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CORREOS/133: Mexiko - Vielstimmiger Aufschrei gegen den "Drogenkrieg"


Correos des las Américas - Nr. 167, 21. September 2011

Vielstimmiger Aufschrei gegen den «Drogenkrieg»
Eine Bewegung, um «diesen absurden Krieg zu stoppen»?

von Philipp Gerber


«Mir bricht die Stimme, weil meine Mutter eine unermüdlich arbeitende Person war. Das, was hier geschehen ist, ist ein Terrorakt. Dieser macht klar, dass wir keinen Rechtsstaat haben. Es herrscht Straflosigkeit. Was am meisten schmerzt, ist, dass die Regierung in den Händen von verantwortungslosen Leuten ist», sagt Raúl Carlos Cavazos unter Tränen. Er steht im Universitätsspital von Monterrey und hat eben den Leichnam seiner 62-jährigen Mutter identifiziert, eine der vielen weiblichen Opfer des Anschlags auf das Casino Royale, bei welchem am 25. August 52 Personen ums Leben kamen. Die Attentäter zündeten das Casino am frühen Nachmittag an, zu einer Uhrzeit, wo sich die Bevölkerung der Wirtschaftsmetropole Mexikos unbekümmert bewegt. Im Casino war Bingo populär, die Mittelklasse vergnügte sich ein wenig, bevor es vor dem Eindunkeln zurück nach Hause und damit in die Defacto-Ausgangssperre geht. Raúl Carlos Cavazos, seit 19 Jahren in der regierenden konservativen Partei PAN engagiert, fährt fort: «Wir sind alleine. Wir sind zutiefst traurig, untröstlich, zerstört. Ich fühle das nicht nur für meine Mutter, sondern für die Tausenden von MexikanerInnen, welche dasselbe erleiden. Sie werden uns jedoch nicht erschrecken. Hier leben wir, wir können nicht weggehen. Dieses Mexiko ist nicht ihres. Sie werden es uns nicht wegnehmen».

Raúls Stimme, zufällig aus der Tagespresse ausgewählt, ist eine der unzähligen Zeugnisse der Opfer der Auseinandersetzung, in welcher Präsident Calderón das Land seit seinem Amtsantritt im Dezember 2006 verstrickt hat. Inzwischen werden 50.000 Tote gezählt, in 70 Prozent der Bezirke des Landes sind die Mafiaorganisationen mehr oder weniger offen präsent. Während der Krieg auf der Strasse eskaliert, diversifizieren die unter Druck geratenen Mafias ihre Geschäftsfelder und dringen so immer tiefer in die Gesellschaft ein. Gleichzeitig wird ein Grossteil der kriminellen Netzwerke trotz martialischer Militarisierung des Landes kaum angetastet: Ein griffiges Gesetz gegen Geldwäsche fehlt nach wie vor, die beschlagnahmte Menge an illegalisierten Drogen nimmt tendenziell ab, Erpressung und Entführungen blühen. Die USA, grösster Abnehmer der Drogen und Profiteur des blühenden Waffenhandels, schmuggeln gleich noch selber in der kruden Geheimdienstoperation «Fast and Furious» tausende automatischer Waffen ins Nachbarland. In 97 Prozent der dem Drogenkrieg zugerechneten Morde werden nicht mal Ermittlungen eingeleitet. Und wenn, dann spricht die Justiz äusserst selten Recht.

In diesem Dilemma von harter Hand und lascher Staatlichkeit, das sich im neoliberalen Nachtwächterstaat Mexiko mit aller Härte abspielt, verschafft sich seit letztem Frühling eine «Stimme der Stimmlosen» Gehör: Javier Sicilia, Dichter und Kolumnist. Er titelte nach der Ermordung seines Sohnes Ende März estamos hasta la madre, wir haben die Schnauze voll. Seither wächst eine Bewegung «für einen Frieden mit Gerechtigkeit und Würde» heran, die ein Ende der blutigen Auseinandersetzung fordert und die den Opfern des Krieges Name und ein Stück Würde zurückgeben will. Seither wächst eine Bürgerbewegung jenseits der politischen Fronten heran, deren Artikulationen und Aktionen eine der wenigen Hoffnungen im düsteren Panorama darstellen.

Die zahlreichen Aktionen der Bewegung im Einzelnen zu analysieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Zusammenfassend folgender Überblick: Neben Schweigemärschen und zwei Karawanen (von Cuernavaca nach Mexiko-Stadt und durch Nordmexiko nach Ciudad Juárez) fanden öffentliche, im Internet live übertragene Gespräche statt zwischen OpfervertreterInnen und dem Präsidenten sowie Abgeordneten aller Fraktionen im Parlament. Weitere Verhandlungen zum Thema Sicherheit und Drogenkrieg mit Legislative, Judikative und Exekutive fanden und finden hinter geschlossenen Türen statt. Was einen Teil des Publikums bei den öffentlichen Dialogen irritierte, war die etwas gefühlige Art, wie Sicilia Präsident Calderón und Parlamentsvorsteher Beltrones (PRI) wertschätzte: Nach den klaren, überaus direkten Voten gab es Umarmung und Wangenküsse vom Poeten. Dieser beharrt jedoch darauf, auch dem Gegner in der Auseinandersetzung empathisch gegenüberzutreten, sozusagen als immanenter Teil der Friedensstrategie.

Da die spontan entstandene Bewegung stark auf die Figur von Sicilia konzentriert ist, lohnt es sich, ein wenig genauer hinzuschauen. Seine wöchentliche Kolumne in der Zeitschrift «Proceso» ist bekannt für ihr abschliessendes politisches Bekenntnis, das sich in Variationen wiederholt: «Ausserdem bin ich dafür, dass die Abkommen [über indigene Kultur und Rechte] von San Andrés respektiert werden, alle zapatistischen Gefangenen freikommen, (...) die Verbrechen der Ermordeten von Ciudad Juárez aufgeklärt werden, (...) alle Gefangenen der APPO rauskommen, Ulises Ruiz der politische Prozess gemacht wird, die Sicherheitsstrategie geändert und die Opfer des Krieges von Calderón entschädigt werden.»

Dieser Rosenkranz von Forderungen hat in seiner Insistenz eine Beharrlichkeit, die auch in der moralischen Grundüberzeugung von Sicilia gründet: In seiner Kolumne von Ende August, «Der Anarchist und der Christ», erklärt Sicilia die Quelle seiner Kraft, dank derer er nach dem Tod seines Sohnes die Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde anführt. Seine philosophisch-religiöse Grundüberzeugung ist eine antiklerikal-christliche und pazifistisch-anarchistische. Damit ist zwar kein Staat zu machen, aber eine erfrischende Inspiration jenseits des medialen Parteizirkus ist Sicilias Stimme durchaus. Und Sicilias Engagement als Bürger ohne Ambitionen auf Posten, grundkritisch gegenüber Staat und Politik, aber die staatliche Pflicht auf Sicherheit einfordernd, gewinnt durch dieses Bekenntnis an Glaubhaftigkeit. Wenig Freude an diesem Unwillen zur Macht haben die Kreise um den Linkspolitiker Andrés Manuel López Obrador, welche hofften, aus der Friedensbewegung im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen von 2012 politisches Kapital schlagen zu können. Die abschätzigen Stimmen aus der Linken gegenüber Sicilia wurden von den Massenmedien sofort gern aufgenommen.

Mitte September wird die Friedensbewegung mit einer dritten Karawane in Erscheinung treten. Diesmal geht's in den politisch bewegten Süden, von Guerrero über Oaxaca und Chiapas, über die Grenze nach Guatemala und zurück nach Veracruz. Die Route lässt erahnen, eines der Hauptthemen des neuen BürgerInnenprotests wird die Migration sein. Schon seit Januar 2011 wurden die Mobilisierungen zum Thema intensiver. Endlich werden Vergewaltigungen, Erpressungen von zehntausenden von MigrantInnen, Zwangsrekrutierungen für die Mafias, etc. breiter diskutiert. Gleichzeitig sind auch der institutionelle Rassismus und die himmelschreiende Komplizität der Migrationsbeamten öffentlich geworden. Aber an den konkreten Bedingungen für die Migrierenden hat sich dennoch bisher wenig geändert. Ein Brennpunkt des Drogenkrieges ist inzwischen Guerrero im Süden des Landes, wo die Gewalt in Acapulco, aber auch auf dem Land horrende Ausmasse annimmt. Acapulcos Mordrate ist in den letzten Monaten proportional höher als diejenige von Ciudad Juárez, welche die traurige Liste weltweit anführte. Und in den meistgeplagten Regionen der Costa Grande haben 2.000 LehrerInnen um Versetzung gebeten, mehrere Gemeinden sind kollektiv vor der Gewalt geflohen. In Oaxaca beherrschen, glücklicherweise, immer noch die politischen Konflikte die Schlagzeilen, wenn auch der Vormarsch des Drogenkriegs in den Nachbarstaaten Veracruz und Guerrero schon seine Spuren hinterlässt.

Chiapas schliesslich hat eine beneidenswert geringe Kriminalitäts- und Gewaltrate, auch in den politischen Auseinandersetzungen. Dies ist wohl ein Resultat der gewaltfreien Verteidigungsstrategie der Zapatista-Gemeinden. Die Zapatistas solidarisierten sich im Mai mit einem eigenen Schweigemarsch mit Sicilia, an dem rund 20.000 vermummte Indigenas teilnahmen. Nach diesem starken Zeichen der Solidarität herrschte Schweigen, bis zu einem Schreiben von Subcomandante Marcos Ende August, in welchem er unter dem Titel «Urteilen oder verstehen versuchen?» das vorschnelle Aburteilen der Friedensbewegung Sicilias kritisiert. Erst müsse man versuchen, die junge Bewegung zu verstehen: «Und um zu respektieren und zu verstehen, muss man nach oben, aber auch nach unten schauen. Es stimmt, dass oben die Zärtlichkeiten, welche die direkten Verantwortlichen von so vielen Toten und Zerstörung erhalten, irritieren. Aber unten sehen wir, dass in den Familien und Freunden der Opfer Hoffnung, Trost und Begleitung geweckt wird». Marcos betont, dass die Friedensbewegung die volle Unterstützung der Zapatistas erhalte. «Wir dachten, dass vielleicht eine Bewegung entsteht, der es gelingt, diesen absurden Krieg zu stoppen. Es scheint nicht, dass dem so ist (oder noch nicht)». Dennoch sei von unschätzbarem Wert, dass die Opfer sichtbar gemacht wurden, aus der Statistik und der Vermischtmeldung heraustreten. Mit diesen Begleitworten macht sich die Karawane auf den Weg in den Süden. Wohl wissend, dass das politische Establishment gesprächs-, aber kaum kompromissbereit ist. Und dass die Bevölkerung dringendst eine Alternative, ein Ende des Kriegs, herbeiwünscht.


Sicilias Bürgerbewegung gegen den Drogenkrieg

«Mexikaner verbünden sich gegen den Drogenkrieg», titelten die Medien anlässlich der Demonstrationen im April und Mai dieses Jahres. Die Bewegung geht auf den Aufschrei von Javier Sicilia zurück, dessen 24-jähriger Sohn zusammen mit weiteren Jugendlichen in Cuernavaca ermordet wurde. Javier Sicilia ist Dichter und links engagierter Journalist mit befreiungstheologischem Hintergrund. Seine wöchentlichen Kolumnen in der Zeitschrift Proceso endeten jahrelang regelmässig mit der Forderung nach der Umsetzung des Friedensabkommens zwischen der EZLN und der Regierung. Der Aufschrei «Estamos hasta la madre» - wir haben die Schnauze gestrichen voll, mobilisierte die linksintellektuelle Mittelschicht Mexikos in Solidarität mit Sicilia. Weniger begeistert über die Mobilisierung waren die rechten, unternehmernahen Vereine gegen die Kriminalität und die Unsicherheit. Denn Sicilia klagte direkt auch die Regierung an als MittäterIn bei den zehntausenden von Morden seit der militärischen Eskalation gegen die organisierte Kriminalität. Und forderte eine Rückkehr der Soldaten in die Kasernen. An der zweiten grossen Mobilisierung Anfang Mai nahmen auch erstaunlich viele soziale Organisationen den Ball auf, so die EZLN, welche sich nach fünf Jahren erstmals wieder öffentlich zeigte. Und die Bewegung geht weiter, Anfang Juni mit einer Karawane nach Ciudad Juárez, der von der Gewalt am meisten betroffenen Stadt, wo ein Pakt der Zivilisiertheit geschlossen werden soll. Lokale zivile Organisationen warnten jedoch Sicilia, sie seien nicht mehr bereit, mit der Regierung irgendwelche Abkommen zu unterzeichnen, aufgrund ihrer Erfahrung mit leeren Versprechen in der Vergangenheit. Es bleibt abzuwarten, ob der BürgerInnenprotest aus der Mitte mit Sukkurs von unten links eine gewichtige Stimme in Mexiko wird spielen können. Die Präsidentschaftswahlen von Mitte 2012 werfen ihre Schatten voraus. Vorsichtshalber hat das Parlament schon mal eine Wahlreform auf Eis gelegt, welche Bürgerkandidaturen unabhängig von den allseits diskreditieren Parteien ermöglicht hätte...


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 167, 21. September 2011, S. 3-4
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2011