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DAS BLÄTTCHEN/1984: Putin nimmt den Antrag an


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
23. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2020

Putin nimmt den Antrag an

von Klaus Joachim Herrmann


Russlands Präsident ist durchaus wählerisch. Den auf der Straße vorgetragenen Antrag der netten jungen Frau mit der weißen Pudelmütze "Heiraten Sie mich!" quittierte Wladimir Putin bei einem Besuch im Gebiet Iwanowo, rund 250 Kilometer nordöstlich von Moskau, fast ein wenig verlegen. Sie werde wohl jetzt im ganzen Land bekannt werden, meinte er ausweichend am Rande eines Treffens mit Bürgerinnen der Stadt am Vorabend des Internationalen Frauentages. Immerhin steckte die Antragstellerin nach eigenem Bekunden dem Staatschef ein Foto mit ihrer Telefonnummer zu. Darüber ließe sich ja dann von ihm vielleicht noch einmal nachdenken.

Einen Antrag anderer Art hat Wladimir Wladimirowitsch hingegen ohne Zaudern angenommen: Er ließ die Duma am 10. März entscheiden, die Zählung seiner bisherigen Präsidentschaften auf null zu setzen. Damit wäre die Verfassungsregel, der zufolge es nur zwei aufeinander folgende Amtszeiten für russische Präsidenten geben darf, für Putin selbst ausgehebelt. Jetzt gerät gar das Jahr 2036 als rechnerisch letzte Ausfahrt des amtierenden Präsidenten aus dem Kreml in den politischen Kalender. Dann wäre der Amtsinhaber nach 36 Jahren an der Spitze als Präsident oder Premier 83 Jahre alt. Bedingungen sind nur noch die Zustimmungen von Verfassungsgericht wie Volk.

Der Präsident persönlich ließ als vorgeblich rasch herbeigerufener und sofort -geeilter Überraschungsgast der Duma am 10. März jene Ergänzung der Verfassung passieren, die ihm nach dem Ende der laufenden Amtszeit im Jahre 2024 den Weg für seine Präsidentschaften Fünf und Sechs ebnen soll. Den offiziellen Zweck der Überarbeitung der Verfassung macht er zu seiner eigenen Mission: Festigung der Souveränität des Landes und Sicherung einer zuverlässigen und folgerichtigen Entwicklung - inklusive Festigung der sozialen Garantien des Staates für seine Bürger, Ausweitung der Vollmachten des Parlaments, Verbot der Abtretung russischen Territoriums und Fixierung der russischen Sprache als "Sprache des staatsbildenden Volkes".

Für staatliche und gesellschaftliche Stabilität sei eine "starke präsidiale Vertikale absolut notwendig", sagt Putin und meint damit sich selbst. Und Fakt ist: Er hat Russland nach seiner Machtübernahme seit dem Jahr 2000 weg vom Rande des Abgrundes geführt und heraus aus der Demütigung des Zusammenbruchs der Sowjetunion während der Perestroika und aus den Wirren der wilden Kapitalisierung der 90er Jahre unter Boris Jelzin. Er habe wieder Sicherheit in das Land gebracht, das spiegele sich bis heute in seinen Wahlergebnissen, anerkennt selbst der langjährige Russland-Koordinator der Bundesregierung, der SPD-Politiker Gernot Erler, am 11. März im Deutschlandfunk. "Es ist einfach so, dass diese Stabilität und diese Ordnung mit ihm verbunden wird, und dadurch kann er sich darauf verlassen, dass das die Leute nicht vergessen. Putin hat auf jeden Fall Russland auf die Weltbühne zurückgebracht als starke Macht." Das Volk wolle, dass er an der Macht bleibe, behaupte er: "...und mehrheitlich ist das auch der Fall."

Dabei zeigt sich der Kremlchef unbeeindruckt vom Vorwurf der außerparlamentarischen und "nicht registrierten" Opposition, er schreibe die Verfassung "zugunsten der herrschenden Obrigkeit" um. Am 21. und 22 März sollen "alle politischen Kräfte und Menschen" auf dem Sacharow-Prospekt protestieren, "die für sich und Russland Freiheit, Entwicklung und Aufblühen" wünschen. Putin "usurpiert faktisch die Macht", doch ein Land, in dem diese mehr als 20 Jahre nicht wechselt, habe keine Zukunft, heißt es in einem Aufruf solcher oppositionellen Organisationen wie "Offenes Russland", "Partei der Veränderung" und "Kommando Jegor Schukow". Widersacher wie Alexej Nawalny und der im Exil lebende Kremlgegner Michail Chodorkowski klagen Putin seit längerem an, er strebe nach einer "lebenslangen Führerschaft".

Ungerührt lässt Putin auch eigene frühere Ansichten hinter sich und schreckt dabei auch vor einem Wortbruch nicht zurück. Denn als nach zwei Amtszeiten 2008 der erste große Abschied auf der Tagesordnung stand, beschied er Millionen seiner Landsleute bei einem Fernsehdialog, er werde "in Reih und Glied" seinen Platz finden. "Ich will nicht ewig im Kreml sitzen." Stilsicher fügte er aus dem gegeben Anlass vom Fernsehschirm aus hinzu, dass es ja auch nicht anginge, wenn man in diesem Medium "die ganze Zeit ein und dasselbe Gesicht zeigt". Doch so kam es denn doch.

Noch im Ohr habe ich die eindeutige Versicherung des Gastgebers gegenüber den ausländischen Gästen des exklusiven Waldai-Klubs bei einem Treffen im Moskauer Kreml, dass er die Verfassung achte: "Wir sind nicht bereit, sie zu ändern", versicherte der Staatschef. Das war in der zweiten Amtsperiode. Er bereite sich darauf vor, "2008 den Kreml zu verlassen, aber nicht Russland". Auch das sei ein "Faktor der Stabilität". Anschließend sollten seine Kenntnisse und Erfahrungen dem Lande nützlich sein.

Wurden sie: Ämtertausch Präsident-Premier von 2008 bis 2012. Putin ging, wenn auch nicht weit, und Dmitri Medwedjew kam. Wort gehalten. Rückkehr in schon ziemlich formaler Logik: Wenn nicht mehr als zwei Amtszeiten hintereinander, dann eben zweimal zwei Amtszeiten mit Unterbrechung. Macht insgesamt vier, und für die fünfte Periode ab 2024 ließe sich in den Nationalfarben Weiß, Blau, Rot wie für die bis dahin letzte im Jahre 2018 werben: "Unser Land, unser Präsident, unsere Wahl!" oder auch mit Großplakaten mit Putins Bild und der Aufschrift "Starker Präsident - starkes Russland!"

Der Publizist Dmitri Olschanski, Komsomolskaja Prawda, ist sich sicher, dass es vorher irgendeinen Plan gegeben habe: Putin in den Staatsrat, in den Landrat, wohin auch immer, einen englischen König schaffen, einen Ayatollah, einen "пенсионер номер один" (Pensionär Nummer eins) wie weiland Nikita Chruschtschow oder ähnliches mehr. Doch dann "trat Tereschkowa auf. Die Perestroika wurde gestrichen. Das Leben geht weiter. Gott sei Dank."

Die weithin verehrte Walentina Tereschkowa, erste Kosmonautin der Welt und Heldin der Sowjetunion, hatte in der Duma für die Annullierung der bisherigen Amtszeiten Putins plädiert. "Es geht nicht um ihn, sondern um uns, die Bürger Russlands und ihre Zukunft." Die Menschen seien in Sorge, was nach 2024 werde. Nicht auf Bitten "irgendwelcher politischer Kreise" habe sie gehandelt, wie sie tags darauf in einem Telefongespräch betonte, sondern "weil einfache Leute einfach darum gebeten haben. Gebeten!"

Er habe nicht gewusst, was Walentina Wladimirowna sagen würde, als sie ans Rednerpult trat, versicherte Pawel Krascheninnikow, Vizevorsitzender der Arbeitsgruppe für die Verfassung. Doch er bestätigte später der Zeitschrift Kommersant: "Natürlich wurde all das diskutiert, es lag in der Luft."

Das Vorgehen der Ex-Kosmonautin, die diesmal politisch noch einmal als Wegbereiterin in eine neue Region vorstieß, erscheint Befürwortern sogar als Akt der Gerechtigkeit. Warum sollte ausgerechnet der amtierende Präsident von einer Wahl zwischen alternativen Kandidaten ausgeschlossen bleiben? Eröffnet werde ja nur eine Möglichkeit. Doch nach einer ersten Umfrage der Zeitung Wsgljad unter mehr als 5000 Lesern erwarten 65,7 Prozent eine Kandidatur Putins, wenn denn die ausstehenden Hürden genommen werden.

In jedem Falle veränderte der Föderationsrat, das Oberhaus der Duma, mit seiner Zustimmung (160 Voten dafür bei nur einer einzigen Gegenstimme und drei Enthaltungen) am 11. März 2020 um 15:30 Uhr die politische Landschaft Russlands und darüber hinaus. Denn ab nun sind Spekulationen über einen grundlegenden Wandel der russischen Innen- wie Außenpolitik gegenstandslos - ganz sicher bis 2024, wahrscheinlich auch für die Jahre danach. Seine Heimat und die Welt werden mit Putin weiter rechnen müssen. Sei es in Wladiwostok, auf der Krim, in Syrien oder anderswo. "Решение принято" - Beschluss angenommen. Nach den Worten der Sprecherin des Oberhauses, Walentina Matwijenko, wurde nichts weniger entschieden als "eine der wichtigsten Fragen der neueren Geschichte Russlands".

Die Billigung durch die Parlamente der 85 Regionen der Föderation wurde am Folgetag verkündet. Der Unterschrift des Präsidenten und einer Prüfung durch das Verfassungsgericht wird schließlich ein Referendum folgen. Dafür wurde der 22. April (*) nicht zufällig gewählt. Andrei Klischas, ebenfalls Vizevorsitzender der Arbeitsgruppe für die Verfassungsänderung, begründete die Wahl des Datums: "Am 19. April endet [...] die orthodoxe Fastenzeit. Unsere muslimischen Brüder beginnen den heiligen Monat Ramadan am 24. April. Zwischen diesen Daten liegt der 22. April. Es ist ein Arbeitstag, daher müssen wir auch festlegen, dass dieser Tag natürlich als freier Tag deklariert wird."

Das allerdings muss dem Votum nicht zwangsläufig zum Segen gereichen. 25 Prozent der Berechtigten wollen laut einer repräsentativen Lewada-Umfrage an dem arbeitsfreien Tag nicht zur Abstimmung gehen, 25 Prozent für die Änderungen votieren, zehn Prozent dagegen. Der Großteil sei noch unentschieden.

Putin vor der Duma gab sich gelassen: "Wie Sie, liebe Freunde, entscheiden, wie Sie am 22. April abstimmen, so wird es sein."


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Die Abstimmung wurde wegen der Corona-Pandemie verschoben.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 6/2020 vom 16. März 2020, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2020

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