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DAS BLÄTTCHEN/1222: Hatte Chiles friedlicher Weg zum Sozialismus eine Chance?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
15. Jahrgang | Nummer 18 | 3. September 2012

Hatte Chiles friedlicher Weg zum Sozialismus eine Chance?

von Johnny Norden



Am 11. September 1973 ertränkte das Militär in einem Blutbad den Versuch einer sozialistischen Revolution in Chile. Das Besondere: Die chilenische Linke unter Präsident Allende hatte diesen Weg zum Sozialismus ohne Waffengewalt beschreiten wollen. In erklärter Abgrenzung zu den sowjetischen und kubanischen Erfahrungen sollte das auf der Basis der bürgerlich-demokratischen Verfassung geschehen, Blutvergießen und Bürgerkrieg sollten vermieden werden.Warum gelang es nicht, diesen kühnen Traum zu verwirklichen?

Eine Reihe von Untersuchungen junger chilenischer Historiker und Journalisten während der letzten Jahre ermöglichen ein neues Verständnis für die Ereignisse jener Zeit. Sie analysierten Dokumente der CIA und des US-Außenministeriums, die nach Ablauf der Sperrfrist freigegeben wurden. Sie publizierten streng geheime Unterlagen des chilenischen Militärs aus dem Jahre 1973, so zum Beispiel den Funkverkehr der putschenden Generale am 11. September. Und sie nahmen mit einer akribischen Materialsammlung und einer großen Zahl von Interviews die Politik der Kommunistischen Partei Chiles im Jahr 1973 unter die Lupe.

Diese Publikationen scheinen die bisher vorherrschende Auffassung zu widerlegen, dass das tragische Ende des chilenischen Sozialismusversuchs das zwangsläufige Ergebnis eines für die chilenischen Linken ungünstigen nationalen und internationalen Kräfteverhältnis war.

Die Unterstützung patriotischer chilenischer Militärs für die Allende-Regierung war viel größer als bisher angenommen. Bekannt waren bisher der Oberkommandierende Carlos Prats und der Luftwaffengeneral Alberto Bachelet. Zu den erklärten Verbündeten der chilenischen Linken gehörten auch die Generale Guillermo Pickering, Chef der Militärschulen und Mario Sepulveda, Kommandeur der kampfstärksten Heereseinheit in Gestalt der 2. Infanteriedivision mit Standort in der Hauptstadt Santiago. Nach Prats waren das die beiden Militärs mit der größten Kommandogewalt. Ein weiterer, bisher unbekannter Fakt: Die Unteroffiziersschule des Heeres mit über 500 Kursanten und Ausbildern stand unter der Kontrolle regierungstreuer Militärs. Sie warteten noch in der Nacht vom 10. auf den 11. September auf einen Ruf zur Verteidigung der Regierung. Die Linke blieb tatenlos und überließ es der Reaktion, ihre Gegner innerhalb der Armee kaltzustellen und später zu ermorden.

Weiterhin machen die veröffentlichten Materialien deutlich: der Staatsstreich wurde stümperhaft vorbereitet, seine Durchführung war dilettantisch. Bis in die Morgenstunden des 11. September blieb ungeklärt, wer die Führung des Umsturzes übernehmen würde. Das Schwanken Pinochets, der aus Angst um seine eigene Haut erst im letzten Moment das Kommando übernahm, hatte viele Beteiligte verunsichert. Die Koordination zwischen den drei Gattungen Heer, Luftwaffe und Marine funktionierte nicht. Noch am 11. September unterliefen den Putschisten mehrere schwerwiegende Schnitzer. Wichtige Heereseinheiten erhielten zwar einen Marschbefehl auf Santiago, es erfolgte jedoch keine Präzisierung des Zielortes und des Kampfauftrages. Ein Kampfflugzeug mit Einsatzziel Präsidentenpalast Moneda bombardierte versehentlich das Militärkrankenhaus in Santiago. Der schnelle Sieg der putschenden Generale war nur möglich, weil sie außer in der Moneda auf keinerlei Widerstand stießen.

Außerdem scheint sich zu bestätigen, dass die US-Geheimdienste und das amerikanische Militär an der Vorbereitung und Durchführung des Staatsstreiches nicht beteiligt waren. Der CIA hatte 1972/1973 zwar massiv rechtsradikale und faschistische Organisationen in Chile unterstützt und die Boykottaktionen der Unternehmerverbände gegen die Allende-Regierung gesponsert. CIA und andere US - Organisationen hatten sich primär auf die zivile Opposition in Gestalt der großen bürgerlichen Parteien PDC und PN orientiert. Von ihnen erwarteten sie den Sturz Allendes und die Übernahme der Regierung. Die jetzt veröffentlichen Berichte der US-Botschaft an das Außenministerium in Washington und der CIA-Residentur an die Zentrale aus dem Jahre 1973 zeigen, dass diese nur ein sehr allgemeines Bild von den Vorgängen in der chilenischen Armee hatten. Auch diese Schwachstelle der Putschisten konnte von den Linken nicht genutzt werden. Eine Kooperation zwischen den faschistischen chilenischen Militärs und den USA entstand erst drei Wochen nach dem Staatstreich. Stolz vermeldete der Botschafter einen Durchbruch für die Entwicklung der Beziehungen: der Generalstabschef habe die USA offiziell um Beratung bei der Aufbau von Konzentrationslagern für Regimegegner ersucht. Die aktuellen Veröffentlichungen bezeugen weiterhin, dass die Führungen der Unidad Popular - Parteien angesichts des herannahenden Staatsstreiches wie gelähmt waren.

Es lohnt sich daran zu erinnern, dass die Kommunistische Partei Chiles Anfang der siebziger Jahre nach der KP Kubas als die größte linke Partei Amerikas galt. Ihre Mitglieder waren straff organisiert und in allen gesellschaftlichen Bereichen präsent. Allen Genossen war die Gefahr eines militärischen Staatsstreiches wohl bewusst. Die Mehrheit der Parteimitglieder war fest entschlossen, die Allende-Regierung mit allen Mitteln zu verteidigen. Die Parteiführung hatte jedoch für den Ernstfall keinen Plan. Sie tat über das ganze Jahr 1973 praktisch nichts, um die Partei auf einen abrupten Wechsel der Kampfbedingungen organisatorisch und materiell vorzubereiten.

Die Armeeeinheiten der putschenden Generäle waren am 11. September so stark mit dem Sturm auf die Moneda beschäftigt, dass sie nur wenig Aufmerksamkeit den anderen potentiellen Widerstandszentren widmen konnten. Das rettete an diesem Tag vielen Patrioten das Leben.

Einen indirekten Nachweis für die Kampfkraft der Mitgliedschaft findet sich in den Dokumenten über die KP Chiles für die Zeit nach dem 11. September. Trotz Ausfall der gesamten Führungsebene und trotz grausamen Terrors formierten sich die Kommunisten schnell zur bedeutendsten zivilen Widerstandskraft gegen das Pinochetregime.

Wie groß die Chancen für einen entschlossenen Widerstand selbst am Tag des Staatsstreiches noch waren, bezeugt der Funkverkehr der putschenden Militärs. Als die Infanterie am Vormittag mit Panzerunterstützung den ersten Angriff auf den Präsidentenpalast unternahm, erhielten die Verteidiger der Moneda (nicht mehr als 20 Personen) Unterstützung durch eine Handvoll mutiger Chilenen, die aus den umliegenden Ministerien die Angreifer aus Handfeuerwaffen beschossen. Auch ein zweiter Angriff geriet ins Kreuzfeuer und wurde von dem verängstigten Kommandeur gestoppt. Die Generale reagierten nervös. Pinochet befahl die Bombardierung des Präsidentenpalastes.

Die jüngst bekannt gewordenen Dokumente über das Chile im Jahre 1973 liefern für die Geschichtsschreibung in drei Aspekten neue Erkenntnisse. Durch die vorliegenden Publikationen wird der Blick für die zentrale Schwäche der chilenischen Revolution geschärft. Ihre Führer (möglicherweise war Allende eine Ausnahme) begannen eine Revolution ohne zu berücksichtigen, dass diese immense gesellschaftliche Kräfte freisetzen würde. Die Entmachtung des Großkapitals und die Realisierung eines umfassenden Sozialprogramms führten zwangsläufig zur Herausbildung von zwei Lagern. Auf der einen Seite der Enthusiasmus und die Entschlossenheit der bisher Unterprivilegierten. Sie wollten - wie Quilapayun sang - "ein völlig neues Chile errichten". Auf der anderen Seite die Angst und der Hass in den oberen Schichten der chilenischen Gesellschaft. Je deutlicher sie den ehrlichen Willen der Allende-Regierung erkannten, ihre Wahlversprechen zu verwirklichen, desto mehr wuchs ihre Entschlossenheit, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Dieser sich aufschaukelnde Konflikt lief auf einen radikalen Bruch hinaus.

Die CIA-Beamten in Santiago erkannten diese Entwicklung sehr viel deutlicher, als die meisten Führer der chilenischen Linken. Sie waren zwar zu ungeschickt, ein Bündnis mit den Militärs als Hauptkraft der Konterrevolution herzustellen, aber ihre politischen und sozialen Analysen waren vortrefflich.

Das dogmatische Festhalten an dem "besonderen chilenischen Weg eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus" auf dem Boden der Verfassung durch die Führer der linken Parteien war tödlich. Denn die Reaktion hatte den Boden der Verfassung längst verlassen. Auch auf der anderen Seite hatte die gesellschaftliche Realität ihre Führer überholt: Als Antwort auf den Druck der Reaktion waren auf Wohngebietsebene und in Betrieben basisdemokratische Machtorgane entstanden, die die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln in ihre Hände nahmen, den Transport aufrecht hielten und die Produktion organisierten.

Offensichtlich waren die Siegchancen des chilenischen Volkes sehr viel größer als bisher angenommen. Die Lehren der chilenischen Revolution sind heute ein reicher Fundus für Parteien, die sich als links verstehen. Die tiefe Tragik der chilenischen Revolutionäre besteht darin, dass sie an denselben Fehlern zu Grunde gingen, wie schon 100 Jahre vorher die Pariser Kommunarden. Sie glaubten den bürgerlichen Staatsapparat nur in die Hand nehmen zu müssen, um ihn für ihre Zwecke in Bewegung zu setzen. Sie waren nicht entschlossen genug, die "bürokratisch-militärische Maschinerie" zu zerbrechen. Wie schon die Pariser Kommunarden wurden die chilenischen Revolutionäre Opfer ihres Vertrauens in die bürgerlich-demokratischen Traditionen und ihres Großmuts gegenüber dem politischen Gegner.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 18/2012 vom 3. September 2012, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 15. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2012