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AUFBAU/212: Wer nicht spurt, muß sich wehren


aufbau Nr. 56, März/April 2009
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Wer nicht spurt, muss sich wehren


PREKARISIERUNG - In der Krise gerät die "normale" Ausbeutung unter Druck, und prekäre Arbeitsverhältnisse nehmen zu. Die Gewerkschaften fordern einen GAV für TemporärarbeiterInnen. Damit wird die Spaltung der ArbeiterInnen vertraglich verbrieft.


(az) "Prekarisierung" ist ein Ausdruck, der Arbeitsverhältnisse beschreibt, die immer mehr gehäuft auftreten: Vertragliche Sicherheiten werden unterlaufen, Stress und systematische Überwachung am Arbeitsplatz geraten zum Alltag, das Einkommen garantiert kein Auskommen mehr. Wörtlich meint "prekär" unsicher, verletzlich, ungeschützt. Der Ausdruck wird meist formal definiert, als das Unterschreiten einer gewissen Norm der Arbeitsbedingungen. "Prekarisierung" bedeutet, um die Ausbeutung der Arbeitskraft zu verstärken, eine Zersetzung von Arbeit als gesellschaftlicher Tätigkeit. Der flexibilisierten ArbeiterIn soll klargemacht werden: Keine Chance, sieh zu wehren.

Ein Beobachter hat diese Entwicklung so umrissen: Mit solchen Neuerungen wird eine "allseitige Beweglichkeit" abverlangt und "alle Ruhe, Festigkeit, Sicherheit der Lebenslagen" in einem Prozess aufgehoben, der die ArbeiterIn "selbst überflüssig zu machen droht." Das passt auf die Situation von Temporär-Jobbern, Akkord-, aber auch von FacharbeiterInnen, deren Abteilung in den Blick eines Mc-Kinsey-Rationalisierers geraten ist. Nur: Geschrieben wurde das nicht für die Situation von Call-Center-Angestellten, sondern vor knapp hundertfünfzig Jahren, von Karl Marx im Kapital (mit Bezug auf technische Arbeitsorganisation) [1). "Prekarisierung" ist keine neue Entwicklung, sondern über weite Strecken der Normalfall proletarischen Daseins.


Über das Schlagwort hinaus

Taugt ein solcher Ausdruck für eine militante Untersuchung? Soll er - wie es bürgerliche WissenschaftlerInnen tun, von denen manche gern und viel vom "Prekariat" sprechen - einfach das unschickliche "Proletariat" ersetzen? Oder klingt der Begriff schlicht hübscher, als jener soziale Rassismus, der in Ausdrücken wie "Neuer Unterschicht" mitschwingt? Darum kann es offensichtlich nicht gehen - sondern darum, Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Uns interessiert, Veränderungen in der Arbeitswelt, die mit dem Krisenangriff der Bosse sieh verschärfen werden, einordnen und in Bedingungen für offensive Kämpfe wenden zu können. Dazu stützt sieh dieser Artikel hier im Wesentlichen auf die Diskussion der "Arbeitsgruppe Prekarisierung" am Treffen für eine kämpferische ArbeiterInnenbewegung in Rodi, und andererseits auf die Beiträge von Mario Candeias von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Prekarisierung ist ein Prozess, bei dem sich die Klasse neu zusammensetzt. Aber auf der Oberfläche erscheint dieser Prozess als eine Zersplitterung. Offizielle Erhebungen haben alles Interesse, einen solchen zersplitterten Eindruck zu erwecken. Man kennt das etwa von den Arbeitslosenzahlen: Die statistische Ausdifferenzierung in verschiedenste Betroffenengruppen soll die Grösse des Angriffs auf die Klasse verschleiern.

Die "normale" Situation, welche die Prekarisierung unterschreitet, ist jene eines männlichen Facharbeiters im grossen Wirtschafsaufschwung zur Nachkriegszeit. Dieses "Goldene Zeitalter" des integrierenden Kapitalismus ist seit über dreissig Jahren vorbei. Es war ein Mythos - der aber bis heute wirksam ist. Für proletarische Frauen kann es erstens nicht um eine Rückkehr zum Familienmodell des männlichen Alleinernährers gehen. Sondern um eine gleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit auf die Geschlechter. Insofern hat auf eine verrückte Weise die Flexibilisierung der Lohnarbeit wichtige Forderungen der Frauenbewegung in neue Ausbeutungsverhältnisse verdreht. Dennoch: Nicht nur mittelständische hochqualifizierte Angestellte begrüssen das Ende der Tretmühle eines "9-bis-5"-Jobs.

Das Problem ist, dass die Flexibilisierung der Arbeitszeiten unter den heutigen Bedingungen eine Verschlechterung bedeutet - weil sie nicht mit mehr, sondern mit viel weniger Selbstbestimmung einhergeht. Wenn bei Aldi alle VerkäuferInnen zu 50 Prozent eingestellt sind, dann stets mit dem Gebot, Überstunden zumachen. Dazu kommt zweitens, dass Frauenberufe die am meisten prekarisierten Jobs sind. Doppelt so viele Frauen als Männer leben in prekären Verhältnissen. Die gewichtigste Spaltung des Proletariats vollzieht sich immer wieder neu entlang der Geschlechtergrenzen. Drittens sollen die Folgen des Krisenangriffs zu wesentlichen Teilen auf die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen abgewälzt werden.


Über den einzelnen Betrieb hinaus

Die Gewerkschaften reagieren auf diese Entwicklungen hilflos. Vergangenes Jahr haben sie für einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) der Temporär-ArbeiterInnen verhandelt. Den Mindestlohn von 3000 Franken verkaufen die Gewerkschaften dabei als Erfolg. Im Moment liegt das Vertragswerk beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Ein GAV für Temporäre anerkennt die übelsten Sklaventreiber als "Sozialpartner". Damit werden prekäre Verhältnisse vertraglich festgeschrieben, statt bekämpft. Im selben Betrieb könnten dann für zwei Leute, die exakt dieselbe Arbeit verrichten, zwei verschiedene GAVs gelten. Das zeigt einmal mehr, was für eine miserable Arbeitsgesetzgebung in der Schweiz herrscht, und fast alle Standards über GAVs geregelt werden müssen.

Dabei geht es auch anders. "Während des Streiks selbst gab es keine Unterschiede zwischen Temporären und Festangestellten", hat ein Kollege von der Officine der SBB Cargo festgestellt. Erst nach dem Streik sei wieder der Druck gestiegen. Kämpfend können Spaltungen überwunden werden - ganz praktisch, indem beispielsweise an alle dasselbe Streikgeld ausbezahlt wird. Kämpfend lassen sich auch gemeinsame Interessenslagen finden. Denn bei aller Zersplitterung bewirkt Prekarisierung dennoch eine Verallgemeinerung - nicht Vereinheitlichung - proletarischer Arbeitssituationen. Gerade in der letzten Zeit sind verstärkt die Bedingungen der Arbeit umkämpft. Die Verteidigung von Würde und Sinnhaftigkeit gegen Hetze und Rationalisierung sind allgemein gültige Leitlinien. Damit wird etwas formuliert, was über die einzelnen Forderungen eines Konflikts hinausweist. So gestalten sich die Arbeitskämpfe von Anfang an als Kämpfe, welche die Grenze des einzelnen Betriebs sprengen, und Chancen für politische Interventionen auftun.


Anmerkung:
[1] Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1971 (=MEW 23), S. 511


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur)


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Quelle:
aufbau Nr. 56, März/April 2009, S. 7
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Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2009