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AUFBAU/441: Kämpfe verbinden durch "Danketsu"


aufbau Nr. 83, Januar/Februar 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Kämpfe verbinden durch "Danketsu"


JAPAN - Der Versuch der japanischen Regierung, ihre Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen, trifft auf immer breiteren Widerstand. Wir haben verschiedene Widerstandsbewegungen besucht.


(az) 100.000 Anti-MilitaristInnen demonstrierten dieses Jahr in Japan. Seit langem wieder eine Wiederbelebung politischer Aktivitäten. Entsprechend enthusiastisch war die Stimmung an der jährlichen November-Demonstration der Doro-Chiba-Bewegung in Tokio, an welcher wir zusammen mit S-Bahn-KollegInnen aus Berlin teilgenommen haben. Nach einer Versammlung demonstrierten wir mit 6000 Personen umringt von einem massiven Polizeiaufgebot mitten durch das Regierungsviertel Tokios. Dieser Tag zeigte, dass sich durch verschiedene an den gesellschaftlichen Brennpunkten beteiligte Gruppen ein politischer roter Faden zieht, der an der revolutionären Partei Chukaku-ha festzumachen ist. An diesem Tag kamen in Tokio all die Gruppen zusammen, die wir in den Tagen zuvor über Japan verstreut getroffen hatten.


Doro-Chiba

Vorneweg sind natürlich die unabhängigen Gewerkschaftsgruppen zu nennen, die die kämpferische Ausrichtung der Doro-Chiba befürworten und vernetzt sind. Doro-Chiba, ursprünglich die regionale Sektion der Lokomotivführergewerkschaft Doro im Tokioter Arbeitervorort Chiba, hat sich 1979 von Doro losgelöst. Schon damals war der Hintergrund ein umfassendes politisches Bewusstsein, das sich in Danketsu (praktischer Solidarität) mit dem Sanrizuka-Kampf gegen den Flughafenbau Narita zeigte. Mit Solidaritätsstreiks weigerte sich Doro-Chiba Treibstoff für den Flughafen Narita zu transportieren. Trotz und gegen die grosse Unterstützung der Doro-Basis bekämpfte die Doro-Führung diese Initiative der Chiba-Sektion - zuerst durch Erpressung und schliesslich durch offene Angriffe von Schlägertrupps.

Diese Erfahrung - auch mit physischen Angriffen - widerspiegelt sich in der Lockerheit der VersammlungsteilnehmerInnen gegenüber den Versuchen einiger Faschisten, die Versammlung von aussen akustisch zu stören. Ein anwesender Genosse erklärt uns, dass die FaschistInnen in Japan nie wagen würden, sie anzugreifen. Auch, weil sich die Chukaku-ha in den Klassenkämpfen der 70er gegen Entführungen und Ermordungen zu verteidigen gelernt hat.

Die japanische Gewerkschaftsbewegung erlebte dann in den 80ern eine Umstrukturierung. In diese Zeit fällt die neoliberale Offensive. Das Rückgrat der organisierten ArbeiterInnenbewegung sollte gebrochen werden. Und dies war in Japan die Eisenbahnergewerkschaft Kokuro - wie in England die Bergarbeiter und in den USA die Fluglotsen. Die Privatisierung und Aufsplitterung der japanischen Bahn sollte die ganze Klasse schwächen und dies tat es auch. Kokuro akzeptierte den Abbau von 200.000 EisenbahnarbeiterInnen kampflos und verlor vier Fünftel seiner Mitglieder. Die organisierte ArbeiterInnenklasse war gebrochen. Jedoch nicht ganz. Einen Tag vor der November-Demonstration nahmen wir an einer Streikkundgebung der Doro-Chiba teil. Hier zeigte sich der andere Teil der japanischen Gewerkschaftsgeschichte. Er wird symbolisiert durch die Zahl 1074 auf Bannern. Das sind die Anzahl von Eisenbahnern, die sich weigerten die Privatisierung per Änderungskündigung zu akzeptieren. Sie wurden zwar entlassen, doch mit ihrer Entschlossenheit hat Doro-Chiba in diesem Kampf fast keine ihrer 1000 Mitglieder verloren. Sie sind der Kern der heutigen Stärke.

An der Versammlung vor der Novemberdemonstration fanden sich aber auch Gewerkschaftssektionen aus anderen Teilen Japans. Da ist die Doro-Mito-KollegInnen, die aktuell gegen die Wartung von Zügen streiken, die bei der Atomkatastrophe in der Nähe des der Atomkraftwerke verseucht wurden. Auch Doro-Koriyama ist anwesend. Mit ihnen haben wir spontan ein Solidaritätsvideo für die KollegInnen in Bellinzona gedreht als wir erfahren haben, dass sie wieder angegriffen werden. In Koriyama hat sich die prekäre Arbeitssituation der Eisenbahner nach der Atomkatastrophe noch verschärft. Die ArbeiterInnen ziehen möglichst weit weg und pendeln täglich bis zu zwei Stunden nach Koriyama zur Arbeit. Neben Eisenbahnergewerkschaften fanden sich an der Novemberdemonstration aber auch Gewerkschaften anderer Industrien und sozialer Berufe.


Die Bäuerinnen von Sanrizuka

Wenig überraschend und trotzdem beeindruckend war auch die kämpferische Rede der Sanrizu-BäuerInnen auf der Versammlung. Der äusserst militante Kampf dieser KleinbäuerInnen gegen den Flughafenbau in Narita in den 70ern ist allen JapanerInnen in historischer Erinnerung. Und noch heute erinnert ein kleines besetzten Gelände daran, wie es wie ein Fels in der Brandung eine Ecke in die Landebahn des Flughafens reisst. So müssen die Flugzeuge in Narita bei ihrer Ankunft diese jeweils umfahren.

Das Land der BäuerInnen sollte damals dem Bau des Narita Flughafens weichen. Doch der Staat stiess in Sanrizu auf erbitterten Widerstand der BäuerInnen. Sie wehrten sich immer militanter; mit Fäkalienkatapulten und dem Bau von Festungen und Bunkern. Die Militanz verjagte schnell reformistische und revisionistische Parteien und zog dafür die Solidarität der revolutionären StudentInnenbewegung Zengakuren und der Chukaku-ha an. Politisch reihte sich der Kampf gegen den Flughafen in den Widerstand gegen den US-Imperialismus und dessen Militär-Basen für den Angriff auf Vietnam ein. Die Auseinandersetzungen gegen die Annexion des Landes dauerten von 1967 bis 1978. Vier Polizisten und ein Genosse starben dabei. Mit grosser Verzögerung und nur einem Drittel der geplanten Grösse wurde der Flughafen 1978 eröffnet. Noch nach dem fertigen Bau wurde sowohl ein Gate gestürmt und von einem brennenden Lastwagen gerammt als auch der Kontrollturm besetzt und sabotiert. Bis heute nimmt der Kampf kein Ende. Doch inzwischen hat sich ein Teil der Bewegung abgespalten und ist teilweise in Verhandlungen mit dem Flughafen getreten. Die BäuerInnen hier an der Versammlung vertreten jedoch immer noch mit unglaublicher Entschlossenheit die ursprüngliche kompromisslose Linie. Entsprechend zeigt die Polizei immer noch mit grossen Aufgeboten, dass sie auch kleine Demonstrationen der BäuerInnen ernst nehmen. Aktuell wird Widerstand gegen den Ausbau eines neuen Gates organisiert.


Fukushima

Schon vor diesem Jahr wurde in Japan vermehrt demonstriert. Natürlich gegen die Wiedereinführung der AKWs. An der Versammlung spricht denn auch die Anführerin der Fukushima-BäuerInnen, die gezwungen werden, zurück in die verseuchte Gegend zu ziehen und dort verseuchte Lebensmittel zu produzieren. Wer in Fukushima war, versteht erst das Ausmass der Katastrophe. Hier gibt es eigentlich nichts mehr zu "helfen". Hilfe, die nicht politisch ist, ist hilflos, denn es kann hier nichts wieder gut gemacht werden. Hier offenbart sich: Kapitalismus hat das Potenzial, die Weltbevölkerung auszulöschen. Die Antwort darauf kann nur politisch sein: Der Bruch mit der Verwertungslogik des Kapitals.

Deshalb muss "Hilfe" unbedingt mit einer politischen Perspektive verbunden werden. Das betont auch eine Genossin der unabhängigen Fukushima-Klinik(1). Diese wurde 2012 durch Spenden aufgebaut und bietet Krebsuntersuchungen an. Immerhin wurden noch immer ganze 67.000 Kinder nicht untersucht. Und mischt sich damit in die Debatte um die Folgen der Katastrophe ein. Sie bietet Gegeninformation zu den Lügen der Regierung und des gekauften regionalen Ärzte-Verbands. So ist die Neuerkrankungsrate von Kindern an Schilddrüsenkrebs um das sechsfache höher als vor der Katastrophe. Die Botschaft der Klinik ist deshalb unmissverständlich: Alle sollen hier möglichst weit wegziehen. Fukushima ist ein Ort, der die Menschen sukzessive vergiftet.


Zengakuren und der Kampf gegen die Militarisierung

Auch der Staatsschutz interessiert sich für die Fukushima-Klinik. Zumindest wissen wir das, nachdem ein Spitzel innerhalb der StudentInnenbewegung Zengakuren aufgeflogen ist. Er sollte Informationen über die Klinik sammeln. Auf seine Aufdeckung reagierte die Polizei mit Verhaftungen zweier Zengakuren-Genossen. Nach einem Monat Aussageverweigerung und einer Solidaritätskampagnen an den Unis mussten diese aber ohne Anklage freigelassen werden. Auch sie haben wir getroffen, doch wurden sie aus der Uni geschmissen - wie über hundert andere Zengakuren-GenossInnen in den letzten zehn Jahren. Die Repression an den Universitäten gegen die StudentInnenbewegung hat vor allem zugenommen, seit StudentInnen wieder eine führende Rolle spielen in den Anti-Kriegs-Protesten.

Die Kontinuität der Zengakuren ist erstaunlich. Der Verband, der sich schon 1948 gründete, hatte seinen Höhepunkt in den 60er Jahren als äussert militante revolutionäre Bewegung erreicht. Die Bewegung spaltete sich damals, doch die an Chukaku-ha angelehnte Zengakuren war und ist die stärkste Fraktion.

Gegen diese Kontinuität und Bruchposition von Zengakuren wurde in der heutigen Anti-Kriegs-Bewegung eine studentische Alternative aufgebaut: Die Studentinnenorganisation SEALD. Diese wird aktiv von den Medien gehypt und natürlich von der Repression verschont. Tatsächlich ist sie durch ihre liberal-demokratische Haltung und ihre "fashionable" Social-Media-Formen attraktiv für die neu politisierte Anti-Kriegs-Bewegung. Ihre Führungsfiguren - aus privaten Elite-Unis stammend -, aspirieren natürlich auf eine Politikkarriere. So erstaunt nicht, dass SEALD auf den Vorschlag der revisionistischen Kommunistischen Partei eingeschwenkt ist, nun Mobilisierungen sein zu lassen und sich auf den Wahlkampf zu konzentrieren.

Der Besuch dieser Novemberdemonstration offenbarte eine verdeckte Klassenkampftradition, die eine enorme Kontinuität und Vielfalt aufzeigt. Chukaku-ha ist es offenbar gelungen, den Aufbau starker und revolutionärer Strukturen in verschiedenen Teilen und Brennpunkten der japanischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Dies zeigt, dass auch in einer oberflächlich unbewegten Zeit und Gesellschaft revolutionäre Aufbauprozesse möglich sind. Diese enge politische Verbindung und lebendige und authentische Verankerung in der Klasse wird in den Klassenkämpfen der nächsten Jahre enorm wichtig sein.

(1) http://www.clinic-fukushima.jp

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 83, Januar/Februar 2016, Seite 8
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2016

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