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CORREOS/205: Venezuela - Der Hass des Feindes


Correos de las Américas - Nr. 183, 23. Dezember 2015

Der Hass des Feindes

von Dieter Drüssel


Als ich mitbekam, dass venezolanische Bekannte hier in der Schweiz ihrer Familie zuhause Seifen schicken mussten, begann ich zu ahnen, dass es am 6. Dezember, dem Tag der Parlamentswahlen, finster werden könnte. «Freie und faire» Wahlen unter diesen Umständen? Hygieneartikel wurden zu Luxusgütern in Chile vor dem Putsch gegen Salvador Allende, im sandinistischen Nicaragua der 80er Jahre und jetzt in Venezuela. Wer will, kann Daumen lutschen und glauben, dass linke Wirtschaftsinkompetenz der Grund dafür ist. Wir andern könnten anfangen, etwas vom enormen Sadismus des globalen Kapitalismus zu kapieren.

Die Rechte hat es geschafft, ihre Mobilisierung für die Präsidentschaftswahlen bei traditionell weniger beachteten Parlamentswahlen zu halten und gar leicht auszubauen auf 7.7 Millionen Stimmen oder 56.5% gegen 5.6 Millionen oder 41% für den Chavismus. Vom chavistischen Elektorat der letzten Präsidentschaftswahlen blieben rund 2 Mio. zuhause, sie wählten also nicht rechts. Die Gründe dafür sind wohl vielfältig, vom Schiff aus bestimmt nicht zu bestimmen. Es wird die Frustration über die wirtschaftliche Misere und die wahrgenommene oder behauptete Korruption in chavistischen Rängen - also deren Bourgeoisie-Werden eine Rolle gespielt haben. Ebenso das Auseinanderklaffen zwischen erlebter Alltagshärte und vollmundigen, selten umgesetzten Erklärungen der Regierung und vieles mehr.

Sicher spielt bei dieser Stimmabstinenz auch simpel eine beginnende Resignation mit: «Der Feind ist stark und die Unsern taugen nichts». Also das Gegenteil anarchistischer Träume. Wird es dem Chavismus in der nächsten Zeit gelingen, sich so zu verändern, dass diese Leute wieder an Bord geholt werden, oder setzt er im Gegenteil auf abstrakte Durchhalteparolen und Gebetsmühlen pro internen Status quo und entmutigt so weitere Bevölkerungskontingente? Wir wissen es nicht. Aus Venezuela kommen endlos viele und gegensätzliche Stellungsnahmen. Schlechte Zeit für die Pose der «genauen Fallbeschreibung».

Wie wird die nächste Zeit aussehen? Die Unternehmerverbände haben ihrer 2/3-Mehrheit im Parlament (erreicht dank der dominierenden Majorzwahl) schon ihre Agenda diktiert: Überführung der Zentralbank in die «Unabhängigkeit», also unter die Kontrolle des Finanzkapitals; faktische Privatisierung der Devisenreserven und damit der Ölrente (via die staatliche «Subventionierung» des privaten Importbusiness mit Billigstdollars eh schon teilverwirklicht): Aufhebung der Preiskontrollen, der sozialen Arbeitsgesetzgebung etc. Washington - jefe de jefes der Reaktion - wird entscheiden, ob die Gunst der Stunde im Sinne einer Schocktherapie und damit einer blutigen Konfrontation mit den chavistischen Massen genutzt werden oder ob angesichts der damit verbundenen Unwägbarkeiten eine «moderate» Salamitaktik geboten sei.

In diesem Heft fehlt uns der Platz, auch nur schon die Grundlinien des umfassenden imperialistischen Angriffs auf den Chavismus und seinen grausamen Niederschlag in der Psyche der Menschen in Venezuela zu skizzieren (vgl. dazu auf dem ZAS-Blog die Venezuela-Einträge). Ein «Detail» sei heraus gegriffen, eines der vielen möglicherweise explosiven Momente: die sogenannten Untersuchungen durch das US-Justizsystem eines angeblich von Diosdado Cabello und hohen venezolanischen Militärs geleiteten, global immer wichtiger werdenden Drogenkartells (Cartel de los Soles). Cabello, noch amtierender Parlamentspräsident, ist eine der wichtigsten chavistischen Figuren und bevorzugtes Angriffsobjekt der transnationalen Reaktion. Er «gilt» als Chef der chavistischen Korruption, wobei dieses weit verbreitete «Wissen» bisher nie konkret begründet wurde. In Miami und New York laufen gesteuerte «Untersuchungen» gegen Diosdado und «sein Kartell», gestützt ausschliesslich auf die (bestellten) Aussagen kolumbianischer rechtsextremer Narcos und eines Überläufers (s. Zas-Blog: «Venezuela - die Fernsteuerung»). Vermutlich wird dieser Tage gegen mehrere der «Untersuchten» eine Anschuldigung offizialisiert. Falls die Rechte Cabellos parlamentarische Immunität nach vorgängiger Rückführung der Justiz in ihre Gewässer aufheben sollte, könnte eine Auslieferung an die USA drohen. Das wäre ein bewusst gesuchter casus belli.

Die Auswirkungen der schweren Niederlage in Venezuela auf den lateinamerikanischen Prozess der Befreiung sind nach einer Reihe weiterer Rückschläge von Argentinien bis Guatemala auf jeden Fall dramatisch. Würde sich dieser Trend dank des terroristischen Instrumentariums der globalen Eliten festigen, stünde wohl weniger die vom argentinischen Intellektuellen Atilio Borón erwähnte Frage nach einer bewaffneten Revolution im Raum als vielmehr das Horrorszenario einer Ausweitung des Terrors etwa des «Antidrogenkriegs». Um das abgehalfterte Wort zu bemühen: In Lateinamerika bietet heute die Linke eine Chance auf Humanismus. Scheitert sie, kommt die Nacht des Terrors, des neoliberal-faschistischen «Alle gegen Alle» im Alltag.

Präsident Nicolás Maduro hat nach Bekanntgabe der Resultate und deren Anerkennung gesagt: «Venezuela geht dem Faschismus oder einer Vertiefung der sozialistischen Revolution entgegen. Es gibt keinen dritten Weg.» Eine gradualistische, quasi «sozialdemokratische» Angewöhnung an den kapitalistischen Leidensalltag scheint angesichts der Notwendigkeit für die Rechte, die chavistische Subversion zu tilgen, ebenso ausgeschlossen wie auch wegen der Stärke des «anderen», nicht bloss elektoralen Chavismus. Etwas hat sich in diesen Jahren in Venezuela verändert, die Selbstverständlichkeit der Räte im Armutsquartier, des Aufrechtgehens auch unter widrigen Umständen. Hier gründet unsere Hoffnung und hierauf richtet sich der Hass des Feindes.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 183, 23. Dezember 2015, S. 5
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2016

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