Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

AUFBAU/309: "Man kann ja niemandem eine halbe Million schenken"


Aufbau Nr. 68, märz/april 2012
Klassenkampf - frauenkampf - Kommunismus

"Man kann ja niemandem eine halbe Million schenken"


WOHNEN Jeder kennt es: Man sucht eine Wohnung und steht kurz vor der Verzweiflung. Die Wohnsituation ist konstant angespannt. Was sind die Ursachen, die dazu führen?


(agj) In den bürgerlichen Medien wird im Moment viel über Wohnungsnot, Aufwertung und Gentrifizierung geschrieben. Tatsächlich ist es so, dass dies ein Problem ist, welches viele Leute, gerade in der Stadt Zürich(1), sehr beschäftigt. Nach einer im Herbst 2011 veröffentlichten Umfrage der Stadt Zürich ist das zweitgrösste Problem der Bevölkerung die Wohnsituation. Mehr als ein Viertel der Einwohnerinnen gibt an, dass sie ihre Miete als zu hoch empfindet.

Zwar gilt dieses Problem für den grössten Teil der städtischen Bevölkerung, besonders betroffen sind aber Jugendliche. Wenn sie nicht mehr zu Hause wohnen und keine Bekanntschaften mit WohnungsvermieterInnen haben, wird es für sie schwer, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Entweder pferchen sie sich in kleinen überteuerten Wohnungen in WGs zusammen, oder sie suchen sich eine andere Alternative. Bei den WGs besteht das Problem, dass es auch Vermieterinnen gibt, die WGs prinzipiell ablehnen, weil sie Angst vor Lärm oder Unzuverlässigkeit haben. So bleiben für junge Leute vor allem juwo-Wohnungen(2), die zwar bezahlbar, aber meistens befristet und in einem schlechten Zustand sind, weil sie bald abgerissen werden. Dort ist es zwar möglich, eine Bleibe zu finden, aber man wird von einem Abrisstermin zum nächsten gehetzt.


Spekulationsblase Immobilienmarkt

Im Gegensatz zu dieser prekären Wohnsituation ist es in den Städten völlig normal, dass Häuser jahrelang aus Spekulationsgründen ungenutzt leer stehen. Danach werden die Häuser teuer renoviert, damit die Mieten erhöht werden und der Profit maximiert werden kann. So lehnte etwa die Architektin Vera Gloor, die im Langstrassenquartier dick im Geschäft ist, es ab, dass junge Leute eins ihrer Häuser selber in Stand setzen und als Gegenleistung dazu einfach günstig wohnen könnten. Ihre Begründung war, man könne ja niemandem eine halbe Million schenken. Dabei hätte sie ja nichts verschenkt, sondern sie hätte einfach keinen Profit aus diesen Gebäuden ziehen können. Aber im kapitalistischen System heisst ja keinen Profit zu machen offensichtlich dasselbe wie Geld zu verschenken. Und jetzt, nach der Renovation, werden die besagten Wohnungen zu Wucherpreisen von 4000.- Franken pro Monat für eine 4-Zimmer-WG vermietet. Das kann sich natürlich kein normal verdienender Mensch leisten. Aber mittlerweile ist das Langstrassenquartier genug "in" und "cool", dass diese sauteuren Wohnungen vermietet werden können.

In wirtschaftlichen Krisen gilt der Immobilienmarkt als relativ sichere Investitionsmöglichkeit. Ganz nach dem Motto: Jeder muss ja irgendwo wohnen. Dass auch diese Spekulationsblase platzen kann, hat sich in den USA, in Spanien oder auch an der Côte d'Azur gezeigt. Trotzdem wird in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer wieder in Immobilien investiert, bis die Investorinnen erfahren müssen, dass im Immobilienmarkt keine anderen Gesetze als sonst im kapitalistischen Wirtschaftssystem herrschen. So dient der Immobilienmarkt zur Überbrückung, bis wieder ein neuer Wirtschaftszweig mit Investitionsmöglichkeiten kurz aufflackert.


Aufwertung - für sie oder für uns?

Auch an der Weststrasse wurden die Mieten nach der Verkehrsberuhigung viel höher, bei vielen Wohnungen auch ohne wirkliche Sanierung. Nachdem die AnwohnerInnen über Jahrzehnte den Abgasen und dem Lärm des Verkehrs ausgesetzt waren, wurde nun die Fassade ein wenig heraus geputzt und gestrichen und die Wohnungen können dann viel teurer vermietet werden. Die früheren Bewohnerinnen können sich die gestiegenen Mieten nicht mehr leisten und müssen wegziehen. Ähnliches geschah im Seefeld und geschieht wie gesagt an der Langstrasse. Der öffentliche Raum wird durch Verkehrsberuhigung und durch stärkere Überwachung und Polizeipräsenz so verändert, dass sich mehr Profit erwirtschaften lässt. Die früheren Bewohnerinnen werden aus den betroffenen Quartieren vertrieben und müssen sich neue Wohnungen suchen. So ist zu erkennen, dass angebliche soziale Quartieraufwertungsprojekte wie die Weststrasse und das Projekt Langstrasse-plus unter der Führung von Sozialdemokraten dazu führen, dass Menschen, die nicht mehr ins Bild passen, einfach verdrängt werden.

Damit wird klar, dass das wichtigste Ziel der Wohnungspolitik nicht die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum ist, sondern die Interessen der Eigentümer und Kapitalisten zu befriedigen. Genauso ist die Profitlogik des Kapitalismus der Grund dafür, dass überall in der Stadt Zürich Büroräumlichkeiten wie wild aus dem Boden schiessen und dann lange leer stehen, anstatt dass billige Wohnungen gebaut werden. Aus revolutionärer Sicht liegt es also nahe, dieser Politik zu widersprechen. Anders als bürgerliche und reformistische Politiker denken wir nicht, dass sich das Wohnungsproblem mit ein wenig mehr Genossenschaftswohnungen lösen lässt. Das Wohnungsproblem ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems und kann nicht getrennt davon gelöst werden.


Kollektive Lebensräume erkämpfen

Einige lösen ihr Wohnungsproblem, indem sie Häuser besetzen. Für viele Jugendliche in städtischen Gebieten wird dies zu einer Möglichkeit, ein Zuhause zu finden, obwohl sie dabei das Risiko eingehen, angezeigt und gebüsst zu werden. Um Häuser zu besetzen, gibt es verschiedene Motivationen. Neben dem finanziellen Aspekt kann es durchaus auch darum gehen, die Wohnungspolitik sowie das kapitalistische System allgemein politisch zu kritisieren.

Viele Menschen suchen einen Ort, um kollektiv zu leben und zu wohnen. Viele wollen nicht allein, zu zweit oder zu dritt in einer kleinen Wohnung, sondern mit vielen Leuten in einem grossen Haus wohnen. In unseren Städten ist das auf legalem Weg praktisch unmöglich. Solche grossen Häuser, die auch bezahlbar sind, gibt es kaum. Ungenutzte Wohnhäuser oder auch Industriegebäude und -Areale bieten sich aber genau dafür an.

Es erscheint wie ein schlechter Witz, dass die Leute, die im Rahmen einer Besetzung ein Wohnobjekt renovieren und bewohnen wollen, angezeigt werden, aber gleichzeitig Wohnungsnot herrscht, und doch ist es im Kapitalismus nur logisch.


Öffentlichen Raum politisch nutzen

Eine weitere Motivation um Häuser zu besetzen, ist der Kampf um Freiräume. Oftmals werden Liegenschaften besetzt, um sie als kulturellen und politischen Raum zu nutzen. Dieser Raum kann so nach unseren eigenen Interessen gefüllt werden. Denn durch die Verdrängung von der ArbeiterInnenklasse aus einzelnen Stadtteilen wird auch das Kampffeld rund um den öffentlichen Raum schwerer fassbar. Wir kämpfen dort, wo wir leben, und wenn wir immer weiter auseinandergerissen und an Stadtgrenzen vertrieben werden, wird es immer anspruchsvoller, in ehemaligen und immer noch bestehenden ArbeiterInnenquartieren politisch aktiv zu sein. Die Aufwertung dient also nicht nur den ImmobilienmaklerInnen, sondern auch dem Staat. Durch die Städteplanung kann die innere Sicherheit und Ordnung zugunsten der Aufstandsbekämpfung massgeblich beeinflusst werden. So ist etwa aus Frankreich bekannt(3), dass der Staatsschutz bei Um- und Neubauten von Gebäuden und Quartieren mitspricht, um die öffentliche Überwachung zu stärken und soziale Brennpunkte und damit verbundene Aufstände zu verhindern. Die Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik dient also auch als Herrschaftsinstrument.

Diese Entwicklung lässt sich also nicht nur in Zürich, sondern auch international in ähnlichen Abläufen beobachten (siehe unten). In der Logik des kapitalistischen Systems dient Aufwertung nicht der Lösung von sozialen Problemen oder dem Schutz der Bevölkerung, sondern einzig der Verbesserung von Standortvorteilen, damit die Ware "Raum" teurer verkauft werden kann.


Anmerkungen
(1) http://www.Stadt-zuerich.ch/content/prd/de/index/stadtentwicklung/stadt-_und_quartierentwicklung/befragungen/bevoelkerungsbefragung.html
(2) jugendwohnnetz, Verein, der günstige Wohnungen an Jugendliche vermietet
(3) Loup Francart & Christian Piroth: Émeutes, Terrorisme, Guerilla... Violence et contre-Violence en Zone urbaine


GENTRIFIZIERUNG

Gentrifizierung ist die Aufwertung von Quartieren, die damit verbundene Verdrängung der dort ansässigen Bewohner und somit Veränderung der Bevölkerungsstruktur und des Erscheinungsbildes. Im Kapitalismus zeigt sich diese Aufwertung dadurch, dass Wohnobjekte, Industrie- und Gewerberäume, die noch in einem "heruntergekommenen" Zustand - meist in traditionellen ArbeiterInnenquartieren - von Immobilienfirmen oder Privaten aufgekauft werden und nach minimalen bis totalen Sanierungen mitunter für ein Vielfaches weiterverkauft werden. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass es vor dem Einkauf oftmals zu einer Veränderung des Quartierbildes kommt. In den noch günstigen Räumen werden kreative Kleinbetriebe gefördert. Damit ist der Prozess der Verdrängung der bisherigen Bewohnerinnen bereits im Gänge, und durch die steigende Attraktivität des Quartiers werden zahlungskräftigere Mieterinnen angezogen, die sich die sich erhöhenden Mieten leisten können. Wer nicht mithalten kann, muss gehen. Oder sich andere Formen überlegen, um den Raum zu verteidigen und zurück zu erobern. Sei es in Form einer Besetzung oder sonst wie in einem kollektiven Rahmen, der nicht nur die Wirkung, sondern auch die Ursache angreift.


*


Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)


*


Quelle:
aufbau Nr. 68, märz/april 2012, Seite 4
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org

aufbau erscheint fünfmal pro Jahr.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2012