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AUFBAU/490: Iss wie ein/e NeandertalerIn


aufbau Nr. 88, März/April 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Iss wie ein/e NeandertalerIn


ESSEN Ernährungstrends werden oft mit der vererbten genetischen Anpassung an Nahrungsmittel begründet. Das sind rückwärtsgewandte Hirngespinste.

(agj) In den reichen Ländern der Welt ist die Ernährung wieder ein Problem, Es geht dabei nicht darum, dass was fehlt, denn von Kalorien, Proteinen und was es sonst fürs Überleben und Wohlbefinden braucht haben wir grundsätzlich genug. Es geht auch nicht darum, dass zuviele Menschen dennoch von diesem Überfluss ausgeschlossen bleiben. Problematisiert wird nicht ob man was zu essen hat, sondern wie man das am besten tut.

In den vergangenen Jahren sind unzählige Ernährungstrends entstanden, welche je nach Ausrichtung mehr Leistungsfähigkeit, mehr Wohlbefinden, mehr Spiritualität oder mehr ökologisches Bewusstsein versprechen. Oder gleich alles kombiniert. Manche Ernährungsweisen formulieren einen herrschaftskritischen oder ethischen Anspruch, während die meisten auf individuelle Bedürfnisse ausgerichtet sind. Dabei gehen die Meinungen, was gut für den menschlichen Körper ist, diametral auseinander. Manche schwören auf Low-Carb und Steinzeitdiät (viel Gemüse und Fleisch), während andere durch High-Carb (viele Kohlenhydrate, also Getreide, Teigwaren, Brot) ihr Schönheitsideal erreichen und ihre Leistungsfähigkeit erhöhen wollen.

So unterschiedlich die Empfehlungen der Diäten, so ähnlich sind ihre Begründungen. Man argumentiert historisch und bezieht sich auf die Abstammung des Menschen. Wer auf eine High-Carb-Diät setzt, spricht viel davon, dass die Menschen seit der Einführung der Landwirtschaft vor allem kohlenhydratreiche Nahrung zu sich genommen haben. Dadurch hätten sich die Menschen an diese Nahrung angepasst. Es scheint nur folgerichtig und gesund, sich entsprechend zu ernähren.

Doch auch die SteinzeitdiätlerInnen wissen die Geschichte für sich zu nutzen. Der menschliche Körper sei auf eine kohlenhydratarme Kost ausgerichtet, da der Mensch in der Zeit vor der Landwirtschaft als Jäger und Sammler unterwegs war. Damals gab es vor allem Fleisch und wildes Gemüse. Wer gesund sein will, soll sich also ernähren wie vor zehntausend Jahren.

Wissenschaftlichkeit oder Hirngespinste?

Derartige Begründungen für Diäten sind aus mehreren Gründen fraglich und bedienen sich einer Ideologie, die ins Reaktionäre führt. Es ist gar verkürzt, die Gesundheit nur auf die Ernährung zurückzuführen. Die Lebensumstände haben sich so grundsätzlich gewandelt, dass man nur auf Irrwege gelangen kann, wenn man die Ernährung von heute mit derjenigen vor ein-, zwei- oder zehntausend Jahren vergleichen will ohne andere Faktoren zu berücksichtigen. Es ist schon enorm schwierig, die Annahme aufrecht zu erhalten, dass die Menschen heute an die Bedingungen vor hunderten von Jahren angepasst seien. Diese Annahme wird unbewiesen oft wiederholt, weil sie mit einer Ahnung von Adaptation und genetischer Vererbung vereinbar ist. Aber eben nur mit einer Ahnung davon. Diese Ahnung lehnt sich an jene Sprüche an, die man zu vermeintlich vererbten Eigenschaften oft hört. Zum Beispiel wird schnell von jemandem behauptet, eine Charaktereigenschaft oder ein Verhalten liege in seinen oder ihren Genen. Die platte Argumentation "so sind Frauen eben" oder "er ist halt ein Mann" kennen wir. Sogar soziale Beziehungen sollen von fernen Vorfahren vererbt worden sein! Damit wird den Menschen abgesprochen, sich selbständig zu entwickeln und unabhängig zu entscheiden sowie durch die Gesellschaft beeinflusst zu sein.

Mehrere Missverständnisse der Genetik und der Evolutionstheorie führen zu solchen Vorstellungen. Erstens wird davon ausgegangen, dass ein Wesen von seiner Vererbten DNA bestimmt wird. Doch obwohl die DNA als Erbsubstanz immer wieder überhöht und sehr mechanistisch wirkend dargestellt wird, ist es ein Zusammenspiel zwischen äusseren Einflüssen und vererbten Merkmalen, das ein Individuum ausmacht. Zu welchen Anteilen ein Individuum genetisch bestimmt ist und zu welchen durch die Umwelt, wurde bis jetzt nie klar untersucht. Dies ist nicht erstaunlich, da es fast unmöglich ist, die Mechanismen voneinander zu trennen. Dennoch kann niemand ernsthaft behaupten, dass nur die Gene bestimmend sind.

Sprüche wie "es liegt in seiner Natur" und "es ist wegen ihren Genen" werden unreflektiert wiedergegeben. Sie offenbaren oftmals sexistische oder rassistische Impulse. Menschen als unveränderbar durch ihre "Natur" oder ihre "Gene" bestimmt darzustellen, ist zudem oft ein Argument für die Unmöglichkeit eines anderen Systems als des Kapitalismus ("Es wäre zwar schön, aber der Mensch ist einfach so und nicht anders.").

Zweitens wird von einer Statik ausgegangen, der auch der bekannteste Begründer der modernen Evolutionstheorie, Charles Darwin, widersprechen würde. Warum sollte heute noch gültig sein, was vor zehntausend Jahren stimmte? In der Darwin'schen Evolutionstheorie geht es gerade darum, dass sich Merkmale von Populationen (Gruppen von Individuen) durch Auslese verändern und sich so an an äussere Veränderungen anpassen. Die Evolution ist ein widersprüchlicher und dialektischer Prozess, teilweise geprägt von Zufällen, die kaum voraussehbar sind. Aber die Evolution muss nicht über Jahrtausende oder Jahrmillionen wirken, um nachweisbar zu sein. Bei Tieren und Pflanzen gibt es Beispiele, wo Evolutionsprozesse in wenigen Generationen dokumentiert werden konnten. Bei manchen Pflanzen lassen sich derartige generationenübergreifende Vergleiche innert wenigen Jahren vollziehen. Es macht also keinen Sinn, die Menschen heute als Produkt der Situation vor tausenden von Jahren zu denken und dabei all die Jahre dazwischen zu ignorieren.

Wenn man in gesellschaftlichen Zusammenhängen von Evolution spricht, befindet man sich schnell in sozialdarwinistischen Ideen. Unsere Gesellschaften sind aber viel zu komplex organisiert, um einfache evolutive Konzepte anzuwenden, die bestenfalls für Populationen von Tieren und Pflanzen gelten. Zudem gründen sich sozialdarwinistische Ideen auf verschiedenen Missverständnissen der Evolutionstheorie. Zum Beispiel heisst Evolution nicht, dass der Stärkste oder die Dominanteste im Rennen der Evolution gewinnt. Die Fitness im "Survival of the fittest" hat nichts mit Fitnessstudio und brachialer Kraft zu tun. Je nach Umwelt kann die höchste Fitness für ein Tier zum Beispiel auch bedeuten, klein, schwach und ängstlich zu sein.

"Nature versus nurture"

In den Naturwissenschaften wird über die Frage gestritten, zu welchen Teilen Lebewesen genetisch determiniert sind und wie gross der Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung von Individuen ist. Diese Debatte wird auf Englisch die "nature versus nurture" Debatte genannt und stammt aus der "modern synthesis", bei welcher Mitte des 20. Jahrhunderts die Evolutionstheorie mit den neuen Erkenntnissen der Genetik (das heisst vor allem die Entdeckung der DNA) vereint wurden. Die meisten Forscher der "modern synthesis" waren und sind von der Entdeckung der DNA nach wie vor begeistert. Viele nehmen an, dass die Vererbung mittels DNA-Code der wichtigste Mechanismus der Evolution ist.

Die Darwin'sche Evolutionstheorie passt gut mit der Vererbung des DNA-Codes überein. In dieser Evolutionstheorie passiert die Evolution durch natürliche Auslese, in der Individuen mit vorteilhaften Genkombinationen bessere Überlebenswahrscheinlichkeiten und mehr Nachkommen haben. Die mit der DNA vererbten Merkmale können also in der Lebenszeit eines Individuums nicht beeinflusst werden. (Was wie weiter oben beschrieben aber nicht heisst, dass die Merkmale genetisch determiniert sind. Die Umwelt spielt dennoch eine grosse Rolle in der Entwicklung und im Verhalten.) Veränderungen der DNA gibt es zwar, die sind aber zufällig und ungerichtet und die natürliche Auslese zeigt erst nach mehreren Generationen, welche der Mutationen sich in einer Population halten können. In der Darwin'schen Theorie haben die Lebensumstände eines Individuums keinen direkten Einfluss auf das Erbgut.

Seit einigen Jahren wird an der Allgemeingültigkeit der Darwin'schen Evolutionslehre gerüttelt. Verschiedene Studien zeigen, dass die lange verschriene Lamarck'sche Vererbung durchaus auch wichtig ist. Diese Theorie geht davon aus, dass auch Merkmale, die während der Lebenszeit erworben werden, vererbt werden können. Die Vererbung über Generationen findet nicht ausschliesslich via DNA statt.

Vorherrschende Theorien in den Naturwissenschaften widerspiegeln selbstverständlich gesellschaftliche Situationen. Trotz aller Objektivität lässt sich nicht leugnen, dass die Forschung durch die Umstände geprägt wird, in der sie stattfindet. Die Entwicklungen in der Debatte darüber, ob die Menschen sich verändern können und wenn ja, durch welche Prozesse, sind politisch interessant. Ausgehend von Ernährungstrends und den verschiedenen Theorien, die vorgebracht werden, um diese zu legitimieren, lässt sich aufzeigen, dass hinter vielen Diättheorien letztlich konservative bis hin zu reaktionären Positionen stecken.


In einer kommenden Ausgabe des aufbau wird es einen Artikel zur Lamark'schen Vererbung und zu Vererbungstheorien in der Sowjetunion geben.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 88, März/April 2017, Seite 3
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2017

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