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CORREOS/102: Mexiko - Die Mafia frißt ihre Väter


Correos des las Américas - Nr. 162, 16. Juli 2010

Die Mafia frisst ihre Väter

Der Chef der Regierugnspartei PAN wird entführt, ein Folter-General niedergeschossen. Schuld sei die Guerilla. Doch alles deutet daraufhin, dass es sich um eine Abrechnung im kriminell-politischen Milieu handelt.

Von Philipp Gerber


Selten hat in Mexiko das Verschwinden einer Person ein solches Aufsehen erregt: Ex-Präsidentschaftskandidat Diego Fernandez de Cevallos ist seit dem 14. Mai entführt. Der Anwalt mit dem gepflegten Bart, im Volksmund »El Jefe Diego» genannt, 69 Jahre alt, ist der grosse alte Mann in der PAN, der katholisch-neoliberalen Partei, welche seit 2000 mit Fox und Calderón die Präsidenten Mexikos stellt. Diego Fernandez de Cevallos war als PAN-Senator auch einer der Väter der Gegenreform zu den Abkommen von San Andrés über die indigenen Rechte, mit der die politische Lösung des Konflikts mit der EZLN im Jahre 2001 verunmöglicht wurde.

Doch es lohnt sich, ein wenig weiter zurückzuschauen:In den Neunziger Jahren war er zusammen mit dem heutigen Innenminister Gómez Mont der Anwalt von diversen Firmen, welche mit Investitionen des Drogenkartells von Ciudad Juárez inVerbindung gebracht wurden. So war die Anwaltskanzlei Fernandez / Mont die juristische Vertretung des Spitals, in welchem Amado Carrillo Fuentes alias «El Señor de los Cielos» (Herr der Himmel) sich einer Gesichtstransplantation unterzog. Carrillo Fuentes, gefürchteter Mafiaboss des Juárez-Kartells, wollte so sich eine neue Identität verschaffen und seinen Häschern entkommen. Er starb jedoch an den Komplikationen, die nach der Operation auftraten. Doch nicht nur das Privatspital wurde von den PANisten Mont und Cevallos verteidigt, auch die Begräbnisfirma des Drogenbosses hatte denselben juristischen Beistand. Don Diego wehrte alle Vorwürfe ab, das seien ganz normale Geschäfte. Auch als eine direkte Kommissionszahlung an ihn für die Investition eines Drogenkartells aufflog, konnte ihn das nicht aus der Ruhe bringen. Juristische Konsequenzen hatte der brillante Rechtsverdeher nicht zu fürchten. In zahlreichen Wirtschaftsprozessen entlockte der als «Anwalt der Teufel» bezeichnete Herr mit dem breiten Lachen und der Zigarre im Mundwinkel dem Staat Millionen als Entschädigungszahlungen für seine Klienten, meist stinkreiche Investoren und Grossunternehmen.

Der politische Einfluss des heutigen Entführungsopfers kann als hoch eingeschätzt werden: Seit Mitte der Neunziger Jahre, so die Zeitschrift Proceso, setzt «El Jefe Diego» in den wechselnden Regierungen jeweils die obersten Staatsanwälte ein, so den aktuellen Bundesstaatsanwalt Arturo Chávez Chávez, in dessen Amtszeit als Delegations-Chef der Bundespolizei im Staat Chihuahua der Beginn der unsäglichen und bis heute nicht aufgeklärten Serie der Frauenmorde in Ciudad Juárez begann. Viele Beobachter sehen in den 2009 eingesetzten Figuren Innenminister Gómez Mont und Bundesanwalt Chávez Chávez das Comeback des Strippenziehers Diego Fernandez de Cevallos hinter dem schwächelnden Präsidenten Felipe Calderón.

Hintergründe über die Entführung wurden kaum bekannt, einzig dass am Strassenrand Nahe der Finca des PAN-Chefs der Anti-Entführungs-Chip gefunden worden sei, welcher «El Jefe Diego» unter der Haut implantiert trug, geisterte einen Monat nach der Entführung durch die Medien. Die sonst so sensationsgeilen Medien schwiegen sich auch aus, als eine Foto des Entführten im Internet auftauchte und die Untersuchungsbehörde stellten gar «auf Wunsch der Familie» alle Ermittlungen ein, um das Leben des Entführungsopfers nicht zu gefährden. Die Familie verhandle mit den Entführern direkt. Ein weiterer Vorfall gab den Spekulationen über die Hintergründe Auftrieb: Der von der Familie mit der Suche nach Diego beauftragte pensionierte General Arturo Acosta Chaparro wurde kurz darauf auf offener Strasse in Mexiko Stadt niedergeschossen. Acosta Chaparro ist verantwortlich für Folter und Hunderte von Morde während des Schmutzigen Kriegs der Siebziger Jahre in Guerrero. Er war wegen seiner Drogengeschäfte sechs Jahre in Haft, bis er unter Calderón einen Revisionsprozess gewann, freikam und mit allen Ehren «pensioniert» wurde, sprich seither als Privatmann Sonderaufgaben im Bereich Sicherheit übernimmt, so unter anderem für die «linke» Regierung von Guerrero. Für all seine Verbrechen in Guerrero, oder auch für seine Beteiligung am Massaker von Tlatelolco von 1968 wurde der Abgänger der Folterschule «Schools of the Americas» nie zur Rechenschaft gezogen, wie auch sonst keiner der Täter dieser dunklen Jahre Mexikos. Acosta Chaparro war überzeugt, dass die Entführung von Diego Fernandez de Cevallos ein Werk der Guerilla EPR (Ejército Popular Revolucionario) sei. Auch ein erstes Dementi der EPR schlug er in den Wind: «Glaubt denen kein Wort», schnautzte der alte kalte Krieger.

Die Guerilla EPR distanzierte sich mittlerweile dreimal in ausführlichen Communiqués von der politisch hochbrisanten Entführung. Dies wurde notwendig, weil geheimdienstnahe Journalisten und rechtsgerichtete NGO's weiterhin zu wissen meinen, dass die EPR oder «eine ihrer sieben Abspaltungen» für die Entführung verantwortlich seien. Enrique González Ruiz, Direktor der Studiendisziplin Menschenrechte an der neu gegründeten Universität UACM in Mexiko Stadt, zweifelt die öffentliche Distanzierung der EPR nicht an: «Es gibt keinerlei Hinweise für militärische Aktionen der EPR». Im Gegenteil halte sich die Guerilla an den einseitig erklärten Waffenstillstand. Dieser wurde ausgerufen, als sich eine Vermittlerkommission, mit dabei auch González Ruiz, bereit erklärte, alles zu tun, um die zwei seit Mai 2007 verschwundene Guerilla-Mitglieder aufzufinden. Edmundo Reyes Amaya und Gabriel Alberto Cruz Sánchez waren Jahrzehnte in der EPR aktiv, bis sie in Oaxaca Stadt aus einem Hotel heraus verhaftet wurden. Seither gelten sie als spurlos verschwunden. Die Guerilla denunzierte zuerst die gravierende Menschenrechtsverletzung mit einer Reihe von Communiqués, die wirkungslos verschallten. Dann attackierte sie mehrmals die strategisch wichtigsten Gaspipelines Mexikos und legte so die industrielle Produktion der Ballungszentren für Tage nieder; der wirtschaftliche Schaden wurde auf mehrere Milliarden US-Dollar geschätzt. Den darauf ausgerufenen Waffenstillstand hielt sie bisher ein. Jedoch ohne dass der Staat herausrückt, was mit ihren beiden Militanten geschehen ist. Der Fall der beiden Verschwundenen der EPR und das Agieren von Acosta Chaparro illustrieren für den Professor González Ruiz, dass «der Schmutzige Krieg weitergeht». Nie wurde in Mexiko eine Aufarbeitung der Vergangenheit gemacht, die Seilschaften aus der Blütezeit der Counterinsurgency sind intakt.

Zurück zur Entführung: Eine zweite These muss unbedingt in Betracht gezogen werden. Zwei Tage vor der Entführung von Fernández de Cevallos geschah in Culiacán, Hauptstadt des Grenzstaates Sinaloa, bisher Ungesehenes: Mit einem Grossaufgebot wurde Griselda López Pérez alias Karla Pérez Rojo verhaftet. Sie ist die Ex-Ehefrau des berühmten Drogenbosses Joaquin Guzmán alias «El Chapo» mit dem sie vier Kinder hat. «El Chapo» dirigiert seit seiner «Flucht» aus dem Hochsicherheitsgefängnis 2001 das wohl mächtigste der neun mexikanischen Drogenkartelle, eben dasjenige von Sinaloa. International bekannt wurde er auch durch die Zeitschrift Forbes, welche ihn in die Liste der Reichsten der Welt aufnahm. Halb Culiacán gehört dem Guzmán-Clan, doch nie fand eine Untersuchung oder gar Beschlagnahmung von Gütern statt. Bis am 12. Mai sieben Häuser des Chapo-Clans durchsucht wurden und in einer Villa Griselda López Pérez wegen Verdacht auf Besitz von Gütern aus illegalen Geschäften verhaftet wurde. Doch tags darauf wurde sie wieder freigelassen! Gemäss anonymen US-amerikanischen Regierungsquellen, so Marc Lacey am 18. Mai in der New York Times, wurde die Freilassung direkt aus dem Regierungspalast von Calderón angeordnet. Dies, weil der mexikanische Präsident eine Serie von Rachemassnahmen von Seiten des Kartells von Sinaloa fürchtete... Eines der Gerüchte, welche seit langem um die Regierung Calderón umgeben, ist genau die Protektion des Kartells von Sinaloa. Dass dies nicht nur leere Vermutungen sind, wies ein ebenfalls US-amerikanisches Radio nach, deren Reporter die tausenden von mexikanischen Polizeicommuniqués in Sachen organisierte Kriminalität nach Namen und Kartellzugehörigkeit auswerteten. Nur gerade 11% der Verhaftungen betrafen das mächtige Sinaloa-Kartell. Gut möglich also, dass mit der Verhaftung seiner ehemaligen Ehefrau und Geschäftspartnerin eine unsichtbare Linie überschritten, eine Vereinbarung zwischen Regierungsstellen und Mafia gebrochen wurde. Und die Entführung von «El Jefe Diego» also im Lichte oder besser im Dunkel dieser Abmachungen zwischen faktischen Mächten und Staat gesehen werden muss.

Der Analyst Carlos Fazio betont in seinem Jornada-Artikel vom 31. Mai «Der Jefe Diego, das Mysterium und die Faida» (Faida, altgermanischer Begriff für Fehde, hier Sinne von Rache), dass die seit einem Vierteljahrhundert betriebene neoliberale Politik zu einer Fragmentierung der Institutionen führte und eine neue politische Klasse an die Macht brachte, welche in erster Linie für ihre Gruppeninteressen einstehen und nicht für öffentliche Interessen. Diese politische Klasse befinde sich «in Kollusion mit einer Unternehmerklasse, die mit einem Fuss in der legalen Ökonomie und mit dem anderen in der Illegalität steht. So wurde das Verbrechen zu einem organischen Element des Systems der politischen und sozialen Kontrolle». Diego Fernández de Cevallos repräsentiert diese Form in Reinkultur. Damit einher geht «eine regulierende Gewalt neuen Typs, die mehr und mehr Morde und Säuberungen als Norm hat». Fazio schliesst die Reflexion über die Entführung des PANisten im Kontext des mafiösen Neoliberalismus mit den Worten: «Abgesehen vom Schweigen der Behörden und den konfusen Informationen, ist Diego die Botschaft und niemand kann sich in Sicherheit wähnen». Die von Fazio vertretene These der Faida ist angesichts der Aktivitäten des Entführten schlüssig und trifft diese politische Klasse hart. Der verzweifelte Versuch, die Guerilla als Täterschaft ins Spiel zu bringen, ist ein allzu durchsichtiges Ablenkungsmanöver.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 162, 16. Juli 2010, S. 15-16
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2010