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AUFBAU/275: Frankreich - "Klassenkampf von oben in Reinform"


aufbau Nr. 63, Dezember/Januar 2010/11
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Klassenkampf von oben in Reinform"

FRANKREICH - Die Proteste gegen die Rentenreform haben Frankreich im Oktober beinahe lahmgelegt. Wir konnten mit einem in Frankreich aktiven Genossen über die Rentenreform und die daraus entstandenen Kämpfe sprechen.


(rabe) In den letzten Wochen und Monaten gab es in Frankreich massive Proteste gegen die geplante und unterdessen vom Parlament beschlossene Rentenreform. Kannst du kurz beschreiben, worum es in der Rentenreform geht und weshalb sich daraus so starke Proteste entwickelt haben?


Im Wesentlichen geht es um die schrittweise Erhöhung des Mindestalters für den Renteneintritt von heute 60 auf 62 Jahre und für die Vollrente bei mangelnden Beitragsjahren von 65 bis 6-7 Jahre. Von der ersten Verschiebung sind insbesondere Arbeiterinnen mit kurzer Ausbildungszeit, meist geringem Lohn und hartem Arbeitsalltag betroffen. Da sie früh ins Erwerbsleben eingestiegen sind, verfügen sie über die 40 geforderten Beitragsjahre (nach der Rentenreform 41,5 Jahre), müssen nun jedoch zwei Jahre länger die Härten ihres Jobs ertragen. Von der Erhöhung des Alters auf 67 für Vollrente, sind in erster Linie Frauen betroffen, die wegen der unbezahlten Arbeit für die Familie nicht ausreichend Beitragsjahre vorweisen können. Frauen, deren Rente heute schon durchschnittlich 40% tiefer liegt als bei Männern und die später in Pension gehen, werden sich künftig noch weit länger abrackern müssen um eine Rente zu erhalten, die zum Leben reicht.

Angesichts dieser Hauptleidtragenden ist nicht zu vergessen, dass die Rentenreform alle Lohnabhängigen betrifft. Der Sache nach handelt es sich um Klassenkampf von oben in Reinform. Die Klasse der Arbeitenden muss sich von der Klasse der Besitzenden zwei Jahre länger ausbeuten lassen, das heisst, das Kapital kann aus den Lohnabhängigen zwei Jahre länger Mehrwert herausschlagen. Zudem wird der Lebensabend in Rente, um zwei Jahre verkürzt. In Frankreich kommt die Rente hauptsächlich über das Umlageverfahren zustande, d.h. die aktuell Arbeitenden bezahlen mittels Lohnanteilen für die aktuellen Pensionäre. Dieser Lohnanteil bleibt bei der Reform gleich oder er steigt sogar an. Hingegen sinken durch die längeren Beitragsjahre für den Staat tendenziell die Gesamtkosten. Damit profitieren die Reichen von tieferen Steuern. Ein weiterer Nebeneffekt des späteren Renteneintritts besteht darin dass jede längere Abnützung der Menschen im Arbeitsprozess ihre Lebenserwartung und somit die Bezugsdauer senkt. Während es dem Kapital um den Zaster geht, geht es den Arbeiterinnen also darüber hinaus ans Lebendige.


Wie war der Verlauf der Streiks und der Proteste?

Es haben insgesamt acht Aktionstage mit Arbeitsniederlegungen seit dem Frühsommer stattgefunden, zu denen jeweils ein breites Gewerkschaftsbündnis aufgerufen hat. Der Höhepunkt war im Oktober erreicht mit jeweils 3 bis 3,5 Millionen Protestierenden auf den Strassen. Wichtig war dabei, dass viele regionale und überregionale Streiks in einzelnen Sektoren über Wochen angehalten haben. Der stärkste Druck ging von der Blockierung der grossen Häfen Frankreichs und der Treibstoffdepots aus. Zu Ferienbeginn am 25. Oktober waren die Warenflüsse in Frankreich empfindlich gestört (auch durch Blockaden von Strassen und Streiks bei der Bahn). Es hat nicht mehr viel gefehlt bis zur Lahmlegung der Wirtschaft im Land. Polizeieinsätze und demobilisierende Entscheidungen der Gewerkschaften haben aber zu einer Schwächung des Widerstands und zu einem Rückgang der Beteiligung geführt.


Die Gewerkschaften haben zu den Streiks aufgerufen. Welche Rolle haben sie gespielt?

Ohne die grossen Gewerkschaften sind Aktionen und Streiks diesem Ausmass momentan nicht durchführbar. Für die Gewerkschaften selbst steht viel auf dem Spiel, weil sie von der Regierung nicht wie üblich in Verhandlungen über die Rentenreform einbezogen wurden. Dabei hat die einflussreiche CGT (confédération general du travail) nicht mehr gefordert als eben ihren Einbezug in Verhandlungen.

Um ihre alles andere als radikale Bedeutung in den staatlichen Entscheidungsprozessen fürchtend, sind die CGT und andere Gewerkschaften in den Aktionsformen für ihre Verhältnisse weit gegangen. Sie haben wochenlange Streiks und Blockaden organisiert und haben sich bei Räumungen jeweils verschoben, um neue empfindliche Einrichtungen zu blockieren.

Nur hat sich eben die Regierung Sarkozy dadurch nicht beeindrucken lassen und ist hart geblieben. Spätestens Ende Oktober hat sich abgezeichnet, dass es mehr braucht als einzelne Aktionstage. Die Streikenden konnten nicht noch lange weitere Lohnausfälle hinnehmen ohne greifbare Resultate. Nach meiner Einschätzung hätte es zur Verteidigung der Renten den unbefristeten General streik gebraucht. Die Bereitschaft dafür war nach der Stimmung auf den Demonstrationen und meinen Gesprächen mit Gewerkschaftsmitgliedern und Unorganisierten zu schliessen, vorhanden; die Wirkung wäre bei den ohnehin bereits behinderten Wirtschaftsabläufen beträchtlich gewesen.

In dieser Situation hat das Gewerkschaftsbündnis jedoch beschlossen, neue Aktionstage auszurufen, einen in den Ferien, den zweiten an einem Samstag, den dritten ohne den Aufruf zum Streik. Einzig die FO (Force Ouvrière), die die Rentenreform stets als ganze zurückgewiesen hat, schlug ausserhalb des Bündnisses einen allerdings auf 24 Stunden befristeten Generalstreik vor.

Keine der grossen Gewerkschaften ist Willens bzw. in der Lage, den klassenkämpferischen Charakter der Auseinandersetzung darzulegen, sondern setzt auf missverständliche Parolen für "soziale Gerechtigkeit" und "alternative Finanzierung" der Renten. Das nährt die Illusion, die Renten liessen sich statt durch weitere Kampfmassnahmen auch 2012 bei den Präsidentschaftswahlen mit dem Stimmzettel wiederherstellen.


Die Regierung Sarkozy konnte anscheinend die Reform weitgehend durchsetzen. Was ist von den Protesten übrig?

Die Bedeutung der sich abzeichnenden Niederlage ist schwer einzuschätzen. Ich persönlich meine, dass eine einzigartige Gelegenheit verpasst worden ist, dem Sozialabbau in Europa im Zuge der Krise erfolgreich und mit Signalwirkung etwas entgegenzusetzen. Es gibt nichts Verheerenderes als einer bürgerlichen Regierung zu zeigen, dass die ArbeiterInnen die Macht hätten, sie zu stoppen, diese Macht dann aber nicht auszuspielen. Die Gewerkschaften werden wohl weiter an Einfluss verlieren, einerseits in den institutionalisierten Staats- und Wirtschaftsgeschäften als willige Verhandlungspartner, andererseits gegenüber den eigenen Mitgliedern. Dieser Gefahr scheinen sich die Gewerkschaften bewusst zu sein: Bei der grossen, ehemals christlichen CFDT (Confédération française democratique du travail), die bei Streikabbrüchen und Anbiederungen ans Patronat stets an vorderster Front zu finden ist, hat sich nach dem Zurückpfeifen der streikenden Mitglieder eine Kasse gefunden, mit dem diese mehr schlecht als recht für die Lohnausfälle entschädigt werden sollen. Während die Aussicht auf eine Streikkasse durchaus mobilisierend wirken kann, handelt es sich beim Auftauchen von Geldern aus dem Nichts offenbar um Beschwichtigungszahlungen für einen vermasselten Kampf an die Mitglieder. Die radikalere FO hat sich in den Wettbewerb um die Verteilung von Trostpflastern eingeklinkt und schüttet Gelder aus, die besser für die Fortsetzung des Widerstands zu verwenden wären.

In Erinnerung wird trotz allem die breite Abstützung der Proteste bleiben. Der französischen Regierung ist es kaum gelungen, verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen. So haben sich die Studierenden und jungen Arbeitenden nie gegen die Pensionierten aufwiegeln lassen. Das Wissen um das eigene Betroffensein der Lohnabhängigen und die Solidarität mit den am schwersten Betroffenen stellen die Grundlage für die enorme Mobilisierung gegen die Rentenreform dar.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend (agj)


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Quelle:
aufbau Nr. 63, Dezember/Januar 2010/11, Seite 5
HerausgeberInnen:
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Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2011