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DAS BLÄTTCHEN/958: Des Rätsels Lösung


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 8/2009 - 13. April 2009

Des Rätsels Lösung

Von Wladislaw Hedeler


Bei der Sichtung und Auswertung des Materials in den Moskauer Archiven des Verteidigungsministeriums und des Sicherheitsdienstes war Eile geboten. Schließlich sollte das Buch "Das Rätsel des Jahres 1937" von Nikolai Welikanow bereits zum 70. Todestag von Wassili Blücher, der sich 2008 jährte und nicht erst zum bevorstehenden 120. Geburtstag des ersten Marschalls der Sowjetunion und Trägers des ersten in Sowjetrußland verliehenen Rotbannerordens, herauskommen.

Das Geburtsjahr von Wassili Blücher, das ist nunmehr belegt, ist nicht, wie in vielen Lexika aus Sowjetzeiten vermerkt, 1889, sondern 1890. Anhand der erstmals zugänglichen Archivdokumente rekonstruiert Welikanow die Ereignisse nach den Kämpfen an der japanischen Grenze - die Ende Juli 1938 durch eine Provokation der sowjetischen Grenztruppen und nicht durch eine Provokation der Japaner an der Grenze am Chasansee ausgelöst wurden -, die Abberufung von Blücher, der sich als unfähig erwies, "die Japaner vernichtend zu schlagen" und seine anschließende "Untersuchungshaft".

Blücher hat, in diesem Punkt sind alle zuvor veröffentlichten Studien - auch der Bericht der vom Politbüro des ZK der KPdSU eingesetzten Rehabilitierungskommission über die "antisowjetische trotzkistische Militärorganisation" - ungenau, das Innere Gefängnis der Lubjanka seit seiner Verhaftung nie verlassen. Er ist nicht im berüchtigten Lefortowo-Gefängnis erschlagen worden, sondern in der Lubjanka.

Was Blüchers Kindheit und Jugendjahre betrifft, hält Welikanow kaum neue Informationen bereit. Dafür zeichnet er anhand der Archivdokumente sowohl die Biographie Blüchers als Kommandeur im Bürgerkrieg und als Militärberater in China präziser nach, als es bisher möglich war. Er nennt die Namen der Militärs und Politiker, die an der Seite des Marschalls agierten. Ihre Haltung und ihre Auseinandersetzungen mit Stalin wirkten sich auf Blüchers Schicksal aus. Die "Verschwörung" der Militärs sollte dem im Führungszirkel um Stalin entworfenen Prozeßszenario folgend mit der angeblich von den Rechten um Bucharin geplanten "Palastrevolution" verbunden werden.

In diesem Zusammenhang sind die Hinweise auf den schwelenden Konflikt mit Lew Mechlis, Redakteur der "Prawda" und verantwortlich für die Politverwaltung der Roten Armee über die Auswertung des Bürgerkriegs aus Anlaß des 15. Jahrestages des Sieges bei Perekop 1935, die Tätigkeit Blüchers als Militärberater in China und seine Kontakte mit den in Ungnade gefallenen Mitgliedern der Parteiführung aufschlußreich.

Der schwerkranke Blücher war achtzehn Tage in Haft. In dieser Zeit wurde er 21 Mal verhört, sieben Verhöre leitete Berija persönlich. Nur zehn von ihnen - jene, die im Nebenzimmer von Berijas Kabinett stattfanden - sind im Dienstbuch vermerkt, in der Akte ist jedoch nur ein Vernehmungsprotokoll überliefert. Es enthält Hinweise auf die Gegenüberstellung mit der geschiedenen Frau aus zweiter Ehe, die über die Verbindungen ihres Mannes zu Rykow aussagt. Mit dem "Kronzeugen" aus der Militärführung, der die U-Haft nicht überlebte, wurde auch das Szenario des geplanten vierten Schauprozesses - gegen die "Kominternverschwörer" - beerdigt.

Doch nicht nur der militärischen Laufbahn des Marschalls, auch dem Lebensweg seiner Angehörigen und Kinder, die aus den drei Ehen hervorgingen, wird die bisher versagte Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Ausführungen über deren Schicksal fügen der Geschichte des Stalinismus ein weiteres Kapitel zum Thema Sippenhaft hinzu.

Weil zum Zeitpunkt der Verhaftung von Wassili Blücher seine Eltern und die Schwestern Alexandra und Jelisaweta nicht mehr am Leben waren, konnten Mitarbeiter des NKWD nur den Bruder, Pawel Konstantinowitsch Blücher festnehmen. Der Geschwaderkommandeur der Luftwaffe hatte angeblich vor, mit seinem Bruder nach Japan zu fliehen, wie es kurz zuvor der Leiter der Gebietsverwaltung des NKWD in Fernost getan hatte. Die Ehefrau des Piloten, Lidija Bogutzkaja, wurde zusammen mit ihren Ehemann am 22. Oktober 1938 verhaftet und am 14. März 1939 zum Tode verurteilt. Pawel ist nicht 1943 im Gulag hinter dem Ural verstorben, wie Welikanow angibt, sondern in Moskau erschossen und zusammen mit den anderen Angehörigen im März 1939 auf dem Donskoj-Friedhof verscharrt worden. Das geht aus den 2005 veröffentlichten Erschießungslisten hervor.

Blüchers Lebensgefährtinnen Galina Pokrowskaja und Galina Koltschugina wurden im März 1939 zum Tode verurteilt und erschossen. Gedenktafeln auf dem Donskoj-Friedhof erinnern an Koltschugina und ihren Ehemann. Glafira Beswerchowa, in dritter Ehe mit Blücher verheiratet, wurde zu Zwangsarbeit in Kasachstan verurteilt. Nach Ablauf der Haftstrafe im Karlag durfte sie die Region nicht verlassen. Von den Kindern haben vier die Stalinzeit in Kinderheimen und die erneuten Verhaftungen "als Angehörige von Volksfeinden" in den fünfziger Jahren überlebt, von zwei Kindern verliert sich die Spur, sie bleiben verschollen.

Welikanow wendet sich mit seinem Buch nicht zuletzt an jene Mitbürger, die im März mit Blumen zur Kremlmauer oder in den Park hinter der Neuen Tretjakowgalerie pilgern, um sie an den dort abgestellten Denkmalen für Stalin niederzulegen. Diese Blumen gehören - mit Blick auf die hier geschilderten Ereignisse - eigentlich auf das Grabfeld 1 auf dem Donskoj-Friedhof in Moskau.


Nikolai Welikanow, Ismena Marschalow: Der Verrat der Marschälle, Moskau, Algoritm 2008, 400 Seiten (Sagadka 37-goda / Das Geheimnis des Jahres 1937); zum Weiterlesen: Konstantin G. Paustowski, Wassili K. Blücher: Der lange Marsch. Partisanen und Soldaten im russischen Bürgerkrieg. Mit einem Text von Gawriil W. Enborisow und einem Nachwort von Nadja Rosenblum, herausgegeben von Wladislaw Hedeler, BasisDruck Berlin 2009, 128 Seiten, 14 Euro


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 8, 12. Jg., 13. April 2009, S. 18-20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2009