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AUFBAU/475: Wenn Naturgesetze Gesichter bekommen


aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Wenn Naturgesetze Gesichter bekommen


AUFWERTUNG Ein genauerer Blick auf Aufwertungsprozesse in Zürich offenbart die enge Zusammenarbeit zwischen Stadt und Immobilienbesitzenden. Auch der soziale Anstrich der Genossenschaften bröckelt.


(az) Das Innenstadtgesicht von Zürich wird gerade einem glasfassadenen Facelifting unterzogen, im Zuge dessen sich die Bevölkerungszusammensetzung der Stadt fundamental ändern wird. Der Höhepunkt der Preisentwicklung von Immobilien in Zürich wurde vermutlich schon 2014 erreicht, die Auswirkungen für die arbeitende Klasse werden jedoch noch die kommenden Jahrzehnte zu spüren sein. Auch genossenschaftlicher Wohnungsbau und Durchmischung ändern nichts daran, dass vertrieben wird. Trotz des rasanten Tempos des innenstädtischen Umbaus hatten Themen der Stadt in der politischen Bewegung in Zürich auch schon mehr Konjunktur. Das hat eng mit der Qualität und Reichweite der Kritik zu tun, denn reformistische Positionen mit Moralappellen und einer pragmatischen Praxis sind nicht nachhaltig. Revolutionäre Positionen hapern dafür oft an praktischen Ansatzpunkten und dem Theorie-Praxis-Transfer. Wo gibt es Ansatzpunkte?


Zürichs heilige Kuh - der gemeinnützige Wohnungsbau

Die stadt- und raumpolitische Situation in Zürich ist mit der Geschichte des gemeinnützigen Wohnungsbaus verknüpft. In der Zwischenkriegszeit und vor allem im Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit entstanden hauptsächlich in den Aussenquartieren von Zürich tausende von genossenschaftlichen Wohnungen. Die Grundlage dafür bildeten die Landreserven von Stadtquartieren wie Oerlikon, Seebach, Schwamendingen, Höngg, Friesenberg oder Albisrieden, die nach dem ersten Weltkrieg eingemeindet wurden. Durch einen Planungskonsens der Wohnbaugenossenschaften mit den Planungsbehörden der Stadt, konnten die Genossenschaften vor allem in den 50er-Jahren relativ leicht eine grosse Anzahl von Wohnsiedlungen bauen. Die Stadt Zürich verfügte schon damals über Tradition in der Städteplanung und hatte aus der Wohnungsnot von 1918 gelernt. Diese einzigartige politisch-ökonomische Situation ist der Ausgangspunkt dessen, was heute als genossenschaftliches "Erfolgsmodell" gefeiert wird und sich in Zürich in einem Anteil von 20-25% genossenschaftlichen Wohnungen äussert.

Der hohe Anteil von genossenschaftlichen Wohnungen wird von bürgerlicher Seite gerne als vermeintliches Totschlagargument verwendet, um die Wohnungsprobleme in Zürich kleinzureden. Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen muss die Bedeutung der Genossenschaften gleichermassen anerkannt wie relativiert werden: Einerseits bildet der genossenschaftliche Wohnungsbau nach wie vor für viele Menschen eine Möglichkeit überhaupt noch eine bezahlbare Wohnung in Zürich zu finden. Andererseits haben sich die Rahmenbedingungen der Genossenschaften fundamental geändert, darum sind Genossenschaften heute nicht per se etwas Progressives.

Zürich verfügt über sehr wenige Landreserven und viele der Altbauten aus den 50er-Jahren müssen unter grossem Aufwand renoviert werden oder weichen zurzeit Neubauten, so z.B. in Schwamendingen oder in der Region Bucheggplatz. Der Preisvorteil von ca. 20% des Mietzinses, den die Genossenschaften gerne für sich beanspruchen, ist jedoch vor allem bei Altbauten realisierbar. Zudem haben die meisten Genossenschaften entweder endlose Wartelisten für BewerberInnen oder nehmen erst gar niemanden mehr auf. 2011 hat der an einer Volksabstimmung angenommene Gegenvorschlag des Gemeinderats auf eine Initiative der SP u.a. verankert, dass der Anteil von gemeinnützigen Wohnungen bis 2050 rund ein Drittel betragen soll. Können Genossenschaften oder gemeinnütziger Wohnungsbau also die Lösung für Zürichs Wohnprobleme sein, so wie das reformistische Positionen propagieren?


Immobilien als kapitalistische Krisenkur

Um das Umfeld der Genossenschaften analysieren und die reformistische Stossrichtung entkräften zu können, braucht es den Rückgriff auf polit-ökonomische Grundlagen: Wohnungen sind der Ware "gebaute Umwelt" zuzurechnen. Sie haben sowohl die Form eines privaten Konsumguts, sind aber gleichzeitig auch produzierte Ware der Bauindustrie. Gebaute Umwelt kann aber auch fixes Kapital und Teil eines Produktionsprozesses sein, z.B. als Büroräumlichkeit für ein Dienstleistungsunternehmen. Damit sind verschiedene Interessengruppen ersichtlich, von privaten KonsumentInnen von Wohnraum, über Unternehmen bis hin zu den Steuerinteressen des Staats. Aber Kapitalismus wäre nicht Kapitalismus, wenn nicht auch investiert und spekuliert würde. Bei gebauter Umwelt geschieht das primär anhand des Zirkulationswertes einer Immobilie.

Der Verkaufswert, der durch Investitionen entwickelt und durch Knappheit erhöht wird, erreicht an bestimmten Lagen und zu bestimmten Zeiten astronomische Werte. Immobilien als materielle und verhältnismässig inflationsbeständige Investitionen sind in Zeiten von kapitalistischen Überproduktionskrisen hochattraktiv, weil sie zuverlässig Miete generieren, steuerlich vorteilhaft sind und Sicherheit in der "Diversifizierung" des Anlageportfolios bieten. So erstaunt es nicht, dass sich der Immobilienmarkt in der Schweiz in den letzten fünfzehn Jahren stark gewandelt hat. In Zürich wird der Markt im Zentrum von grossen Immobilienkonzernen beherrscht, die gezielt attraktive Liegenschaften entwickeln und dann "managen" oder verkaufen. Auch hier zeigt sich eine tendenzielle Trennung von Besitz und Management, weil viele EigentümerInnen die Verwaltung von Immobilien spezialisierten Firmen wie Livit oder Wincasa überlassen. Indirekte Investitionen können sowohl in Anlagevehikeln von Banken, z.B. der Credit Suisse, wie auch in Beteiligungen an Immobilienkonzernen wie SPS Swiss Prime Site realisiert werden.

Der Immobilienmarkt funktioniert zu einem grossen Teil nach Rezepten des Finanzmarktes und auch die Genossenschaften übernehmen viele der Managergrundsätze im Bestreben, ihre Position in Zürich halten zu können und effektiv und kundenorientiert zu arbeiten. So machen Genossenschaften heute vermehrt Rückstellungen für Landerwerb oder Investitionen und auch bei deren Neubauten werden grössere Wohnungen gebaut und der Mietzins angepasst. Soll der Anteil an gemeinnützigem Wohnungsbau bis 2050 also noch erhöht werden, werden sich die Genossenschaften den Funktionslogiken des Immobilienmarktes angleichen müssen, denn zurzeit sind schweizweit nur etwa zweieinhalb Prozent der neu gebauten Wohnungen Genossenschaftswohnungen.

Der Extragewinn liegt weiterhin an den zentralen Lagen. Trotz der Genossenschaften ist die Stadtentwicklung und Standortförderung in Zürich eine durch und durch kapitalistische Sache. Die Zukunft der verschiedenen Stadtquartiere wird in grossangelegten Entwicklungsplänen mit einem Zeithorizont von acht bis ca. 25 Jahren geplant. Das Schicksal des Kreis 5 wurde schon 1996 besiegelt, als die Stadt in ihrer Planungstradition die verschiedenen "Key-Player" versammelte und unter wesentlicher Mitarbeit von GrundeigentümerInnen und deren Interessengruppen einen Aufwertungsplan erstellte. Der trägt nun Früchte und nach dem Abriss des letzten bisschen temporärem Kulturraums an der Geroldstrasse beim Bahnhof Hardbrücke, dürfte ersichtlich sein, in welchem Interesse der Kreis 5 entwickelt wurde.

Auch wenn es sich beim Kreis 5 nicht primär um ein Wohngebiet handelt, so hat die Planung natürlich trotzdem einen Einfluss auf die anliegenden Wohngebiete in Aussersihl oder Altstetten. Ausgehend von einem Brückenkopf an Investitionen, den sich meist die grossen Firmen aneignen, zieht sich ein ganzer Rattenschwanz an Folgeinvestitionen durch die Quartiere, weil alle Marktteilnehmer auf eine profitable Entwicklung spekulieren. Ausgangspunkt solcher Veränderungsprozesse bilden dabei oft Zonenänderungen oder verkehrstechnische Erschliessungen. Auch wenn sich die Stadt Zürich rühmt, nachhaltig und partizipativ zu planen, zeigt sich in der Ausführung trotzdem, dass die Immobilienwirtschaft und Marktlogik die primäre Treibkraft in der Stadtentwicklung sind und die sozialen Ansprüche in der Stadtplanung zum grossen Teil an der privaten Verfügungsgewalt über Eigentum und Investitionen scheitern müssen.


Zurück zu den Akteuren

Im Angesicht der Tragweite und Funktionsweise der Stadtentwicklungs- und Aufwertungsprozesse in Zürich bringt es wenig, mit dem rechtlichen oder moralischen Anspruch auf "Stadt" zu argumentieren und damit zu versuchen, praktische Politik zu betreiben. Interessant im praktischen Sinne dürfte hier die Überschneidung von öffentlicher Planung und privatem Renditeinteresse sein, denn dort lässt sich der Klassencharakter des Staates am besten festmachen. Auch wenn die Stadtentwicklungspolitik von Zürich gerne Partizipationsmöglichkeiten und Genossenschaften ins Feld führt, um zu suggerieren, dass in Zürich sozial aufgewertet wird, kann in Aufwertungsplänen wie "Langstrasse Plus", Zürich West oder Zürich Nord trotzdem abgelesen werden, für wen und mit wem die Stadt Zürich plant. Und wenn dann nach Bürgerbeteiligung, Investitionsförderung und Herstellung von Sitte und Sicherheit im Kreis 4 trotzdem die alten MieterInnen rausgeschmissen und nun die "young-urban-professionals" und Bonzen einziehen, dann war es die Planung der Stadt Zürich und die Marktlogik der Immobilienbesitzenden, die das zu verantworten haben. Gentrifizierung passiert also nicht einfach, sondern hat Gesichter, Namen, Pläne und Firmenschilder. Das liefert Ansatzpunkte für eine revolutionäre Stadtpolitik.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016, Seite 15
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2016

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