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AUFBAU/508: ArbeiterInnen- und Soldatenräte im revolutionären Prozess


aufbau Nr. 90, September/Oktober 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

ArbeiterInnen- und Soldatenräte im revolutionären Prozess


OKTOBERREVOLUTION Die proletarische Revolution in der Sowjetunion schaffte als erste den Schritt, Räte nicht nur als revolutionäre Kampforganisationen, sondern als Grundeinheiten einer neuen Gesellschaft und als Machtbasis der Volksherrschaft zu etablieren. Die Idee der Räte ist heute so relevant wie damals.


(az) Petrograd, heute St. Petersburg, am 27. Februar 1917: Eine bewaffnete ArbeiterInnendemonstration zieht ins Taurische Palais und verkündet die Gründung des Petrograder Sowjets. Eine Woche später hat der ArbeiterInnen- und Soldatenrat bereits 1200 Mitglieder, Mitte März werden es bereits um die 3000 sein. Die Sitzungen sind chaotisch, sie gleichen eher Kundgebungen. Erst nach und nach gelingt es dem Exekutivkommittee, das Wahlverfahren und die Mandate zu kontrollieren. Die Räte werden im Zuge der Februarrevolution zur Quelle der Volksherrschaft, revolutionäre Kampforganisation, Massenbasis der Februarrevolution, Austragungsort von heftigen politischen und ideologischen Kämpfen, sowie Gegenpol zum nach wie vor existierenden Duma-Rat. Angeregt wurden die Gründungen der Räte von den Menschewiki. Ab Februar 1917 werden sie nach und nach zur Grundeinheit der neuen sozialistischen Demokratie werden und sich auf das ganze Land ausdehnen.

Das ist nun 100 Jahre her. Auch heute sind ArbeiterInnen- und Soldatenräte ein zentraler Bezugspunkt für revolutionäre, kommunistische Organisationen. Auch wenn es attraktiv wäre die Räte zu idealisieren - marxistische Geschichtsanalyse funktioniert weder schematisch noch idealistisch. Die interessante Frage ist weder, wie kommen wir wieder zu diesem Punkt. Daran können wir nur scheitern. Nach wie wir die damalige Entwicklung bewerten. Das ist im Nachhinein weder sinnvoll noch zielführend und vernachlässigt tendenziell die damals herrschende Widerspruchslage. Was uns interessiert ist, welche Widersprüche die damalige Entwicklung geprägt haben und welche Erkenntnisse wir daraus ziehen können. Darin liegt auch 100 Jahre später die Aktualität der Räte und des revolutionären Prozesses in der frühen Sowjetunion. Der Bezugspunkt liegt beim idealtypischen Aufbau der Rätedemokratie gemäss der sowjetischen Verfassung von 1918. Wobei es wichtig ist, zu verstehen, dass der formale Aufbau aus realen politischen Bedingungen entstand. Diese wandeln sich, so dass auch die Räte der Zukunft anders funktionieren werden. Nur schon wenige Jahre zeitliche Distanz und die veränderten Bedingungen im Zuge der Entwicklung in den 30er-Jahren, führten mitunter als erstes zu einer Ausschaltung der proletarischen Räte als Machtbasis des Proletariats. Eine genaue historische Abhandlung dieser Prozesse übersteigt den Umfang dieses Artikels jedoch bei Weitem.

Eine grundlegende Annahme ist, dass auch in zukünftigen revolutionären Prozessen die Notwendigkeit kollektiven, proletarischen Machtorgans bestehen bleibt. Das Versprechen einer sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft muss es sein, den Anspruch nach politischer und ökonomischer Demokratie einzulösen. Dafür sind Räte nach wie vor der zentrale Bezugspunkt, den es nicht zu romantisieren, sondern als reale Möglichkeit zu propagieren gilt. Mit Blick auf Rojava stellen wir fest, dass der demokratische Konföderalismus, eine zeitgenössische Form von Rätedemokratie, ein zentraler Quell der Solidarität von linken Positionen und Organisationen mit Rojava ist. Rojava ist attraktiv, weil der demokratische Konföderalismus demokratische Organisierung und Macht und einen Ausweg aus religiösen und ethnisch aufgeladenen Konfrontationen verspricht. Ob dieses Versprechen aus kommunistisch-revolutionärer Sicht auch inhaltlich eingelöst werden kann, ist offen. Ein Schritt in die richtige Richtung ist es allemal, Zeugnis der Aktualität von Räten ebenso.

Interessenvertretung und politisches Kampforgan

Räte entstanden in Russland erstmals in der Revolution von 1905. In Petrograd wählten Arbeiter und Soldaten während einer Streikwelle erstmals Delegierte, die neben Forderungen des Arbeitskampfes auch politische Forderungen wie Rede- und Versammlungsfreiheit formulierten. Der Petrograder Sowjet von 1905 war sowohl Selbstverwaltungsorgan und Interessenvertretung, als auch politisches Kampforgan. Diese Eigenschaft fällt allen Räten seit der Pariser Kommune zu. In diesem Widerspruch liegen einige der zentralen Erfahrungen und Streitpunkte: Während beispielsweise die sozialdemokratische Positionen wie die Menschewiki die Räte als Möglichkeit sahen, um die Massen zu organisieren und eine breite Massenbasis zu erlangen, vernachlässigen sie die Rolle als politische Kampforganisation bzw. füllen sie mit reformistischer Politik. Die Reduktion auf die Form birgt ebenso die Gefahr einer Überbewertung oder gar der Propagierung des Rates als Selbstzweck. Trotzki sah im Petrograder Sowjet von 1905 schon die "Keimzelle von revolutionärer Macht", obwohl der Sowjet aufgrund der internen Widersprüchlichkeiten und der objektiven Lage des Petrograder Aufstands noch weit davon entfernt war. Aufgrund dieser Haltung brach er 1905 mit den Menschewiki. Nach der Gründung der Räte im Zuge der Februarrevolution 1917 mussten sich auch die Bolschewiki zu diesem neuen Phänomen verhalten. Räte waren in der Partei vor den Aprilthesen noch als parteilose Organe des Streiks und Aufstandes angesehen, eine Unterordnung des Spontanen vor dem Bewussten. In Lenins Augen waren erst mit der Stabilisierung und den Widersprüchen der Doppelherrschaft (zwischen Duma und den Räten) die Voraussetzungen gegeben, um die Räte als Form mit den Inhalten revolutionärer Politik zu verbinden und sie als reale Träger von proletarischer Macht zu propagieren. Er revidierte diese Einschätzung bis zur Oktoberrevolution aufgrund sich wandelnder Widersprüche und Bedingungen noch zweimal. Ob real existierende Räte also Teil eines revolutionären proletarischen Prozesses werden, hängt nicht allein mit deren Form zusammen, sondern basiert ebenso wesentlich auf der Widerspruchslage in denen sie existieren und den Möglichkeit zur revolutionären Politisierung.

Zentrale Eigenschaften der Rätedemokratie

Der formale Aufbau der Rätedemokratie wurde erstmals in der ersten sowjetischen Verfassung von 1918 festgehalten. Die Rätedemokratie ist grundsätzlich ein Instrument der proletarischen Machtübernahme und die Form der Diktatur des Proletariats. Zur Veranschaulichung der Aktualität und des demokratischen Versprechens des Entwurfs "föderative Räterepublik", werden hier einige zentrale Punkte aufgeführt. Erstens soll mit der Rätedemokratie die Trennung zwischen Legislative und Exekutive entfallen. Die formelle Bestimmung von Politik und deren Umsetzung darf nicht voneinander getrennt werden, wenn die politische Entfremdung des bürgerlichen Parlamentarismus nicht reproduziert und das Versprechen der Volksherrschaft eingelöst werden soll. Die Rätedemokratie funktioniert zudem mit dem Delegations- und nicht mit dem Repräsentationsprinzip: Die Delegierten von Räten sollen jederzeit abwählbar sein. Das Rätesystem als realpolitischer, postrevolutionärer Entwurf beinhaltet sowohl politische, wie auch wirtschaftliche Demokratie, mit der proletarischen Machtergreifung fällt die politische und wirtschaftliche Macht zusammen. Als Übergangsform und in Anbetracht der riesigen Herausforderung einer Kollektivierung der Wirtschaft, scheint die temporäre Trennung von politischen und wirtschaftlichen Räten notwendig. Gleichzeitig kann auch das nur der Entwurf einer Übergangsgesellschaft sein. In einer klassenlosen Gesellschaft wird die Trennung von Wirtschaft und Politik aufgehoben, also wirtschaftliche und politische Räte zusammengelegt, was schon bei der Etablierung der Rätedemokratie veranlagt werden muss. Föderalismus als weiteres Funktionsprinzip ist ebenso zentral. Nicht als Instrument der Konkurrenz unter den Regionen, wie in der Schweiz, sondern als reale Perspektive der lokalen und regionalen Selbstbestimmung.

Räte im Zeitalter der technologischen Entwicklung

In Anbetracht der rasanten technologischen Entwicklung im Bereich der Informations- und Computertechnologie ergeben sich für eine föderalistische und basisdemokratische, politische und wirtschaftliche Teilnahme bisher unbekannte Chancen. Die Möglichkeiten des Informationsaustausches machen bürokratieanfällige Planungsinstanzen heute tendenziell obsolet. Die entsprechenden Planungsproprogramme können dank Open Data transparent gehandhabt werden, was Technokratisierung entgegen wirkt. Verschiedene TheoretikerInnen befassten sich in den letzten Jahren mit Gedankenspielen in diese Richtung. Die rätedemokratische Idee ist nicht nur aktuell, sie verbessert sich dank technologischer Entwicklung laufend. Es ist an uns, sie nicht nur theoretisch, sondern auch politisch wieder aktuell zu machen und zu realisieren.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 90, September/Oktober 2017, Seite 7
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2017

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