Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


AUFBAU/549: "Ich will Gleichheit, alles andere interessiert mich nicht"


aufbau Nr. 94, September/Oktober 2018
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Ich will Gleichheit, alles andere interessiert mich nicht"


ISRAEL-PALÄSTINA Wir haben mit einem jüdischen Marxisten aus Israel über die dortige Situation gesprochen. Die Lage ist nicht rosig, doch regt sich auch Widerstand.


(az) Frage: Kannst du dich kurz vorstellen?

Ich bin in erster Linie Marxist und palästinensischer Jude. Ich mag mich nicht als Israeli bezeichnen, da ich Israel als koloniales Projekt betrachte, als einen Apartheidstaat, den ich in dieser Form ablehne. Und wenn ich von Israel spreche, dann meine ich das Gebiet von 1948. Jude bin ich hingegen, nicht aus religiösen Gründen, sondern durch meine Familiengeschichte bedingt und durch meinen Status innerhalb der Gesellschaft. Heute ist "Jude" eine sehr komplexe Identität, der Zionismus hat sie noch komplexer gemacht.

Frage: Kannst du etwas über die Situation der Linken in den vergangenen Jahren erzählen? Wie sieht die Zusammenarbeit der palästinensischen Linken mit jenen in Israel aus?

Im Jahr 2000, beim Ausbruch der zweiten Intifada, brachen die Kontakte zwischen palästinensischen Kräften und jenen im offiziellen Israel fast völlig ab. Die Repression machte den Kontakt fast unmöglich. Und dies hatte durchaus Folgen. Es kam ein gegenseitiges Misstrauen auf, die PalästineserInnen verloren an Zuversicht, bis 2004 war die schlimmste Periode diesbezüglich.

Mit der Intensivierung des Mauerbaus begannen sich die anarchistischen Kräfte in der Gruppe "Anarchists Against the Wall" zu organisieren. Sie brachen das Eis für eine erneute Aufnahme der Kontakte. Sie besuchten die palästinensischen Dörfer und bauten ihren Protest gegen den Mauerbau auf. Die AnarchistInnen sind eine kleine, aber wichtige Kraft. Sie sind gut organisiert, kreativ und sehr engagiert und sie werden gehört. Anarchists Against the Wall ist eine Gruppe und zugleich ein Pamphlet, denn die Mauer steht sinnbildlich für die Gefängnissituation Palästinas. Die Westbank ist heute dreigeteilt, es gibt keine Bewegungsfreiheit, die Mauer wurde sogar durch Dörfer hindurch gelegt. Die Trennung ist radikal. Das meine ich, wenn ich sage, dass wir in einem Apartheidstaat leben.

Die Antwort des zionistischen Regimes auf die Anarchos war brutal, auch die Autonomiebehörde reagierte repressiv. Doch das Resultat war sehr positiv. Der Dialog der Linken auf den beiden Seiten der Mauer konnte aufgrund dieser Arbeit wieder aufgenommen werden. Der gemeinsame Protest half das Vertrauen wieder herzustellen, dass es jüdische Leute gibt, die anders denken als der israelische Staat.

Frage: Wie ist die Situation der traditionellen Linken in Israel?

Die ZionistInnen haben eine reformistische Linke auf ihrer Seite, doch wie in andern bürgerlichen Staaten sind diese staatstragend, sie lassen sich beispielsweise für den sogenannten Kampf gegen den Terror einspannen. Ich sehe auch wenig Perspektive für das sogenannte "Friedenslager". Sie wollen die Besetzung beenden, das ist ernst gemeint. Doch ihr Plan resultiert in einer Neukonfiguration des Kolonialismus, das heisst in einem Schutz des Zionismus und letztlich im Wunsch, in einer Gesellschaft nach westlichem Vorbild leben zu können. Die Vorstellungen des Friedenslagers sind dadurch sehr eurozentristisch. Aber Israel ist ein rassistisches und kolonialistisches Regime. Ich will Gleichheit, alles andere interessiert mich nicht.

Frage: Und wie steht es um die Linke in den palästinensischen Gebieten?

Auch dort ist die Linke sehr schwach, desorientiert sogar. Die ehemalige KP ist sozusagen der linke Arm der Fatah geworden. Die PFLP ist in einer schweren Krise, genauso wie die DFLP. Obwohl die PFLP nicht auf sowjetischer Linie war, steckt die Partei seit dem Untergang der Sowjetunion in einer Krise. Dies hat natürlich auch mit der Repression zu tun. Kaum bildet sich eine starke Führung, wird diese von der zionistischen Regierung umgebracht.

Noch unterscheidet sich die Repression in Gaza und in der Westbank, doch die israelische Regierung arbeitet hart daran, das Repressionsniveau in der Westbank auf das Niveau von Gaza anzuheben. Ihr Argument ist die Verteidigung der jüdischen Siedlungen. Besonders zugespitzt ist die Situation in Hebron. Die israelischen Siedler besetzen in der Altstadt Häuser und vertreiben die jetzigen BewohnerInnen. Das Militär hilft ihnen dabei, dadurch können die Siedler tun und lassen, was immer sie wollen. Die Gemeinde von Hebron verhält sich ziemlich klug, sie hat öffentlich gesagt, die Siedler seien das Problem, mit JüdInnen würde die arabische Bevölkerung eigentlich gerne zusammen leben. Sie kritisiert die koloniale Unterdrückung. In Hebron gibt es auch eine interessante Basis-Organisation: "the peoples comitee for defending Hebron". Deren AktivistInnen sind mehrheitlich palästinensisch, haben aber viele BündnispartnerInnen, auch in der Anti-Besatzungs-Bewegungen in Israel. Von diesen Menschen bin ich enorm beeindruckt, denn sie sinnen trotz der groben Unterdrückung nicht auf Rache und bleiben überzeugt internationalistisch. Sie behalten die Vision eines harmonischen Zusammenlebens und bemühen sich, Druck aufzubauen, damit die israelische Regierung das Militär und die Siedler rauswirft. Das ist eine wahnsinnige Leistung.

Frage: Und wie steht es um deine politische Organisation?

Meine Organisation ist Teil der National Democratic Assembly Party (Balad / Tajamoa), das ist ein linkes Bündnis. Die palästinensische Bevölkerung stellt innerhalb der Balad die Mehrheit dar. Leider ist die Klassenbasis nicht eindeutig, dennoch ist Balad wohl die wichtigste Kraft im Moment. Sie wird massiv angegriffen, auch intern gibt es grosse Differenzen, zum Beispiel ob es richtig ist, in der Regierung zu verbleiben. Wir sind jedoch die einzige Kraft innerhalb des offiziellen Israels, die ein antikoloniales Programm hat und eine Einstaaten-Lösung mit gleichen Rechten für alle fordert. Das neue Land - wie immer dieser Staat heissen wird - soll ein Staat für alle sein.

Frage: In welcher Tradition verortet ihr euch und wo steht ihr aktuell?

Die Schwäche der kommunistischen Partei hat zu Beginn der 1990er Jahren ein Vakuum hinterlassen. Das hat dazu geführt, dass Mitte der 1990er Jahre dieses Bündnis gegründet wurde. Sehr viele Ehemalige der kommunistischen Partei sind darin, ebenfalls ein Teil der PFLP. Unsere Führungskräfte werden dauernd angegriffen und vor Gericht gezerrt, weil sie angeblich den "Terrorismus" unterstützen sollen. Die Partei wird als 5. Kolonne bezeichnet, als Verräter. Natürlich wird sie von Reaktionären auch militant angegriffen. Zudem gibt es bürokratische Schikanen. So wird aktuell behauptet. dass unsere Buchhaltung nicht richtig geführt werde.

Die Partei ist relativ klein, deshalb dachte die Regierung, sie sei einfach zu bekämpfen. Aber das hat sich als falsch erwiesen, denn sie ist gut verankert, insbesondere in der arabischen Community. Die jüdischen Militanten wie ich hingegen haben es schwerer. Wir werden von den jüdischen Communities offen verachtet und angegriffen.

Frage: In Zusammenhang mit Kolonialismus und Besatzung arbeitet ihr auch zu anderen Themen, beispielsweise zur Gentrifizierung. Kannst du da etwas darüber erzählen?

In den Israelischen Städten herrscht Wohnungsnot. Häuser sind rar und teuer: Gentrifizierung hat die gleichen ökonomischen Ursachen wie überall, aber der zionistische Staat erlaubt in dieser Frage ein besonders ruchloses Vorgehen. Gentrifizierung bedeutet hier stets auch ethnische Säuberung, sie ist klassistisch und rassistisch. Jaffa und andere mehrheitlich arabische Städte sollen vollständig gentrifiziert und eine jüdische, bourgeoise Bevölkerung eingeführt werden. Dagegen gibt es Aktionskomitees. Es läuft beispielsweise gerade ein spezifischer Kampf um einen arabischen Friedhof, auf dem sie einen Luxuskomplex bauen wollen. Anders, aber auch heftig, ist es in Haifa. Da ist die Bevölkerung gemischt, in den Kaffees sitzen die Leute zusammen, du siehst auf der Strasse arabische und jüdische Kinder zusammen spielen. Das ist nicht üblich, an anderen Orten leben alle getrennt. Ausserdem fährt in Haifa am Samstag auch der öffentliche Verkehr, was im restlichen Land am Sabbat nicht der Fall ist. Deshalb wird Haifa von den Reaktionären angegriffen. Es wird versucht, reaktionäre AktivistInnen anzusiedeln, welche religiös-nationalistische Propaganda machen, sie propagieren z.B. die Bewahrung der "jüdischen Blutreinheit" und schüchtern gemischte Paare ein.

Ich führe das Beispiel der Gentrifizierung auch aus, weil dadurch etwas anderes klar wird. Die jüdischen Leute in Israel haben sehr westliche Probleme, beispielsweise Sozialkürzungen, Lohnkürzungen usw.. Das sind schlimme Probleme. Aber die PalästinenserInnen kämpfen gleichzeitig darum, überhaupt atmen zu können. Der Fall der Gentrifizierung zeigt, dass sich der Kolonialismus auch auf andere Themenfelder auswirkt. Entsprechend müssen wir die grossen politischen Konzepte wie den Kolonialismus in den täglichen Kampf integrieren können, dann hat unser Kampf auch Potential.

Frage: Welche Bücher kannst du den Leuten empfehlen, die sich vertieft mit der Geschichte Palästinas auseinandersetzen wollen?

Spontan fällt mir Ilan Pappe ein, der gute historische Arbeit leistet. Er hat deshalb auch seinen Job verloren und unterrichtet jetzt auswärts. Benny Morris hat sich, um seinen Job an der Uni zu behalten, von der Linken distanziert und sagt viel reaktionären Mist. Aber seine Werke sind wichtig, er hat viel Archivarbeit geleistet. Auch Avi Shlaim ist ein interessanter Historiker. Moshe Zuckermann ist natürlich immer gut, allerdings ist er kein klassischer Historiker.

Deborah Bernstein ist auf Frauengeschichte spezialisiert, sie hat ausserdem ein lesenswertes Buch über die gemeinsamen Kämpfe arabischer und jüdischer Arbeiter unter britischem Mandat geschrieben. Schliesslich kommt mir noch Zachary Lockman in den Sinn, ein Professor aus New York, politisch würde ich ihn als Eurokommunisten bezeichnen, doch sein Buch über die ArbeiterInnenklasse im Mittleren Osten hat mir sehr gefallen.

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 94, September/Oktober 2018, Seite 12
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang