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CORREOS/062: El Salvador - Einen Moment im Glück


Correos des las Américas - Nr. 157, 27. April 2009

EL SALVADOR
Einen Moment im Glück

Von Dieter Drüssel


Der Sieg des FMLN am 15. März ist kein Anlass für Leichtsinn, die anstehenden Probleme sind gewaltig. Doch es hat sich etwas Fundamentales an der Möglichkeit geändert, sie anzugehen. Der gewählte Präsident befleissigt sich zwar eines schon fast traditionellen Politdiskurses, doch wichtiger ist die Dynamik im Volk. Dass zum ersten Mal im Kontinent eine ehemalige Guerilla die Wahlen gewinnt (Nicaragua ist ein Sonderfall), weckt Ahnungen von Gerechtigkeit.


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Im Wahlzentrum der Feria in San Salvador, früher Nachmittag. An einem Wahltisch herrschen sich die Leute von FMLN und ARENA an. Grund: die beiden ARENA-Vertreter behaupten, der Ausweis des jungen Mannes, eindeutig "humilde", aus ärmlichen Verhältnissen, der wählen will, sei nicht ganz koscher. Er trägt am Handgelenk ein Armbändchen des Frente. Die Beanstandung des Ausweises ist Quatsch und die beiden Frente-Leute setzen durch, dass der Junge wählen kann. Als er seinen Wahlzettel in die Urne wirft, kommt Applaus von den Umstehenden auf - das Volk applaudiert sich selber, einer der seinen kommt zu seinem Recht. Ein Beispiel für viele, wie ARENA an diesem Tag den moralischen Kampf verliert.

Am Morgen nach dem Wahltag. Der Zeitungsverträger, ein betagter Herr, kommt in das Haus, in dem ich wohne, bei der Familie einer FMLN-Abgeordneten. Wir sitzen grad alle zusammen. Wir umarmen uns und wünschen uns gegenseitig felicidades, wie das in diesen Tagen der Brauch ist: Wir haben alle Geburtstag. Don Nicho kommt bald zum Thema und erklärt uns: Die Kräfteverhältnisse sind kompliziert; wir dürfen nichts übereilen; die Regierung von Mauricio wird nur kleine Brötchen backen können; das gilt es dem Volk zu vermitteln; die Wirtschaftskrise ist bedrückend; in den nächsten fünf Präsidentschaftsjahren gilt es die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass später ein tiefergehender cambio greift. Geduld, sagt Don Nicho, muss der Frente haben und Ehrlichkeit dem Volk gegenüber. Der Mann ist nicht FMLN-Mitglied; er ist in keinem Basiskomitee der Partei, in dem die politische Linie diskutiert wird. Es ist seine Weisheit und die seines Beziehungsnetzes.

Spät in der Wahlnacht, Siegesfeier auf der Plaza Masferrer, am Zipfel der Stadt, schon weit oben am Vulkan von San Salvador. Bekannten und unbekannten Ex-Guerillas danken Wildfremde für ihren bewaffneten Kampf: "Danke, ohne euch wären wir jetzt nicht soweit" (die Leute haben bei solchen Anlässen ein feines Gespür für die Herkunft aus der Guerrilla). Ein alter Mann steht neben mir, Campesino, die Faust zum massenhaften el pueblo unido jamás será vencido erhoben. Er ist still, sein ausgezehrtes Gesicht hat etwas Intensives, ich bin sicher, er denkt an die Seinen, die vom Feind umgebracht worden sind. Hasta la victoria siempre, kein Spruch, ein Vermächtnis, eine Linie. Auf dieser Plaza, in den folgenden Tagen, bricht dies immer wieder hervor aus den Leuten: Dieser Sieg gehört unseren Gefallenen.


Kein ruhiges Hinterland

Unterwegs zur Plaza Masferrer fragen wir uns, warum die Siegesfeier ausgerechnet hier stattfindet, hoch oben im Viertel der Reichen, erreichbar ohnehin nur für Leute mit Wagen oder Mitfahrgelegenheit. Unterwegs sehen wir da und dort feiernde Frente-Gruppen am Strassenrand, voller Ausgelassenheit und Mut. Denn die Frage ist allgegenwärtig: Wird ARENA ihre Niederlage eingestehen, wird sie ihre Schwarzhemd-Kommandos losschicken, Einschüchterungstrupps aus den privaten Sicherheitsunternehmen? Ramiro Vázquez von der FMLN-Leitung hat vor unserem Eintreffen auf der Plaza angekündigt, wir würden hier bleiben, bis Wahlgericht und ARENA ihre Niederlage eingeständen Das war ein direkter Rückgriff auf 2006, als es eine Besetzung des Hauptplatzes der Stadt während über drei Tagen und Nächten sowie eine extrem angespannte Demo vor das Wahlgericht TSE brauchte (inklusive "Warnschüsse" von Heckenschützen), damit das TSE den damaligen Sieg des FMLN in San Salvador zugab. Heute würde die permanente FMLN-Mobilisierung nicht mehr im heruntergekommenen Stadtzentrum, sondern an exklusiver Lage erfolgen. Würden ARENA-Kommandos (oder die Polizei) angreifen, findet die Auseinandersetzung vor der Haustür der Auftraggeber statt. Es gibt kein ruhiges Hinterland. Bei der Wahl der Örtlichkeit handelte es sich also um eine Art Schutzmassnahme.

Wer die Mobilisierung in diesen Tagen nicht mitschneidet, verfällt leicht dem Trugbild einer geordneten, demokratischen Wahl - genau die Wahrnehmung, wie sie heute von den Medien transportiert wird. Doch die Mobilisierungen, die vom Frente geplanten wie die spontanen, sind das entscheidende Moment. Schon in den Tagen vor dem Wahlgang kam es zu reichlichen Mobilisierungen - das meint von der permanenten Diskussion im Volk (s. Bericht vom 14. März) bis zu jenen Gruppen, die landesweit an der Grenze auf Busse mit zur Stimmabgabe herangekarrten AusländerInnen lauerten oder sie im Landesinnern observierten. Die diesbezüglichen Meldungen überschlugen sich, die wenigen linken Radios wurden von Anrufen überschwemmt - das waren längst nicht nur organisierte Frente-Militante, die da etwas gegen den Wahlbetrug tun wollten. Es war die Antwort auf den exzessiven, sichtbaren ARENA-Betrug vom Januar. In der Nacht auf den Wahlsonntag blockierten FrentewählerInnen die Zugänge zu Zentren, in denen herangekarrte ausländische WählerInnen vermutet wurden, im Grossraum San Salvador etwa die Villa Olímpica in Mejicanos (wo tatsächlich WählerInnen aus Guatemala waren), aber auch im Landesinnern. Die verbreitete onda, die Stimmung, war: Schluss mit dem Betrug, cambio jetzt! Ins gleiche Bild gehören die mancherorts schon am Wahlnachmittag beginnenden Siegesfeiern in den Wohnquartieren. Das mag selbst wie fraude, Betrug, aussehen - noch während des Wahlganges die eigene Seite zur Siegerin erklären -, ist aber im Kontext das Gegenteil. Denn anders als abstrakt-neutrale BeobachterInnen wussten die Leute, a) wir gewinnen, b) wenn nicht, dann wegen des ARENA-Betrugs. Die Siegesgewissheit hatte einen einfachen Grund: Wenn dieses Mal die Frau vom Laden an der Ecke und der Nachbar gegenüber ihre Stimme dem Frente geben, muss er gewinnen. (Das reflektierte sich auch in den meisten Umfragen).


Die Angst überwinden

Niemand, auch nicht die Frente-Leitung, wusste, was im Fall eines vom TSE abgesegneten oder bei seiner Auszählung orchestrierten Betrugs geschehen würde. Aber die anhaltende (Selbst-)Mobilisierung liess für den Fall eines offiziellen ARENA-Sieges das "Gespenst der Unregierbarkeit" etwas leibhaftig aussehen. Die Wahlbeobachtungsmission der OAS (bei der einige Schweizer Delegierte des EDA mitmachten) hatte am Wahlabend der Regierung und dem TSE signalisiert, dass ihrer Hochrechnung zufolge der FMLN gewonnen habe und die OAS, falls das TSE andere Resultate privilegiere, ihre Zahlen öffentlich machen werde. Die Administration Obama kann als Einstieg in ihre Charmeoffensive in Lateinamerika keine Kungelei mit einem typischen ARENA-Betrug brauchen. Vielleicht reagierte die OAS damit auch auf das "Gespenst der Unregierbarkeit". Mit Sicherheit aber versuchte sie, ihren im Süden des Kontinents abgewirtschafteten Ruf als Erfüllungsgehilfin des US-Imperialismus aufzubessern. Einen weiteren "Tolggen" in ihrem Reinheft stellte auch die Blitz-"Revision" des salvadorianischen Wahlregisters von 2007 dar, dem sie das Prädikat "vertrauenswürdig" zuerteilt hatte, entgegen ihrer eigenen technischen Ergebnisse (s. ZAS-Paper: http://zas-texte.blogspot.com/2009/04/zas-hintergrundpapier-zu-el-salvador.html).

Diese OAS-Leistung legitimierte die Weiterführung des Wahlbetrugs: Die Toten, die dieses Mal wieder gewählt haben; die AusländerInnen, die MehrfachwählerInnen (etwa mit Ausweisen mit eigener Foto, aber auf die Identität von illegal in den USA lebenden, garantiert nicht zur Wahl zurück kommender MigrantInnen ausgestellt). Zusätzlich zum Stimmenkauf (s.o.).

So also kam es, dass wir auf der Plaza Masferrer waren. Und dass ARENA noch in der gleichen Nacht ihre Niederlage zugestand. Und die Leute einen Moment im Glück lebten. In offiziellen Zahlen ausgedrückt, scheint der Sieg zwar fast ein Zufallsmehr: FMLN 1.353.000 Stimmen (51.32%), ARENA 1.284.588 (48.68%). Doch hinter diesen Zahlen steckt so viel mehr. Besonders im Kontext der Angstkampagne (s. unten "Wer sagte Angst?") ist der Frentesieg am 15. März tatsächlich als epochal einzuschätzen. Frente-intern wird die Dimension des Wahlbetrugs, gestützt auf die Auswertung von Umfragenergebnissen, Erfahrungen mit Erfolg und Misserfolg beim Abfangen von illegalen WählerInnen etc., auf mehrere Punkte geschätzt.


"Operation Funes"

Zwei Tage nach der Wahl setzte die "Operation Funes" ein. Tageschau nach Tagesschau, Pressekonferenz nach Pressekonferenz präsentierten die grossen WahlverliererInnen - die Unternehmerverbände, ihre Medien, die ARENA-Bosse - den Wahlsieg von Mauricio Funes als Verpflichtung zur nationalen Verständigung, als Chance für die Zukunft, als Bereitschaft von ARENA, den Frente auf Zeichen von Konsensbestrebungen abzuklopfen, als Zwang, wirtschaftstaugliche Lösungen für die Krise zu finden. Binnen Tagen verschwanden die vier Buchstaben der siegreichen Partei praktisch aus allen offiziellen Diskursen, Funes hatte die Wahl anscheinend im Alleingang gewonnen hat. Den FMLN erwähnten sie praktisch nur noch, wenn es darum ging, einige seiner besonders "moderaten" ExponentInnen als seine quasi offiziellen Stimmen erschallen zu lassen.

Funes, eben noch als unfähiger Unheilsträger apokalyptischen Ausmasses dargestellt, unternahm nichts gegen dieses Wahrnehmungsmanagment. Noch in der Wahlnacht vertrat er an einer Pressekonferenz und danach in einer Rede auf der Plaza Masferrer Positionen, die von Konsensversprechen mit allen Kräften wimmelten, von offenen Händen, den Unternehmerverbänden dargereicht, von einer "Regierung der Nationalen Einheit", dem jedem Parteiengezänk übergeordneten nationalen Interesse verpflichtet. Er sprach meistens in der ersten Person Einzahl, der FMLN war ihm in seiner Rede auf der Plaza gerade einmal eine indirekte Erwähnung wert, während praktisch jedes Grüppchen, das sich in der Kampagne für seine Wahl aussprach, herzlich bedankt wurde. Das war absurd.

Natürlich muss Funes beruhigende Signale aussenden. Und von ihm ist nicht zu verlangen, wofür er nicht gewählt wurde: "die Revolution". Dafür sind heute die Leute nicht bereit, Punkt. (Interessant, wie im Rahmen der "Operation Funes" Figuren wie der ominöse "linksradikale" US-Professor James Petras mit seiner Einschätzung der Wahlen als Erfolg der liberaleren Bourgeoisie und nicht etwa der linken Kräfte ausgiebigst zitiert wurden, während sonst Linke nur als Narkoterroristen tituliert werden.) Was die Regierung Funes hingegen machen muss, ist, eine reale soziale Reformdynamik lostreten - wohin diese dann führt, ist den gesellschaftlichen AkteurInnen überlassen. Funes hält sich sehr bedeckt, ausser dass er andauernd in Erinnerung ruft, dass er das grosse Sagen hat (also nicht der FMLN) und sein grosses Vorbild sein Freund, der brasilianische Präsident Lula da Silva, sei. Der habe nämlich ein historisches Paradigma umgestossen: dass Linke und Unternehmer einander fürchten müssten. Er eilte auch gleich nach der Wahl zu Lula, auch um dort Investitionen zu sichern, was, je nachdem, wofür sie eingesetzt werden, sehr sinnvoll ist oder gar nicht (Lula hat in der Vergangenheit, ohne den FMLN auch nur zu informieren, mit Präsident Saca Verträge für die Lancierung brasilianisch dominierter Ethanolfabriken in El Salvador abgeschlossen). Zu Chávez hält Funes eine furchtsame Distanz - der habe ihn um eine Audienz gebeten, er wisse nicht, zu welchen Themen, liess er gerade verlauten. Dafür kündigt er Besuche bei den mexikanischen und den kolumbianischen Präsidenten noch vor seinem Regierungsantritt an.


Enthusiasmus für IWF?

Funes soll an der kommenden Frühjahrstagung von IWF und Weltbank neben Lula und Uribe (Kolumbien) auftreten. Er gibt sich denn auch als Fan der Internationalen Finanzinstitute: "Ich blicke mit Enthusiasmus auf die Möglichkeit, multilaterale Kooperationsorganisationen wie die [.] Interamerikanische Entwicklungsbank BID kapitalisieren zu helfen, denn wir brauchen Ressourcen, um unsere Sozialpolitik zu finanzieren" (Diario de Hoy, 17.4.09). Der BID war in El Salvador beispielsweise federführend bei der versuchten Wasserprivatisierung. Die Sprache von Mauricio ist eine andere als die der ALBA-Staatschefs am gleichen Tag in ihrer Erklärung zum Amerikagipfel in Trinidad y Tobago: "Wir stellen die G20 in Frage, da sie die Ressourcen des IWF verdreifacht, während wir wirklich eine neue Weltwirtschaftsordnung brauchen, welche die totale Transformation des IWF, der Weltbank und der WTO beinhaltet, die mit ihren neoliberalen Vorgaben zur aktuellen globalen Wirtschaftskrise beigetragen haben" (Radio La Primerísima, 17.4.09).

Im sozioökonomischen Beratungsteam von Funes finden sich kaum Leute des FMLN, dafür aber einige "Starökonomen", die sich in der Vergangenheit eher als Propagandisten des Regimes bemerkbar gemacht haben. Generell scheinen Linke in seinen Beratungsgruppen fast so untervertreten zu sein wie Frauen, letzteres ein unverständlich krasser "Missstand". Über die konkrete Ausrichtung der künftigen Regierungspolitik und auch die Besetzung von Kabinetts- und anderen Schlüsselpositionen ist fast nichts bekannt. Der FMLN-Vertreter im Wirtschaftskreis von Funes, Gerson Martínez, erwähnte kurz nach den Wahlen die keineswegs aufrührerische Idee einer Schuldenumstrukturierung als zukünftige Regierungsoption. J.P. Morgan fand das "unorthodox" und Funes liess aus Brasilien tatsächlich ein Grossinserat in den Medien schalten, in denen er festhielt, Gerson habe nichts zu sagen, allein er. Er distanziere sich auch inhaltlich von der erwähnten Option, da diese die internationale Gemeinschaft an seinem Willen zweifeln lasse, allen Verpflichtungen gewissenhaft nachzukommen. 2011 stehen Schuldenzahlungen in einem schon vor der Weltwirtschaftskrise unbezahlbaren Ausmass an.


Vom Horror zur Hoffnung

Natürlich ist es kein Schleck, heute die Regierung anzutreten. Während bis zum Wahltermin die Zentralbank und das Finanzministerium von Optimismus strotzten (gesundes Bankensystem, etwas verlangsamtes Wachstum, wachsende Steuereffizienz etc.), hagelt es seither Hiobsbotschaften: Einbrüche der Steuereinnahmen, der Rimessen, der Exporte, der Bankkredite für die Produktion, schon vollzogene oder in Aussicht gestellte Aufhebung bisheriger Subventionen von Strom, Wasser, Kochgas und Transport. Das klingt langsam nach Staatsbankrott. Das ist bestimmt näher an der Wirklichkeit als die Schönrednerei von vorher, soll aber auch eine nach dem 15. März gestarte totale Leerplünderung des Staates verschleiern (verschiedene Ministerien sind seit dem Wahltermin einer wahren Projektraserei verfallen - das Geld wird in befreundete Unternehmen umgeleitet; die Staatskassen werden bei Antritt der Regierung Funes extrem wenig Mittel aufweisen).

Natürlich tun die Medien alles, um Funes als einen glücklich mit der Rechten (und nicht etwa mit dem FMLN) regierenden Präsidenten darzustellen. Spricht sich Funes etwa für Absprachen mit den SozialakteurInnen aus, werden erfreute Stellungsnahmen der Unternehmerverbände veröffentlicht, die den "Konsens" mit der Wirtschaft enthusiastisch begrüssen. Man muss linke Quellen haben, um mitzubekommen, dass Funes sich dabei ausdrücklich auch auf Gewerkschaften bezog, deren Standpunkte unerlässlich seien. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, welche Momente in diesem Mix überwiegen werden. Mauricio Funes ist vorderhand zuzugestehen, dass seine "präferenzielle Option für die Armen", die er als alter Romero-Anhänger immer wieder betont, in der Praxis über ein wenig Sozialpaternalismus hinausgehen werde.

Vor allem aber wird die Frage der konkreten Ausrichtung der künftigen Regierungspolitik nicht allein von Funes und seiner Wahlkampagne-Entourage abhängen, in der sich auch Politiker mit paramilitärischer Vergangenheit und ein ehemaliger Chef der Bankiervereinigung tummeln. Niemand mehr sollte die Kraft und die Intelligenz des FMLN und der Veränderungsbewegung im Land unterschätzen. Am 1. Mai wird es zu einer Grossmobilisierung kommen mit einer Reihe von konkreten Ansätzen und Orientierungen, mit denen der Regierung FMLN/Funes der Rücken gegen die Abwürgstrategien der Rechten gestärkt werden soll. Auch die Gruppe von Funes wird nicht am FMLN vorbei regieren können, falls sie das denn wollte. Und die Aufgabe des FMLN besteht nicht darin, Funes zu überzeugen, sondern in einem Prozess von Diskussion/Organisierung en el pueblo, also mit allen kleinen und grossen Kräften des sozialen Widerstandes, eine unter den konkreten Bedingungen machbare Politik der Veränderung zu entwerfen und im Kampf umzusetzen. Deshalb haben sich die Menschen mit der Wahl der Regierung FMLN/Funes eine Wohltat erwiesen, gerade in der Krise, die in Lateinamerika die extrem vom US-Markt abhängigen Ökonomien von Zentralamerika (inklusive Mexiko) und der Karibik besonders brutal angreift. Denn mit Bestimmtheit wird diese Regierung die letzten Mittel nicht in den Schlund des Grosskapitals werfen, sondern das Überleben der Armen garantieren. Nur schon das - also etwa eine kostenlose Gesundheitsversorgung zum Anfangen - bedeutet den Übergang von Horror zu Hoffnung.


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"Wer sagte Angst?"

Mit Angstkampagnen gewinnen die Herrschenden normalerweise "freie Wahlen". In El Salvador ist das überdeutlich. Die Manipulation durch die Medien in den Händen des Grosskapitals (Pressefreiheit). Die Endloskampagne von einem bei einem FMLN-Sieg unmittelbar bevorstehenden Kollaps des Landes. Das Schreckgespenst Chávez, das seine Untertanen vom FMLN sofort zur Zwangsenteignung der Bevölkerung losschickt. Die Arbeitsplatzerpressung: Namhafte Kapitalisten, in den salvadorianischen Medien durchgehend als Schöpfer von Arbeitsplätzen gekennzeichnet, verkünden wochenlang, am Tag nach einem hypothetischen FMLN-Sieg zu fliehen. Die Unternehmerverbände zeichnen täglich das Bild des Weltuntergangs (Frente-Sieg), die Regierung ihrerseits das eines bei Regierungskontinuität über globale Wirtschaftskrisen erhabenen El Salvadors, das dank fürsorglicher Führung (Dollarisierung, Freihandelsverträge u.ä.) einer strahlenden Zukunft entgegengeht. Angestellte der Ministerien in den ARENA-Wahlapparat zwangsverpflichtet und, wie auch Angestellte in Privatunternehmen, dazu erpresst, ihre "richtige" Stimmabgabe u.a. per Handyfoto ihres ausgefüllten Stimmzettels zu beweisen (Wunderschöne Gegenkampagne: Blogseiten offerieren zahllose, auf unterschiedliche Weise das ARENA-Logo markierende Fotos fürs Handy. Das Ausschauhalten nach Handyfotografieren des Wahlzettels wird am Wahltag zu einer Übung in Gemeinsinn. Seine Veröffentlichung macht dieses Erpressungsmanöver zunichte.)

Bisher hatten die Angstkampagnen schön funktioniert. Doch jetzt sind die Ausgangsbedingungen anders. Die für Hardliner-Vorwürfe denkbar ungeeignete Figur des Kandidaten Funes "zwingen" zum Einschiessen auf den Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, Sánchez Cerén, der in Wirklichkeit die Fäden ziehen werde. Trotz bodenloser inhaltlicher Miesheit ist diese Kampagne eine Verlegenheitslösung. Der Wahlsieg Obamas wirkt sich zu Ungunsten der klar mit der Bush-Administration identifizierten ARENA aus. Doch wichtiger: Die Angst- und Hetzkampagnen von ARENA haben in den letzten Jahren zunehmend an Glaubwürdigkeit verloren - wichtige Gradmesser waren Dynamiken wie jene, als soziale Proteste gegen die Wasserprivatisierung unter dem Deckmantel des Antiterrorismus liquidiert werden sollten, wo die Herrschenden aber schliesslich vor der anhaltenden, primär vom FMLN getragenen Mobilisierung zurückkrebsen mussten (s. Correos 150, August 07). Seit jenem Erfolg war in El Salvador zunehmend spürbar, wie sich die mentale Gemengenlage veränderte und die Leute ihre Folgsamkeit und ihre Angst ablegten. Ein wunderschöner Prozess, weniger an den "grossen Ereignissen" wie Kandidatenkür festmachbar oder gar darauf zurückzuführen, sondern auf eine sich verbreitende Bereitschaft, die Dinge mit eigenen Augen anzusehen. Kombiniert natürlich mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie etwa der letztes Jahr zuschlagenden Nahrungskrise, die entgegen aller offiziellen Schönfärberei weiter wütet. Irgendwann beginnen die Leute 1 und 1 zusammen zu zählen: Wer ist seit 20 Jahren an der Macht und jetzt gibt es kaum mehr eine eigene Nahrungsproduktion? Das Motto "¿Y quién dijo miedo?" - "Wer sagte Angst?" - war nicht zufällig so vorherrschend in der FMLN-Kampagne.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 157, 27. April 2009, S. 8-11
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2009