zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen zwischen sozialistischen und rechtsextremen Gruppierungen wurden, verhängten die österreichischen Behörden immer wieder Aufführungsverbote(6).


Hilfe für die Schutzbundkämpfer

Schon zu Beginn der austrofaschistischen Diktatur unter Kanzler Engelbert Dollfuß 1933 waren KPÖ und Rote Hilfe verboten worden. Im Februar 1934 kam es nach Polizeiprovokationen in mehreren österreichischen Städten zum bewaffneten Aufstand des Schutzbundes gegen die Dollfuß-Regierung. Durch den Einsatz von Armee und Heimwehr gelang es der Regierung, den Widerstand der Barrikadenkämpfer zu brechen. Nach Angaben der Regierung betrug die Anzahl der Toten auf Seiten der Aufständischen 196 und der Verwundeten 319. Die Arbeiter selbst schätzten die Zahl ihrer Toten auf über 1000 und der Verwundeten auf über 4000. Mehrere Hundert vom Galgen bedrohte Schutzbundkämpfer schleuste die Rote Hilfe ins Ausland. Die Internationale Rote Hilfe vermittelte 700 Schutzbündlern, die zum Teil mit ihren Familien in der Sowjetunion Zuflucht gesucht hatten, dort Arbeit. Auch Kinder getöteter oder inhaftierter Februarkämpfer kamen in sowjetische Waisenhäuser. Bereits am 20. Februar 1934 brachte eine RH-Delegation 300.000 Schilling nach Österreich. Allein in Wien hatte die Rote Hilfe für 600 wegen der Februarkämpfe verfolgte Angeklagte Rechtsanwälte gestellt. Angesichts des faschistischen Terrors gegen die Arbeiterbewegung entstanden in Österreich auf lokaler und betrieblicher Ebene Hilfskomitees, die von der Roten Hilfe tatkräftig gefördert wurden. So wurde beispielsweise in 21 Wiener Straßenbahnhöfen Geld gesammelt(7).

Auch nach der Annexion Österreichs durch Nazideutschland 1938 spielten die in ganz Österreich organisierten Hilfskomitees der Rote Hilfe bis in den Krieg hinein eine wichtige Rolle bei der Unterstützung politischer Gefangener und ihrer Familien(8).


Anmerkungen

(1) Im Koffer ein Foto von Marx, in: Frauensekretariat der KPÖ (Hg.): Frauen in der KPÖ. Gespräche und Porträts, 1989.

(2) ZK der IRH: Die Internationale Rote Hilfe. Ihre Tätigkeit und Aufgaben (Bericht des ZK der IRH für die Zeit vom 1. Januar 1923 bis zum 1. Mai 1924), Moskau 1924, 24f.

(3) Franz Wager: Die Internationale Rote Hilfe. Ihre Ziele und Aufgaben, Moskau 1931, 37; Protokoll des I. Weltkongresses der Internationalen Roten Hilfe, 90.

(4) Ebda, 37.

(5) Zit. nach: Im Koffer ein Foto von Marx, in: Frauensekretariat der KPÖ (Hg.): Frauen in der KPÖ. Gespräche und Porträts, 1989.

(6) Ramón Reichert: Die Rückeroberung linker Filmgeschichte, ak Nr. 521 / 19.10.2007

(7) Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs, Wien 1977, 153f., 168 f.

(8) Siehe z.B. Winfried R. Garscha: Linker Widerstand - "Rote Hilfe - Arbeiterwiderstand, in: Stefan Karner / Karl Duffek (Hg.): Widerstand in Österreich 1938-1945. Die Beiträge der Parlaments-Enquete 2005, Graz und Wien 2007, 53-61; KPÖ Oberösterreich (Hg.): Für Unabhängigkeit und Freiheit gestorben - Die KPÖ und die "Welser Gruppe, Linz 1998.

Raute

REZENSIONEN

Der Hunger des Staates nach Feinden

Die Geschichte der Paragrafen 129, 129a und 129b und ihre Anwendung gegen die radikale Linke

Einstein, Literaturvertrieb

Im Zeitalter ständig zunehmender Überwachung und Kriminalisierung gelang den Autorinnen und Autoren mit diesem historischen Abriss beziehungsweise einer schlaglichtartigen Zusammenfassung eine wichtige Hilfe im Kampf gegen die Repressionswut der Herrschenden.

Die Broschüre beginnt mit einem kurzen Text zur Entstehung der Gesinnungsjustiz, fließend übergehend in die Entstehung des Paragrafen 129a und dessen Anwendung im ersten Stammheim-Prozess. Nach einem sehr anschaulichen Interview mit dem damaligen Wahlverteidiger Andreas Baaders, Peter O. Chotjewitz, folgen thematisch passende Beiträge zur Isolationshaft, zu deren Entstehung, Entwicklung und Export zum Beispiel in die Türkei.

Das in den 70er Jahren viel zitierte Schlagwort vom so genannten Sympathisanten (und dem zugehörigen "-sumpf") beziehungsweise die Kriminalisierung von Soliaktionen und Veröffentlichungen werden - ebenfalls sehr lesenswert - mit heutigen Repressionsmaßnahmen verglichen. Als weiterer historischer Vorläufer wird die Kriminalisierung von Frauen im Kampf gegen den Paragrafen 218 geschildert. So wird von einer Durchsuchung des Frauenzentrums Frankfurt am 1. Juli 1975 berichtet, bei der die Arztinnendatei beschlagnahmt und das Zentrum dann zur "kriminellen Vereinigung" erklärt wurde.

Im geschichtlichen Abschnitt folgen weitere Artikel zu Ingrid Strobl, ein Interview zum "radikal"-Verfahren, Erläuterungen zum PKK-Verbot, zur Antifa(M) und dem 129a-Verfahren gegen Passauer Antifaschist/-innen. Das Thema Beugehaft wird anhand des Magdeburger 129a-Verfahrens sehr gut dargestellt. Auch die Kronzeugenregelung und der Paragraf 129b, ein weiteres Repressionsmittel der BRD-Gesinnungsjustiz gegen die migrantische Linke, fehlen nicht. Weiter wird der Bogen geschlagen von den Prozessen gegen die Rote Zora und die Revolutionären Zellen zum PKK-Verbot und den aktuellen Schauprozessen gegen die DHKP-C in Stammheim.

Das Heft ist ein wichtiges Nachschlagewerk zur Geschichte der staatlichen Repression gegen die radikale Linke. Hervorzuheben sind die sehr sorgfältig geführten Interviews. Den Autoren und Autorinnen ist es gelungen, einen schwierigen, weil sehr umfangreichen Themenkomplex sehr detailliert auf 80 Seiten zusammenzufassen. Damit hat diese Broschüre das Zeug zu einem politisch notwendigen Standardwerk.


Der Hunger des Staates nach Feinden.
Broschur, 80 Seiten, drei Euro.
Für Wiederverkäufer/-innen ab zehn Exemplaren Rabatt.

Raute

REZENSIONEN

Kurt Wyss: Workfare

Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus

Was verbindet Hartz IV, Asylpolitik und den Zwang zur Billiglohnarbeit?

Einstein, Literatur-Vertrieb

In der "Neuen Zürcher Zeitung" gab vor kurzem eine Geschäftsführerin einer Sankt Gallener Stiftung in einem Interview Folgendes von sich: Sie wolle sich zunächst von allen Weicheiern von Sozialarbeitenden abgrenzen, die zu pfleglich mit Erwerbslosen umgehen: "Wir sind kein Beschäftigungsprogramm. Wir sind eine Firma. Bei uns gibt es leistungsabhängige Löhne, Qualitätsmanagement, Boni und Kündigungen. Wir können nicht nur so tun, als ob wir arbeiten würden". Zwölf Franken (etwa 7,20 Euro) netto pro Stunde beträgt der Einstiegslohn bei der Stiftung für Arbeit.

In der BRD gibt es ebenfalls solche Aussagen, die jedoch noch um einiges gravierender sind, wie die Studie der Uni Chemnitz zu AIG II, oder dass Erwerbslose in Berlin bei der "Rattenjagd" auf Ein-Euro-Basis eingesetzt werden sollten. Der gravierende Unterschied ist jedoch, dass in Westeuropa die Löhne gestiegen sind, nur nicht in Deutschland. Hier gibt es einen Rückgang bei den Löhnen und Gehältern und noch immer keinen Mindestlohnstandard, dafür immer mehr reguläre "Ein-Euro-Jobs" wie bei der AWO (Arbeiterwohlfahrt) oder anderen überwiegend sozialen Trägern.

Die Schweiz und die BRD sind inzwischen Vorreiterinnen in Europa. Ab dem 1.1.2008 erhalten in der Schweiz Flüchtlinge acht Franken pro Tag, in der BRD seit der mehrfach erfolgten Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes 80 Euro im Monat.

All dies ist Teil eines Umbaus des Sozialstaates, der sich mit dem Begriff "Workfare" fassen lässt. Workfare gilt als das neue Wundermittel in Europa, beinahe alle politischen Strömungen setzen darauf.

Der Züricher Soziologe Kurt Wyss analysiert in seinem Buch "Workfare - Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus", wie es zu diesem Umbau kam. Es handelt sich hierbei um den Paradigmenwechsel von Welfare, dem Wohlfahrtsstaat, zu Workfare, dem staatlichen Disziplinierungsapparat, der Menschen dazu zwingt, Arbeit um jeden Preis und zu jedem Preis anzunehmen. Es geht, schönfärberisch ausgedrückt, um die "Ein-Euro-Jobs oder in der Schweiz Tausend-Franken-Jobs", um "Arbeit statt Sozialhilfe", um "Integration statt Rente".

Kurt Wyss zeigt anhand exemplarischer Aufsätze ausgewählter Autoren auf, wie sich die Workfare-Ideologie in Europa zunächst in ihrer neokonservativen und neoliberalen, später auch in der sozialdemokratischen Ausprägung in den Köpfen der Menschen festsetzen konnte - und wie sie später in die Praxis umgesetzt wurde. Die Workfare-Ideologie basiere auf falschen Annahmen, hält Kurt Wyss entschieden fest: Die Erwerbslosigkeit liege genau nicht - wie unterstellt - primär im Verhalten der Betroffenen begründet, sondern in den Strukturen des kapitalistischen Wirtschaftens selbst. Und so liegt es auf der Hand, dass die drei politischen Strömungen zwar vordergründig als Gegenspieler auftreten, sich hintergründig jedoch ergänzen. Die neue Sozialdemokratie setzt sich vermeintlich gegen Sozialabbau zur Wehr, fordert aber ohne zu zögern selber Kürzungen, wenn eine armutsbetroffene Person sich dem ihr vorgeschriebenen Bewerbungsprogramm nicht unterzieht. Die Neo-Konservativen, insbesonders Sozialdemokraten wie Sarazzin, sind vordergründig gegen Beschäftigungsprogramme, tragen sie jedoch mit, wenn darin Sanktionierungen oder gar das Einstellen von Sozialleistungen verankert sind. Die Neoliberalen ihrerseits wehren sich auch gegen Schulungsprogramme, sind aber damit einverstanden, wenn es gleichzeitig zur Einführung einer allgemeinen Arbeitspflicht bei Löhnen auf Sozialhilfeniveau respektive zur Einrichtung eines Niedriglohnsektors kommt.

Diese Sozialpolitik im Sinne von Workfare geht einher mit einer verschärften Strafpolitik der Nulltoleranz. Wer sich nicht unterordnet oder nicht ins System passt wie zum Beispiel die Flüchtlinge, muss sich auf ein Kontroll- und Sanktionsregime gefasst machen, das bis zur kompletten Sozialleistungseinstellung führen kann. So kommt Kurt Wyss zum Schluss: Es gehe "immer um beides gleichzeitig, sowohl um das In-Schach-Halten als auch um das Ausbeuten der Ärmsten der Gesellschaft'. Es wäre wünschenswert, wenn dass das äußerst anregende Buch eine Fortsetzung bekäme, die sich ausschließlich mit dem Abbau des Sozialstaates bei gleichzeitigem Ausbau des strafenden Staates befasst. Zusätzlich ist es wegen der zunehmenden sozialstaatlichen Repression ein wichtiges Werk im gemeinsamen Kampf gegen Sozialabbau und für alle, die sich innerhalb der Roten Hilfe mit Sozialabbau, Betriebsrepression und Flüchtlingspolitik beschäftigen.


Ein Sachbuch aus der edition 8, Zürich.
www.edition8.ch 158 Seiten, Paperback, 15,20 Euro

Raute

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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2010