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DAS BLÄTTCHEN/1073: Das Unwort des Jahres und andere Mythen der Realitätsverweigerung


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
14. Jahrgang | Nummer 2 | 24. Januar 2011

Das Unwort des Jahres und andere Mythen der Realitätsverweigerung

Von Thomas M. Wandel


Alternativlos lautet das Unwort des Jahres 2010. Unwort, da es suggeriere, dass es keine anderen Möglichkeiten der Entscheidungsfindung gäbe. Dieses Unwort soll Angela Merkel geprägt haben, als sie den finanziellen Kraftakt (genannt Rettungsschirm) zur Vermeidung des Zusammenbruchs des griechischen Staatswesens als alternativlos bezeichnete.

Das war natürlich gelogen. Denn es hätte eine Alternative gegeben: Den Zusammenbruch der griechischen Staatsfinanzen mit nachfolgendem Liquiditätsengpass oder auch Crash internationaler und deutscher Großbanken. Die kräftig am Aufkauf griechischer Staatsanleihen verdienen, denen die allseits beklagte griechische Staatsverschuldung zu einem guten Geschäft geworden ist. Und die damit einerseits den Handelsüberschuss Deutschlands gegenüber Griechenland erst ermöglichen - denn was nutzen der deutschen Exportindustrie die niedrigsten Lohnstückkosten, wenn die griechischen Kunden kein Geld in der Tasche haben, um die Waren aus Deutschland zu kaufen? Also muss man Griechenland in die Lage versetzen, günstige Konsumentenkredite ausreichen und staatliche Einkäufe, zum Beispiel deutsche U-Boote, tätigen zu können. Zugleich erzielen die deutschen Großbanken aus den griechischen und den Zinsen anderer Länder Renditen, die es ihnen leichter machen, die Ausweitung der deutschen Staatsverschuldung zu finanzieren - wiederum gegen ein paar Euro Zinsen versteht sich. Alternativlos? Natürlich.

Die ganze Empörung in der deutschen Öffentlichkeit über den exorbitanten Luxus griechischer Lebensverhältnisse verdeckt, dass die BRD selbst seit Jahrzehnten einen Lebensstandard künstlich aufrecht erhält, der längst schon keine Deckung mehr durch die reale Wertschöpfung in diesem Lande hat, sondern sich vor allem aus einer stetig steigenden Verschuldung des Staates und der privaten Haushalte speist. Denn dieses Musterland des Kapitalismus hält - von rechts bis links - eisern daran fest, dass erbrachte Arbeitszeit das Maß des Anteils am in Geld gemessenen gesellschaftlichen Reichtums sei. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". Obwohl spätestens seit den 80er Jahren durch die stete Modernisierung und Automatisierung die Menge an lebendiger Arbeit, die aus dem Produktionsprozess eliminiert wird, schneller wächst als die Expansion von Produktion und Markt. Politik und Statistik weisen nicht umsonst gern die Zahlen der "neu geschaffenen Arbeitsplätze" aus und nicht, wie viele vorhandene Arbeitsplätze durch die neuen überflüssig wurden.

Der Wahrheit konnte man noch eine Weile ausweichen. Der Zusammenbruch des "Staatssozialismus" brachte neue Expansionsgebiete, die mittlerweile aber auch schon weitestgehend ausgeschöpft sind: Der Kapitalismus kann die Erde eben nur einmal umrunden. Und jede mögliche Entwicklung in den "neuen Gebieten" findet entweder auf einem extrem hohen Investitionsniveau mit entsprechend geringer Beschäftigtenzahl oder auf einem fast schon vor-fordistischen Level statt, um auch den Lohnvorteil nutzen zu können: Relative und absolute Mehrwertschöpfung in Kombination. So wie im Fall des beargwöhnten und zugleich umworbenen "Hoffnungsträgers" China. Derzeit erfreut sich die deutsche Wirtschaft an den Verkaufszahlen von Daimler in China, als wäre die Zahl verkaufter Luxuslimousinen ein Indiz für eine Strukturentwicklung dieses Landes. Dass das ganze Wirtschaftswunder Chinas auf dem schuldenfinanzierten Konsum vor allem der USA beruht und daran auch die tollen Exporterfolge der deutschen Industrie in China hängen, müssen unsere hochdotierten Wirtschaftsweisen nicht wissen. (Die bekommen ihre Honorare für glaubwürdige Prognosen und ebenso glaubwürdig vorgetragenes Erstaunen, wenn diese dann nicht zutreffen.)

Und Deutschland selbst? Weder die zeitweilig exorbitanten Handelsüberschüsse der BRD noch ihre Entwicklung zu einem beliebten Ziel des Kapitalexports konnten verhindern, dass dieses Staatswesen überschuldet ist. Weil trotz einer überproportional hohen Abschöpfung von Mehrwert, der in anderen Volkswirtschaften produziert wurde, die eigene Wertschöpfung nicht mehr ausreicht, um der hiesigen Sozial- und Infrastruktur noch eine Deckung zu geben. Wie hoch die Unterdeckung ist, lässt sich aus der Staatsverschuldung der BRD (derzeit bei 1,8 Billionen Euro, 2009 laut EuroStat bei 73,4 Prozent des Bruttoinladsnprodukts) sowie den 120 Milliarden Euro Schulden von über 3,3 Millionen Haushalten in Deutschland (ca. zehn Prozent aller Privathaushalte) ablesen.

Ohne die gegenseitige Alimentierung der Großbanken und des Staatshaushaltes wäre das ganze System schon zusammen gebrochen. Die BRD legt staatliche Schuldscheine auf, die auf Grund guter Zinssätze und der scheinbaren Ausfallsicherheit von den Großbanken gern gekauft werden und damit dem Staat weiteren Handlungsspielraum verschaffen. Und womit kaufen die Großbanken die Staatsanleihen? Mit günstigen Krediten, die ihnen die Europäische Zentralbank ausreicht. Dreimal dürfen wir raten, woher die Europäische Zentralbank ihre Mittel nimmt (sofern sie sie nicht einfach per Computer Geld aus dem Nichts schöpft). Eine Hand wäscht die andere - eine Schuld deckt die andere. Alle verlassen sich darauf, dass diese Kette gegenseitiger Verbindlichkeiten, die auch im Wortsinne Abhängigkeiten sind, nicht reißt.

"Otto Normalverbraucher" verwechselt gern die Kaufkraft seines Euro beim Urlaub in der Türkei oder Tunesien (wenn er dort nicht gerade durch einen Umsturz von Leuten aufgeschreckt wird, bei denen der Selbstbetrug nicht mehr klappt, einfach weil die Kohle nicht mehr zum Fressen reicht) mit einem "realen Wert" seiner Münzen. Der Euro ist aber unter den anderen Pleitewährungen nur eine, die noch ein gewisses, wenn auch nicht gerechtfertigtes Vertrauen an den Währungsmärkten genießt. Das teilweise ekelhafte Überlegenheitsgehabe deutscher Touristen im Ausland ist genau so berechtigt wie das neokolonialistische Belehrungsgebahren deutscher Politiker, die anderen beibringen wollen, wie sie mit "good governance" die gleiche Pleiteverschleierung wie in Deutschland installieren können. Es sind aber leider nur die Einäugigen, die unter den Blinden Könige sind.

Und dann kommen unsere Linken, die ganz genau wissen, dass man das ausreichend vorhandene (wenn auch unterdeckte, also eigentlich wertlose) Geld nur besser und gerechter verteilen müsse - dann wäre der Laden gerettet, und es könnte mit einem gerechteren Kapitalismus, der natürlich auch ökologisch nachhaltig umgestaltet wird, eigentlich erst so richtig losgehen. Als Beleg für die vorhandenen Gelder dienen dann die Staatsgarantien von mittlerweile 142 Milliarden Euro allein für die HRE und die eigentlich nicht mehr zählbaren weiteren Milliarden, mit denen die Pleite diverser Privat- und Landesbanken verhindert wurde. Wieso ist dafür Geld da, aber für Ganztagesschulen, für eine menschenwürdige Pflege, für die Aufrechterhaltung der kulturellen Infrastruktur nicht?

Die politische Klasse neigt dazuund erfüllt ihre Aufgabe im Kapitalismus damit perfekt -, das verfügbare Geld systemerhaltend einzusetzen. Ein Crash der HRE und einiger deutscher Großbanken hätte in der Tat die Gefahr eines Zusammenbruchs des ganzen Systems - und zwar nicht nur in Deutschland - herauf beschworen. Insofern war aus Sicht der Herrschenden die Rettung der Pleitebanken alternativlos. Und solange die vom Sozialabbau in Deutschland Betroffenen nicht auf die Straße gehen und selbst das System in Frage stellen, sind die eben kein "systemrelevanter Faktor".

Freilich neigt man in den Chefetagen von Regierungen, Konzernen und Banken auch aus Eigeninteresse dazu, erst den Laden zu retten, mit dem man selbst verbunden ist, und dann - wenn noch etwas übrig bleibt, zum Beispiel fünf Euro im Monat pro Hartz-IV-Empfänger, - dies zur Beruhigung des im Übrigen eigentlich überflüssigen Personals einzusetzen. Es ist an dieser Geisteshaltung nichts zu beschönigen und alles zu kritisieren, aber es gehört zur Wahrheit, dass sich nicht nur die Ackermänner und Merkels an das bestehende System klammern, sondern auch die sozial Betroffenen - beide Seiten hoffen, dass es doch endlich wieder aufwärts gehe und letztere beten: Bitte, bitte, mit ein bisschen mehr sozialer Gerechtigkeit.

Zur Aufrechterhaltung dieses desaströsen Verwertungsprinzips, bei dem noch die allergrößten Weltverbesserer ihre Vorschläge nur in Geld denken können ("Aber es muss bezahlbar sein - wir machen keine unrealistischen Vorschläge!"), gehören nicht nur die Funktionseliten des Kapitals, sondern in gleichem Maße die nach Arbeit, neuerdings nach "guter Arbeit" Rufenden. In den Chefetagen wird nur die innere Logik dessen, wonach die anderen rufen, umgesetzt. Ob wir über "Arbeit" reden oder über "Kapital" - wir reden über die gleiche Sache. Wer das eine haben will, nimmt das andere zwangsläufig mit.

Die BRD ist pleite. Nicht, weil sie besonders schlecht gewirtschaftet hat, sondern weil sie besonders gut im Wirtschaften war und ist. Mit ihrer Exportorientierung war sie im Abschaffen lebendiger Arbeit besonders erfolgreich. Damit hat sie ihre eigene Wertschöpfung immer mehr reduziert - bei gleichzeitigem Ansteigen der Staatsausgaben, verursacht durch stetig steigende Anforderungen der Industrie an Infrastruktur, Forschungsfinanzierung, angepasste Bildung, Sicherheitsapparate und nicht zuletzt an einen "Sozialstaat", der für die erforderliche Befriedung der Verhältnisse Voraussetzung ist. Alternativlos.

Die Alternativen liegen jenseits dieser warenproduzierenden, alles in die überholte Wertform pressenden Gesellschaft. Die entstandenen Produktivkräfte reichen aus, allen fast sieben Milliarden Menschen dieser Erde ein menschenwürdiges Dasein zu eröffnen, ohne den Planeten weiter zu zerstören. Das würde "nur" voraussetzen, Produktivkräfte und natürliche Ressourcen in einer gesamtgesellschaftlichen, globalen Planung einzusetzen. Ohne Wert, ohne Geld. Ohne künstliche Verknappung vorhandener Güter.

Solange die Möglichkeit, die Bedürfnisse der Menschen in freier Kooperation und auf direktem Wege zu befriedigen auch und gerade von Linken (von anderen ist nichts zu erwarten) in das Reich der Utopie verwiesen wird, bleibt das böse K-Wort das eigentliche Unwort dieser Gesellschaft. Und alternativlos nur die Beschreibung einer Gefangenschaft, in der die Mehrheit dieser Gesellschaft aus Angst vor wirklicher Veränderung allzu gern verbleiben möchte.


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 2/2011 vom 24. Januar 2011, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 14. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2011