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AUFBAU/264: Sex spielt eine Rolle - Sexualität im Kapitalismus


aufbau Nr. 61, Mai/Juni 2010
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

WIDERSTAND
Sex spielt eine Rolle


PORNOGRAPHIE TEIL II (*) - Viele Theorien untersuchen Sexualität und Gesellschaft im Zusammenhang. Wir stellen zwei Strömungen vor und gehen der schwierigen Frage nach, welche Rolle Sexualität im Kapitalismus spielt.


(az) Sex ist ein Grundbedürfnis. Um dieses Bedürfnis zu erfassen, müssen wir von Gegenständlichem ausgehen, beim Mensch vielleicht von der Materie aus Fleisch und Blut. Wie sich Menschen aber verhalten, wie sie ihr Leben gestalten und wie sie Sex haben, ist gesellschaftlich bedingt. Wenn wir die gesellschaftliche Dimension betonen, bedeutet das demnach nicht, dass wir die materielle Dimension leugnen wollen, im Gegenteil. Vielmehr geht es uns darum, gegen einen bürgerlichen Gemeinplatz zu kämpfen, der das "Natürliche" als billige Erklärung heranzieht: Diese "Natürlichkeit" beinhaltet zum Beispiel, dass die Geschlechterrollen angeboren sind, dass der Mensch heterosexuell ist, dass die Frau nur einen einzigen Menschen als Liebespartner haben kann, usw. Das Leben des Menschen in einer Klassengesellschaft und seine Sozialisation spielt bei der Argumentation mit dem "Natürlichen" eine Nebenrolle.

Die Gesellschaft wird gestaltet durch die Menschen, die auf eine bestimmte Art produzieren und sich reproduzieren. In der kapitalistischen Gesellschaft wird gesellschaftlich produziert und privat angeeignet. Die Reproduktion, die ganze Arbeit im Sorge und Pflegebereich, wird privat und unbezahlt geleistet: Es besteht der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Reproduktion. Was hat dies mit Sex zu tun? Der Produktionsweise liegen Arbeitsteilungen zugrunde. Arbeitsteilungen zwischen Kopf und Handarbeit, zwischen Nationalitäten, zwischen Frau und Mann, usw. Diese Arbeitsteilungen wirken sich auf alle Bereiche des Zusammenlebens der Menschen aus. So auch auf Sex und seine Darstellungen. An dieser Stelle wollen wir zwei theoretische Vorschläge über die Rolle von Sex im Kapitalismus anschneiden.


Sex muss befreit werden

Der erste Vorschlag kommt um 1900 von Sigmund Freud und wurde von Wilhelm Reich in den 30er Jahren aufgegriffen. Wir können deren ausgefeilten Theorien hier nicht vertieft darstellen. Aber einen Punkt daraus wollen wir aufgreifen: Die Kernaussage, dass Sexualität unterdrückt wird. Sex erscheint als etwas Natürliches, das durch den Kapitalismus reglementiert, verboten und zerstört wird. Sie geht davon aus, dass jeder Mensch ein starkes sexuelles Begehren hat und Sex eine Hauptenergiequelle in unserem Leben ist. Nach Freud werden neurotische Entwicklungen (die er als Arzt behandelte) durch bestimmte Verarbeitungsformen der Sexualität verursacht, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Wird sie also in Taten unterdrückt und in Worten tabuisiert, dann hat das Folgen auf die Entwicklung des Menschen. Reich hat - in umstrittener Weise - einen Punkt von Freud weitergeführt und die unterdrückte Sexualität mit dem Kapitalismus zusammen untersucht. Die Befreiung der Sexualität hat in der Theorie von Reich eine Kampfkraft gegen den Kapitalismus. Freud ging von den bürgerlichen patriarchalen Verhältnissen seiner Zeit aus, und er stellte in seiner Theorie diese Verhältnisse auch nicht in Frage. Damit lieferte er ein genaues Bild bürgerlicher Ideologie, bot aber nichts, um diese aufzubrechen. Zugespitzt gesagt: Der "Mensch" war bei ihm der Mann. Auch für Reich waren deshalb die Wege der Befreiung für Frau und Mann gleich. Welche Bedeutung diese Theorie auf die Bewegungen hatte, vor allem wie die aufkommende Frauenbewegung in den 70er Jahren diese Vorstellungen kritisierte, erfahren wir im dritten Teil dieser Serie.


Vom Sex müssen wir uns befreien

Als zweiten theoretischen Vorschlag setzen wir uns mit Michel Foucaults Entwürfen aus den 70er Jahren auseinander, die auch in heutigen Gesellschaftstheorien eine grosse Rolle spielen. Die Frage, die Foucault in allen seinen Schriften umtreibt, ist jene der Macht und weshalb die Macht so problemlos ausgeübt werden kann. Ihn interessieren Herrschaftsmechanismen. In ausführlichen Analysen legt er dar, dass der moderne, vom Kapitalismus erzogene Mensch sich Normen einverleibt hat, die ihn anleiten werden, in vorauseilendem Gehorsam das "Richtige" zu denken und zu fühlen. Auch die verbreitete Sicht auf die Sexualität ist so eine Norm, mit der sich die Menschen beherrschbar machen. Sexualität ist bei Foucault darum ein Herrschaftsinstrument. Foucault widerspricht der Vorstellung von Freud oder Reich, dass Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft einfach unterdrückt werde. Vielmehr bedeutet gerade die verklemmte Sexualmoral, der puritanische Mief, eine bestimmt Art, wie Sexualität überhaupt erstproduziert wird. Sexualität wird im bürgerlichen Spiessertum nicht einfach totgeschwiegen, sondern geradezu besessen immer wieder neu zum Thema gemacht. Die Forderung von Reich und Freud nach der "Befreiung der Sexualität", kehrt sich bei Foucault, in "Befreiung von Sexualität".


Macht gegen Herrschaft

Bei Foucault wirkt die Macht nicht mehr von oben nach unten mit Autorität und Strafe, sondern über Werte und Normen, von innen nach aussen und in die Gegenrichtung. Lenin nannte das den "geistigen Stock", der die Menschen zur "freiwilligen" Unterwerfung bringt: eine Freiwilligkeit natürlich, die vor dem Hintergrund geschieht, dass man gar keine andere Wahl hat. Trotzdem ist nach Foucault jedes Individuum selbstverantwortlich in seiner Unterwerfung. Diese Betrachtungsweise setzt Subjekte voraus, die aktiv sich selbst unterwerfen, indem sie die herrschenden Werte und Normen reproduzieren. Herrschaft kann man als die Möglichkeit verstehen, jemanden - eine Person, aber auch eine Klasse - zum Gehorsam zu zwingen. Versteht man es so, kann sich Macht als Gegenmacht gegen Herrschaft richten. Das heisst auch, dass die Beherrschten sich aktiv gegen die Herrschaft einer Klasse über die andere richten und sich als unterdrückte Klasse Macht aneignen können. Foucault jedoch setzt Macht gleich Herrschaft. Der Unterschied, dass Herrschaft ein Verhältnis beschreibt und Macht sich gegen Herrschaft richten kann, interessiert Foucault nicht. Aber wäre nicht gerade das Voraussetzung für den einzelnen proletarischen Menschen, sich gegen die Bedingungen, die ihn unterdrücken zu wehren, um eine andere Perspektive entwickeln zu können?


Liberaler Markt und bürgerliche Geschlechterordnung

Am Beispiel der Ehe und Kleinfamilie als Geschlechternorm lässt sich gut aufzeigen, wie der Kapitalismus sich neue, emanzipierte Formen zu eigen macht. Wenn in den 70er Jahren die Angst vor der Zerstörung der Kleinfamilie und der Ehe gross war, werden heute andere Formen des familiären Zusammenlebens akzeptiert. Der Kern, die private und unbezahlte Reproduktionsarbeit, muss geleistet werden, egal ob in traditioneller Kleinfamilie oder in der Patchworkfamilie, Single oder in der gleichgeschlechtlichen Ehe. In diesen neuen Formen könnte Befreiungspotenzial liegen. Das dachten damals auch Millionen Frauen auf der ganzen Welt, als sie gegen das Gefängnis der Ehe auf die Strasse gingen. Jedoch bedeutet die Befreiung von alten Fesseln, auch neue Fesseln. Und gleichzeitig sind die alten Fesseln noch vorhanden, denn die Frage der Reproduktion ist immer noch eine Frauenfrage. Früher: lebenslang verheiratete Hausfrau plus Erwerbsarbeit. Heute: Alleinerziehend, Single, Selbstmanagerin in der bezahlten und unbezahlten Arbeit.


Und die Pornographie?

Durch die wachsende Anerkennung feministischer Kritik, eine Ausweitung des Marktes auf Paare und dem erschwinglichen Videogerät zu Hause, wurde Pornographie in den 70er Jahren gesellschaftsfähig. Heute wie auch schon damals zieht sich der Staat als reglementierende Instanz immer weiter zurück. Das Verbieten wird verboten. Durch das Medium Internet ist ein Verbot auch nicht mehr möglich. Der Markt ist riesig und unüberschaubar. 1998 hat "The Economist" den weltweiten Handel mit Pornographie auf rund 20 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr geschätzt. 2006 gab es durch das Internet einen grossen Einbruch. DVD-Verkäufe sind um 30% gefallen. Die Konkurrenz im Internet ist gross. Die Pornoanbieter profitieren von den Möglichkeiten und fühlen sich gleichzeitig bedroht von den Mitmachplattformen wie Xtube oder Youporn, auf denen private Filme hochgeladen werden. Die Jagd nach neuen Märkten ist stetig. Pornographie ist wie alles andere im Kapitalismus in erster Linie eine Ware, die abgesetzt werden muss. Frauen als Produzentinnen und Konsumentinnen sind deshalb eine logische Folge der Geschichte des Pornos. Aber weil dabei Pornographie ein Genre ist, das Sexualität thematisiert, lässt sich fragen, ob es Räume zur Abbildung und Entfaltung von verschiedenen sexuellen Praxisformen eröffnen könnte. Um diese Frage geht es im nächsten Teil dieser Serie.


Der nebenstehende Artikel "Sex spielt eine Rolle" ist der zweite in einer dreiteiligen Serie. Er behandelt brennende Fragen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist nicht leicht, eine marxistische, revolutionäre Position dazu zu entwickeln. Dem entsprechend betrachten wir die darin geäusserten Gedanken auch nur als tastende Versuche auf dieses Ziel hin. Die Auseinandersetzungen mit Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Michel Foucault müssten vertiefter geführt werden, was den Rahmen einzelner Zeitungsartikel sprengt. Längst nicht alle Mitglieder unserer Organisation teilen den methodischen Zugang, wie er in diesem Artikel versucht wird. So findet eine andere Position, dass es für MarxistInnen beispielsweise keine "Sünde" ist, eine "Ursprünglichkeit", eine "Natur des Menschen" in den Blick zu nehmen. Es gehört zur Natur des Menschen in jeder Gesellschaft, dass er sich die Natur durch Arbeit aneignen muss, auch im Kommunismus. Es gehört zu seiner Natur, dass er auf irgendeine Weise triebhaft ist und dass die Sexualität auch der Fortpflanzung dient, sonst würde die Menschheit aussterben. Das heisst nicht, dass wir nicht-heterosexuelle Orientierungen als solche für abartig oder krank halten würden. Eine unserer Parolen in diesem Zusammenhang heisst "Gegen Rassismus und Homophobie". Aber es heisst, dass gesellschaftliche Verhältnisse und Widersprüche die "Natur des Menschen", sein Erleben und Verhalten, formen, prägen und vor allem auch "deformieren" und in den Dienst der Ausbeutung und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise stellen. Wie sie das tun und welche "Waffen" wir dagegen haben, bleibt einstweilen umstritten.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil 1 dieses Artikels siehe unter:
SCHATTENBLICK -> INFOPOOL -> MEDIEN -> ALTERNATIV-PRESSE
AUFBAU/256: Frauenbewegung zwischen PorNo und Anti-Zensur


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Redaktion

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Quelle:
aufbau Nr. 61, Mai/Juni 2010, S. 11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2010