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AUFBAU/302: Räte in Spanien


aufbau Nr. 66, September/Oktober 2011
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

INTERNATIONALISMUS
Räte in Spanien


GESTERN UND HEUTE - In Spanien entstehen politische Formen, die den Arbeiterräten des 20. Jahrhunderts nicht unähnlich sind. Um sich über ihren Charakter klarzuwerden, kann ein Blick in die Geschichte helfen.


(gpw) "Ihr müends halt mache wie die russische Pure und Arbeiter. Müend halt au en Arbeiter- und Soldaterat arrangiere [...]"(1) So der humoristische Aufruf des fiktiven Charakters Gottfried Stutz an die Schweizer Soldaten, der 1917 in der Zeitschrift Freie Jugend veröffentlicht wurde. Er wurde zu einer Zeit geschrieben, in der die erwähnten Arbeiter- und Soldatenräte Russlands, die Sowjets, tatsächlich die Macht ergriffen hatten und sich die Idee der Rätedemokratie durch die revolutionäre Linke über ganz Europa zu verbreiten begann.

Heute jedoch hat sich die Idee des Rätesystems in Europa von der öffentlichen politischen Bühne weitgehend zurückgezogen. Die Räterepublik in Deutschland wurde mit sozialdemokratischer Hilfe blutig gestürzt und die Sowjets in Russland wurden durch Stalin faktisch ihrer Mitbestimmung beraubt. Im Gegensatz dazu entwickelten sich in Europa die bürgerlich-parlamentarischen Demokratien und liessen lange Zeit kaum Raum für Alternativen. Selbst in marxistischen Kreisen scheint das Rätesystem nicht mehr unumstritten: Die englischen Wissenschaftler und Sozialisten Cockshott und Cotrell entwarfen in den 90er-Jahren zwar ein durchaus lesenswertes Modell "Für sozialistische Planung und direkte Demokratie", setzen dabei aber auf eine erweiterte Form der klassischen griechischen Demokratie der Antike und nicht auf das Rätemodell. Unter anderem begründeten sie dies mit der Feststellung "Räte werden normalerweise nur gebildet, wenn eine Diktatur oder absolute Monarchie gestürzt wird. In Staaten mit parlamentarischer Regierung scheinen sie nicht aufzutreten."(2)

Offensichtlich werden die beiden jetzt aber eines besseren belehrt. Nicht nur beim Sturz der diktatorischen arabischen Regimes, sondern auch in der bürgerlichen Demokratie in Spanien treten bei Protesten gegen die Regierung plötzlich räteähnliche Erscheinungen auf. Zehntausende von Menschen besetzten zentrale Plätze in verschiedenen Städten und hielten Massenversammlungen ab. Gemeinsam wurde eine Infrastruktur aufgebaut, einzelne Delegierte gewählt und riesige Diskussionen veranstaltet. Besonders interessant ist die Tatsache, dass die Versammlungen von den Akteuren nach und nach in die einzelnen Quartiere getragen wurden und somit verschiedene Quartiere ihre eigene Versammlung hatten. Ausserdem gab es ebenfalls Bestrebungen, die Arbeiter in den Industrievierteln mit eigenen Versammlungen in die Bewegungen einzubinden.

Wer die Berichte aus Spanien las, fühlte sich zurecht an die Entstehungszeit der Arbeiterräte in Russland und Deutschland anfangs des 20. Jahrhunderts erinnert. Daher lohnt es sich kurz anzuschauen, welchen Charakter diese Räte damals eigentlich hatten.


Ein Blick zurück

Als eigentlicher Geburtsort der Arbeiterräte wird heute das zaristische Russland angesehen. Als 1904 in der Stadt Iwanowo-Wosnessensk 40'000 Textilarbeiter streikten, wählten sie, um die Verhandlungen zu zentralisieren und ihre Schlagkraft zu erhöhen, einen Deputiertenrat. Solche Arbeiterräte bildeten sich darauf in verschiedensten Fabriken, aber auch in den Wohnquartieren und den Armeeeinheiten und übernahmen dort die Verwaltung selbst. Dadurch entstand eine Form der Demokratie, die der Bürgerlichen an konkreter Mitbestimmung und Selbstverwaltung weit überlegen war.

Die verschiedenen Strömungen der russischen Revolutionäre erkannten damals schnell den Nutzen der Sowjets als Kampforgane innerhalb des Kapitalismus. Sie sollten dabei helfen, den Zar abzusetzen und dann durch ein reguläres Parlament ersetzt werden. Auch in den Räten selbst, hatten die gemässigten Kräfte, welche die Räte bloss als Übergangserscheinung zum bürgerlichen Parlament ansahen, lange die Mehrheit. Es war Lenin der darin zuerst die neue Form der proletarischen Demokratie im Sozialismus gesehen hatte und es dauerte bis in den Oktober 1917, bis sich die Bolschewiki sich mit ihrer Losung "Alle Macht den Räten!" durchsetzen konnten.

In der darauf folgenden Novemberrevolution 1918 in Deutschland gelang das nicht. Auch hier bildeten sich spontan Arbeiter- und Soldatenräte, mit deren Hilfe der deutsche Kaiser gestürzt wurde. In ihnen hatten jedoch die gemässigten Positionen der Sozialdemokratie die Mehrheit und so stimmten die Räte für ihre eigene Abschaffung, nachdem der Übergang zur bürgerlichen Demokratie gemacht wurde. Die Reste der Arbeiterräte, die ihre Macht nicht freiwillig abgaben, wurden dann unter der Leitung des Sozialdemokraten Gustav Noske blutig niedergeschlagen.


Form und Inhalt

Was uns die Geschichte der Kämpfe lehrt, ist, dass die Arbeiterräte als Form eindeutig ein revolutionäres Potential haben. Allerdings kommt es auch hier auf den Inhalt an. Sind die revolutionären Kräfte innerhalb der Räte in der Minderheit, haben die Räte eine Tendenz dazu, ihre Macht wieder an die bürgerliche Demokratie und somit an das Kapital abzugeben.

Es bietet sich an, auch die Entwicklungen in Spanien unter diesen Gesichtspunkten anzuschauen. Ohne Zweifel ist die Bewegung auf Spaniens Plätzen eine der interessantesten und hoffnungsvollsten in den letzten Jahren in Europa. Insbesondere auch, weil sie sich von Beginn ausserhalb des Parlamentes und in offener Ablehnung gegenüber dessen Wahlspektakel abspielte. Sie war ein Symbol dafür, wie stark die reformistische Politik in den Parlamenten von den Massen heute als perspektivlose Sackgasse angesehen wird.

Dennoch blieben die Forderungen der Bewegung bis anhin im Grossen und Ganzen sehr zahm. Obwohl Parolen gegen "das System" allgegenwärtig sind, ist damit weniger der Kapitalismus sondern das politische System Spaniens gemeint, das reformiert werden soll. So sind denn die wichtigsten Forderungen Reformen im Wahlgesetz, die kleineren Parteien grössere Chancen bringen sollen oder die Forderung nach weniger Korruption und mehr Transparenz. Obwohl die Versammlungen der Form nach die bürgerliche Demokratie sehr wohl in Frage stellen und Alternativen aufzeigen, sind sie davon inhaltlich noch weit entfernt. Vielmehr werden an die bürgerliche Demokratie und dessen Parlament Forderungen gestellt, um deren System zu verbessern und nicht abzuschaffen. Lenin beschreibt das kurz vor der Oktoberrevolution als die Tendenz, "[die Sowjets] in bloße Schwatzbuden zu verwandeln, die sich unter dem Schein der "Kontrolle" damit beschäftigten, ohnmächtige Resolutionen abzufassen und fromme Wünsche zu äußern, die dann von der Regierung mit dem höflichsten und liebenswürdigsten Lächeln zu den Akten gelegt wurden."(3)


Keine Ideologien?

Ein wichtiger Grund dafür, warum es radikalere Positionen in der Bewegung nicht gerade leicht haben, ist der Wunsch vieler Teilnehmenden nach "Ideologiefreiheit". Ein Grossteil der Bewegung stammt offenbar aus enttäuschten Wählern der Sozialdemokratie, will die Bewegung jedoch ausdrücklich als weder Links noch Rechts verstehen. Konkretere Positionen, beispielsweise Revolutionäre oder Kommunistische, haben es da einleuchtenderweise noch schwerer. Auch ein Bezug zum Proletariat wird grösstenteils abgelehnt. Man will sich als eine, Bewegung die über den Ideologien und den Klassen steht verstanden wissen. Besonders vertritt diese Position die in der Bewegung entstandene "Democracia Real Ya" (Echte Demokratie - Jetzt!), welche je länger je mehr versucht, sich zur Sprecherin der Bewegung zu machen.

Den oben erwähnten Positionen liegt jedoch ein verhängnisvoller Irrtum zugrunde: Die Klassen verschwinden nicht plötzlich, bloss weil man sie nicht anerkennt oder sich nicht auf eine einzelne Klasse bezieht, sie sind eine ökonomische Realität. Und aus dieser Realität wachsen auch die entsprechenden Ideologien. Da die ökonomischen Realität für alle gelten, kann es auch keine "ideologiefreie" Bewegung geben. Auch hier lohnt sich der Blick in Lenins Werk, der 1902 erklärte, "daß jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabminderung der Rolle des 'bewußten Elements', der Rolle der Sozialdemokratie(4), zugleich - ganz unabhängig davon, ob derjenige, der diese Rolle herabmindert, das wünscht oder nicht - die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter bedeutet."(5)

Das bestätigt sich in der Praxis der spanischen Bewegung, in der sich trotz oder genau wegen des "Ideologieverzichts" die bürgerliche Ideologie bisher durchgesetzt hat. Was aber durchaus nicht heisst, dass sich die Perspektive der Bewegung nicht auch noch ändern kann. Denn Bewusstsein entsteht schliesslich in den Kämpfen und gerade hier beginnt sich die Bewegung auch neu auszurichten, indem beispielsweise überall in Spanien Zwangsräumungen von Wohnungen durch Massenaktionen verhindert werden.(6) Ein Akt der an sich nicht nur mit der kapitalistischen Logik sondern auch mit dem staatlichen Machtmonopol bricht und sich hoffentlich auch in den Positionen der Bewegung niederschlägt. Aber gerade dafür, dass das geschieht, sind wir als revolutionäre Linke verantwortlich.


Anmerkungen:

(1) Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich, Schweizerische Arbeiterbewegung, Zürich, 1975, S. 176.

(2) W. Paul Cockshott, Allin Cottrell, Alterantiven aus dem Rechner, Köln, 2006, S. 219.

(3) Lenin Werke, Band 25, Seite 378-386; Dietz Verlag Berlin, 1972.

(4) Der Begriff der Sozialdemokratie ist hier bei Lenin noch gleichbedeutend mit dem der kommunistischen Bewegung. Erst als im Zuge des Ersten Weltkrieges klar wurde, dass die Sozialdemokratie endgültig auf einen reformistischen Kurs eingeschwenkt ist, trennten sich die Kommunisten organisatorisch und in ihrer Eigenbezeichnung von ihr.

(5) W.I. Lenin, Werke, Bd. 5, S. 355-549 1972.

(6) Eine Übersicht über die bisher verhinderten Räumungen findet sich hier:
http://stopdesahucios.tomalaplaza.net


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)


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Quelle:
aufbau Nr. 66, September/Oktober 2011, S. 12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2011