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ARBEITERSTIMME/352: Oktoberrevolution und Sowjetunion


Arbeiterstimme Nr. 196 - Sommer 2017
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Oktoberrevolution und Sowjetunion
Versuch einer Einschätzung


Diese Ausführungen schließen an den Beitrag "Überlegungen zur Revolution" aus der Arsti Nr. 194 an. Der Autor bringt darin erst einmal ein längeres Zitat aus der "Kritik der politischen Ökonomie" von Karl Marx. Zu diesem Zitat merkt er an, dass es "eine so komplexe Inhaltlichkeit enthält, um darüber lange und intensiv zu diskutieren". Er befasst sich dann aber, erklärtermaßen, hauptsächlich mit einem Aspekt, nämlich den grundsätzlichen Unterschieden zwischen einer bürgerlichen und einer sozialistischen Revolution. Diesen Ausführungen soll hier nichts weiter hinzugefügt werden. Wenn man aber die ganz allgemeine Sicht auf jede sozialistische Revolution verlässt und speziell das Beispiel Oktoberrevolution betrachtet, drängen sich noch weitere, wesentliche Punkte auf, die bereits im Marx-Zitat anklingen, aber nicht ausführlich diskutiert werden.

Revolution in einem zurückgebliebenen Land

Das zaristische Russland vor der Revolution war zwar kapitalistisch, aber im Vergleich zu den am weitesten entwickelten kapitalistischen Zentren zurückgeblieben. Moderne Industrien waren z.B. nur in einigen wenigen Städten vorhanden. Nach der Revolution konnte zum Aufbau des Sozialismus damit nicht einfach auf eine bereits im Kapitalismus erreichte Produktivkraftentwicklung zurückgegriffen werden, denn diese war in Russland im Vergleich zum Weltmaßstab nur schwach. Im Fall Russlands mussten Schritte, die anderswo im Zuge einer kapitalistischen Entwicklung stattfanden, nachholend durchlaufen werden. Der Rückstand musste aufgeholt werden. Die Industrialisierung des Landes musste weitgehend erst noch geleistet werden.

Selbstverständlich bezog sich die Rückständigkeit Russlands nicht allein auf Produktivkraftentwicklung und Industrialisierung. Alle gesellschaftlichen Bereiche waren betroffen. 80% der Bevölkerung waren Bauern, die meist in elenden Verhältnissen lebten und Analphabeten waren. Rückständig waren auch Rechtsstaatlichkeit, demokratische Rechte, demokratische Praxis und vieles mehr. Wegen der Kleinheit des industriellen Sektors war auch die Arbeiterklasse, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, relativ klein. Ihr Bildungsstand war verglichen mit den Verhältnissen in Westeuropa eher schlecht. Damit war die Arbeiterklasse wenig für die neuen Aufgaben nach der Revolution vorbereitet, nämlich eine leitende Position in der Gesellschaft einzunehmen.

Neben diesen ungünstigen Bedingungen, die in der Geschichte wurzeln, war die entstehende Sowjetunion noch weiteren Belastungen ausgesetzt. Durch den Bürgerkrieg und die ausländischen Interventionen kam es zu großen Zerstörungen und zu großen Verlusten, gerade auch bei den bewusstesten Teilen der Arbeiterkasse. Die allgemeine Bedrohung der SU bleib auch nach Beendigung des Bürgerkrieges bestehen und forderte erhebliche Anstrengungen für Rüstung und Verteidigung.

Es liegt auf der Hand, dass die oben sehr kurz skizzierten ungünstigen Bedingungen noch weiter verschärft wurden, weil die revolutionären Umwälzungen auf Russland beschränkt blieben. Wären ein oder gar mehrere hochentwickelte kapitalistische Länder mit einbezogen gewesen, wären die genannten Zwänge zwar nicht verschwunden, aber deutlich abgemildert werden. Damit kommen wir zum zweiten Punkt dieser Überlegungen.

Endkrise des Kapitalismus?

Es gibt im Marx-Zitat noch eine andere Stelle, die zum Nachdenken anregt: "Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um: es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein."

Hatte der Kapitalismus 1917 diese "gewisse Entwicklungsstufe" erreicht? Aus heutiger Sicht wird man diese Frage verneinen.

Die Zeitgenossen sahen das anders. Die Vorstellung einer relativ nahen Endkrise des Kapitalismus war weit verbreitet. Es gab zu dieser Frage unter Marxisten heftige Debatten. Luxemburg, Lenin, Kautsky, Hilferding und später Varga haben darüber geschrieben. Auch wenn in diesen Debatten kein Konsens erreicht und damit keine allgemein akzeptierte theoretische Einschätzung der Zukunft des Kapitalismus erarbeitet wurde, gemeinsam war vielen Marxisten die Einschätzung eines unvermeidlichen und baldigen Niedergangs des Kapitalismus. Diese Meinung gab es nicht nur bei theoretisch Geschulten, sondern sie war weit verbreitet, durchaus auch beim reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung. Viele hatten die Erwartung, durch die Oktoberrevolution in eine, vielleicht sogar die entscheidende Phase im Kampf um den Sozialismus eingetreten zu sein.

Und diese Sicht wurde zunächst durch die Ereignisse unterstützt. Das imperialistische System befand sich im I. Weltkrieg in einer fundamentalen Krise. Bis etwa 1923/24 gab es in vielen Ländern heftige Klassenkämpfe. Auch wenn danach erkennbar war, dass es vorerst keine weitere sozialistische Revolution mehr geben würde, kam es mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 zu einer weiteren schweren und weltweiten Erschütterung des kapitalistischen Systems.

Allerdings erlebte der Kapitalismus dann nach dem II. Weltkrieg eine starke, dynamische und lang andauernde Aufschwungphase, die historisch einmalig war. Der Aufschwung ermöglichte es Ökonomisch und die Systemkonkurrenz sorgte politisch dafür, dass die herrschenden Klassen zu erheblichen Zugeständnissen im Bezug auf Verbesserungen der Lage der arbeitenden Schichten bereit waren. Durch diese Erfahrung änderten sich die Wahrnehmung des und die Erwartungen an den Kapitalismus in breiten Bevölkerungsschichten wieder grundsätzlich (zumindest in den führenden kapitalistischen Ländern). Der Kapitalismus war auch in der Lage, neue Technologien schnell und effizient einzusetzen und konnte damit die Messlatte für den System-Vergleich wieder höher legen. Das (scheinbare) Einholen des Kapitalismus durch die SU und das schon angekündigte Überholen wurde wieder zunichte gemacht.

Es ist zu betonen, dass diese Entwicklung aus der Sicht der Zeitgenossen der Oktoberrevolution nicht erkennbar war. Die weitere Entwicklung des Kapitalismus als Weltsystem in den nächsten 100 Jahren war 1917 (und auch1924 oder 1930 oder 1945) realistischerweise so nicht vorhersehbar. Aber wir kennen heute diese Tatsachen und müssen dieses Wissen auch für unsere Analysen nutzen. Es geht also nicht um Besserwisserei gegenüber den Revolutionären von 1917, sondern um die Analyse der Gegebenheiten auf dem heutigen Stand des Wissens.

Die Oktoberrevolution war also nicht das Fanal der beginnenden Endauseinandersetzung mit dem Kapitalismus. Das zaristische Russland war zwar das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Länder, das als erstes zerbrochen ist, aber der Impuls der Revolution konnte sich nicht fortsetzen.

Statt zu sozialistischen Revolutionen kam es in fast allen entwickelten kapitalistischen Ländern zu einer Spaltung der Arbeiterbewegung in Reformisten und Revolutionäre, Sozialdemokraten und Kommunisten. (In manchen Ländern waren die Verhältnisse nochmals anders, z.B. gab es in den USA weder eine typische Sozialdemokratie noch eine starke Kommunistische Partei. In wiederum anderen Ländern, z.B. Spanien, spielten auch Anarchisten und Anarchosyndikalisten eine wichtige Rolle.) Meistens waren die im Prinzip sozialdemokratisch ausgerichteten Parteien die zahlenmäßig stärkeren und auch in der Arbeiterbewegung und Gewerkschaften einflussreicheren. Man kommt nicht umhin, für diesen "Erfolg" der sozialdemokratischen, opportunistischen Richtung auch eine objektive Ursache anzunehmen. Man kann dies nicht ausschließlich mit Verrat oder Fehlern erklären. Selbstverständlich gibt es keine Rechtfertigung für Noske und Konsorten. Auch auf der Seite der Kommunisten wurden gravierende Fehler gemacht, z.B. ultralinke Politik wie die Sozialfaschismus-These oder die RGO. Insbesondere ist festzuhalten, dass die kommunistische Bewegung als Ganzes es nicht geschafft hat, eine überzeugende Strategie gegen die Spaltung der Arbeiterbewegung zu entwickeln, z.B. mit einer konsequenten Einheitsfrontpolitik.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich in keinem hochentwickelten kapitalistischen Land eine sozialistische Umwälzung durchsetzen konnte. Trotz aller Krisen und Erschütterungen, das kapitalistische System hat sich bisher behaupten können.

Es hat nach 1917 schon noch Revolutionen mit sozialistischem, kommunistischem Anspruch gegeben, insbesondere die chinesische Revolution, aber auch Vietnam und Kuba wären zu nennen. Alle fanden sie in peripheren, unterentwickelten Ländern statt. Folglich hatten und haben sie auch alle, ähnlich wie die SU, mit sehr schwierigen Startbedingungen und den Problemen einer nachholenden Entwicklung zu kämpfen. (Eine differenzierte und gründliche Einschätzung dieser Länder kann hier nicht geleistet werden.)

Folgen für die SU

Wie schon festgestellt wurde, konnte nach der Eroberung der politischen Macht nicht einfach die Umwälzung eines bereits voll entwickelten Produktionsapparats in einen sozialistischen auf der Tagesordnung stehen. Da stand zuerst die Industrialisierung, das Nachholen eines großen Teils der ursprünglichen Akkumulation.

Das bedeutete aber, dass die Mittel, sprich Investitionen, für die nachholende Akkumulation von den Arbeitern und Bauern aufgebracht werden mussten. Mussten, weil sonst keine Quellen dafür zur Verfügung standen. Mittel, die investiert werden, können aber nicht konsumiert werden. Das trifft in noch stärkerem Maße auch für den Teil der Produktion zu, der für Rüstung und Verteidigung verwendet wird. Die Folge war, dass die Konsumtionsmöglichkeiten der Arbeiter und Bauern auf viele Jahre hin nicht über ein Minimum (das in der zaristischen Zeit definiert wurde) angehoben wurden. Ein erheblicher Anteil des Ertrags der Arbeit wurde für Investitionen, d.h. den forcierten Ausbau der Schwerindustrie, aufgewendet und kam damit erst den kommenden Generationen, der Zukunft zu Gute. Man kann durchaus davon sprechen, dass das im gewissen Sinn eine Weiterführung der Ausbeutung der arbeitenden Klassen bedeutete. Dass die Investitionen die Basis für eine bessere Zukunft waren, stellt dabei den günstigen Fall dar. Im weniger günstigen Fall, den es auch gegeben hat, profitierten bürokratischen Schichten und deren Konsum- und Prestigeprojekte. Oder Ressourcen wurden nutzlos in letztlich unproduktiven und falsch geplanten Vorhaben verbraucht.

Industrialisierung im großen Stil bedeutete, die Arbeiterklasse zahlenmäßig zu vergrößern. Bauern wurden zu Arbeitern und mussten lernen, sich in die Produktionsdisziplin einzufügen und die dafür notwendigen Qualifikationen zu erwerben. Auch das ging nicht ohne Widersprüche und heftige Konflikte vonstatten.

Das Ziel einer möglichst schnellen Industrialisierung bedingte somit einen permanente Verstoß gegen die unmittelbaren Interessen der Werktätigen. Die Folge dieses Widerspruchs war die Herausbildung einer starken und sich immer mehr steigernden staatliche Zwangsgewalt auf der einen Seite, auf der anderen Seite das Abwürgen bzw. Aushöhlen der ursprünglich vorhandenen Ansätze von proletarischer Demokratie. Die Staatsmacht wurde zu einer alles bestimmenden und alles kontrollierenden Maschinerie. Die gesamte Gesellschaft (Produktion und Kultur) wurde zwangsmäßigen Regulierungen unterworfen. Selbstbestimmung der Arbeiterklasse gab es nicht mehr. Gewerkschaften konnten nicht unabhängig handeln.

Die Bildung des Staatsapparats war verbunden mit der Herausbildung einer neuen Oberschicht, gemeinhin als Bürokratie bezeichnet, in der sich die Leitungs- und Entscheidungskompetenz konzentrierte. Dabei wurde in erheblichem Ausmaß, mangels entsprechend qualifizierten Personals, auch auf Angehörige des zaristischen Staatsapparats zurückgegriffen. Das war eine schwere Hypothek für die weitere Entwicklung.

Eine Folge der nicht stattgefundenen weiteren Revolutionen war auch die Notwendigkeit der SU, eine staatliche Außenpolitik zu betreiben und dadurch die Beziehungen zu kapitalistischen Staaten, Nachbarn und Großmächten, zu gestalten. Damit verbunden war die Möglichkeit, in Widersprüche zwischen den Interessen der SU als Staat und denen der kommunistischen Bewegung zu geraten. Insbesondere weil die KPdSU die führenden Instanz im Staat war und gleichzeitig ein formal zwar gleichberechtigtes, aber mit großem Prestige und großer Macht ausgestattetes Mitglied von Organisationen wie der Kommunistischen Internationale war.

Der Weg der noch jungen SU war, wie wir gesehen haben, von einer Reihe von Widersprüchen geprägt. Aber es konnten auch bedeutende Erfolge erzielt werden. Vor allem natürlich, dass eine schnelle Industrialisierung gelang und der Abstand zu den entwickelten kapitalistischen Zentren erheblich verkürzt werden konnte.

Die Stärkung der Produktionsbasis leistete auch einen entscheidenden Beitrag zum, wenn auch unter riesigen Opfern, letztlich errungenen Sieg gegen die faschistischen Invasoren. Der Sieg über den Faschismus ist ohne Zweifel eine der wichtigsten und bleibenden Leistungen der SU.

Aber auch die Verbreiterung der allgemeinen Bildung, die praktische Beendigung des Massenanalphabetismus, die Qualifikation der stark gewachsenen Arbeiterklasse und die Verbesserung der medizinischen Versorgung für breite Schichten wären hier zu nennen.

Zu den positiven Auswirkungen ist auch zu rechnen, dass allein die Existenz der SU als nicht-kapitalistisches Land anderen Revolutionen, Befreiungsbewegungen und ganz allgemein vielen Akteuren den Spielraum gegenüber den imperialistischen Zentren ausweitete.

Einschätzung und Selbsteinschätzung

Im erwähnten Marx-Zitat ist zu lesen: "Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was er sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr das Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären."

Lenin hat einmal geschrieben: "Wir haben bei uns in Russland alle politischen Voraussetzungen, um den Sozialismus aufzubauen (die politische Macht in den Händen der Arbeiterklasse), aber es fehlen uns die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür; umgekehrt sind in den USA alle wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Sozialismus vorhanden, dafür fehlen dort die politische Voraussetzungen." (zitiert nach Thalheimer S. 44)

Thalheimer bemerkt dazu, dass durch die tatsächliche Entwicklung der SU seit 1917 die Situation folgendermaßen verändert wurde "Sowjetrussland hat sich den wirtschaftlichen Bedingungen für den Sozialismus angenähert, aber es hat sie noch nicht vollständig erreicht. Gleichzeitig hat es sich von den politischen Bedingungen für den Sozialismus entfernt, (...) indem es die sozialistische Demokratie und überhaupt alle sonstigen Ansätze für eine Demokratie der Werktätigen beseitigte, indem es die Staatsmaschine ungeheuer verstärkte und der Masse der Arbeitenden als universelle Zwangsgewalt gegenüberstellte, indem es so die Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung der Masse der Arbeitenden aufhob. So wurden die positiven Bedingungen für die Durchführung des Sozialismus aufgehoben, und nur eine negative Bedingung dafür geschaffen: der Abbau des Klassenunterschiedes zwischen Arbeiter und Kollektivbauer. Die beiden Reihen, die wirtschaftliche und die politische, haben sich also in Russland gegensätzlich entwickelt." (S. 51/52) Thalheimer hat dies 1948 oder kurz davor geschrieben, der Kern der Aussage hat sich aber auch für die weitere Entwicklung bestätigt.

Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, dass der Aufbau des Sozialismus in Russland nicht einigermaßen gradlinig erfolgte. Neben wesentlichen Erfolgen gab es auch Entwicklungen, die neue Hindernisse für das weitere Fortschreiten zum Sozialismus aufgebaut haben. Die Betonung liegt auf neue, also erst in der nachrevolutionären Phase entstandene Hindernisse. Und man muss diese Feststellung noch weiter zuspitzen, denn es handelt sich nicht um irgendwelche mehr oder wenig beiläufig aufgetretene Gegebenheiten. Der staatliche Zwangsapparat war einerseits ein Garant der Erfolge beim Aufbau der SU, gehörte also zum Wesen der SU, andererseits war er bzw. sein Pedant, das Fehlen einer Demokratie, ein Hindernis für weitere Fortschritte in Richtung auf einen reiferen Sozialismus. Der staatliche Überbau, wie er sich in der SU ab den 30er Jahren herausgebildet hat und in der Person Stalins als Alleinherrscher gipfelte, hatte eher Ähnlichkeit mit einer traditionellen Despotie als einer sozialistischen Gesellschaft.

Für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des Sozialismus hätte eigentlich die staatliche Zwangsgewalt wieder erheblich reduziert werden müssen, ein deutlich größerer Grad an Freiwilligkeit wäre erforderlich gewesen und eine Demokratisierung der Gesellschaft. Wir wissen heute, dass (zu) lange nichts dergleichen geschehen ist und als es unter Gorbatschow zugelassen wurde, sehr schnell eine nichtsozialistische Richtung angenommen hat.

Will man das Wesen der SU beschreiben, hat man Schwierigkeiten, einen geeigneten Begriff zu finden. Denn einerseits hatte sie den Kapitalismus überwunden, weil das kapitalistische Eigentum aufgehoben war, andererseits sind erhebliche Defizite und. Abweichungen von den Erwartungen an einen Sozialismus festzustellen. Thalheimer schlug deshalb die Bezeichnung "Anfänge eines Sozialismus" vor (S. 53).

Diese Anfänge waren immer prekär. Nicht nur wegen der materiellen Unterlegenheit im Vergleich zu den führenden kapitalistischen Ländern und der militärischen Bedrohung, sondern auch wegen der inneren Zustände in Staat und kommunistischer Partei (die eigentlich die treibende Kraft sein sollte). Im Verlauf der Geschichte wurde die Bedeutung der inneren Verhältnisse immer wichtiger.

Die unreifen, zurückgebliebenen Verhältnisse und die oben beschriebenen Widersprüche bringen bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich mangelhafte und problematische Folgen hervor. In der Realität waren die Verhältnisse aber nicht nur mangelhaft und problematisch. In Wirklichkeit kam es in der Politik der SU zu massiven Abweichungen von kommunistischen Grundsätzen. Als Beispiele dafür kann man nennen:

  • Den Terror der Säuberungen, insbesondere in den Jahren 1936 bis 1939.
  • Eventuell auch die Art und Weise der Kollektivierung der Landwirtschaft.
  • Außerdem die Nutzung der KI als Instrument der sowjetrussischen Interessen,
  • die Politik der territorialen Ausdehnung im Rahmen des Hitler-Stalin Paktes sowie nach dem II. Weltkrieg und
  • die verhängnisvollen Seiten der Intervention in den spanischen Bürgerkrieg.

Es kann im Rahmen dieser Überlegungen nicht ausführlich zu diesen Punkten Stellung genommen werden. (Dies müsste in speziellen Artikeln geschehen.) Selbstverständlich ist jeder Punkt differenziert zu betrachten, die Einschätzung des Terrors deckt sich nicht notwendigerweise mit der der Kollektivierung etc. Zu den Terrorjahren lässt sich aber auf jeden Fall sagen, dass damit alle Grenzen des eventuell zu Rechtfertigenden überschritten wurden.

Offensichtlich sind die Punkte mit der Person Stalins verbunden. War er die Ursache der Deformationen? Sicherlich kann nicht alles mit der Person Stalins erklärt werden. Aber Stalin war von seiner Persönlichkeit schon jemand, der einerseits die Bedürfnisse der Zeit, die Durchsetzung der staatlichen Planung und Ziele mittels starker zentraler Kontrollsysteme, erfüllen konnte, andererseits durch seine Rücksichtslosigkeit die größten Exzesse mit aktiv verursachte und nicht nur passiv zuließ. Die Feststellung, dass auch Stalin ein Produkt der (miserablen) Verhältnisse war, ist richtig und unter günstigeren Bedingungen hätte sich eine solche Alleinherrschaft vielleicht nicht etablieren können. Aber die Person Stalins löst sich nicht in den Verhältnissen auf. Er und nur er hat bei der schrittweisen Ausschaltung und später bei der Liquidierung und Ermordung seiner potentiellen Konkurrenten und bei der Inszenierung des Massenterrors im Hintergrund die Fäden gezogen. Dabei hat er, wie heute bekannt ist, jeweils die Repressionsschraube angezogen oder gelockert, wie es seinen taktischen Bedürfnissen entsprach.

Auch für eine nicht-kapitalistische Gesellschaft und auch für eine kommunistische Partei und ihre Mitglieder gilt der Satz: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

Welches Bewusstsein wird durch ein Sein bestimmt, das den Stalinschen Terror umfasst und gleichzeitig erhebliche Erfolge bei der Industrialisierung?

Auffallend ist, dass Überlegungen und theoretische Konzepte, die das in der SU Erreichte vorsichtig einschätzten, wie die zitierte Charakterisierung als "Anfänge eines Sozialismus", innerhalb der SU und in der mit ihr eng verbundenen kommunistischen Bewegung praktisch keine Rolle spielten. Im Gegenteil, die gegebenen (aber unreifen, mangelhaften etc.) Verhältnisse wurden oft als vorbildlich hingestellt.

Diese Feststellung ist beileibe kein Nebenaspekt. Denn alle Hindernisse, ererbte oder neu entstandene, die im Zuge einer Weiterentwicklung zum Sozialismus hätten überwunden werden müssen, hätten erst als solche erkannt und benannt werden müssen. Eine ungenügende (Selbst-)Einschätzung bei einer so zentralen Frage wie der, welcher Stand bei der Entwicklung zum Sozialismus bereits erreicht wurde, ist ein erhebliches Manko. Wenn die Einschätzung der Lage nicht angemessen ist, stellt das eine wesentliche Einschränkung der Analysefähigkeit dar. Eine falsche Bezugsbasis wird normalerweise weitere Fehler und falsche Ergebnisse nach sich ziehen.

Ein anderer entscheidender Punkt für die langfristig (ungünstige) Perspektive war die weitgehende Ausschaltung der innerparteilichen Demokratie, also nicht nur der Demokratie in der Gesellschaft, sondern auch innerhalb der kommunistischen Partei. Diese setzte nach Lenins Tod ein und führte bis zur Alleinherrschaft Stalins. Diskussionen und Analyse waren nur noch im Einklang mit der von Stalin aktuell vorgegebenen Linie möglich. Auch nach Stalins Tod und der Entstalinisierungsrede Chruschtschows blieb ein autoritäres Parteiverständnis erhalten. Nicht zuletzt hat mangelnde Offenheit und fehlende innerparteiliche Demokratie die Partei daran gehindert, rechtzeitig und angemessen auf veränderte Bedingungen zu reagieren. Opportunismus und Karrierismus nahmen bei den Kadern überhand.

Wie soll sich eine Initiative von unten entwickeln, wenn über Fehler nicht diskutiert werden kann, wenn der Anspruch erhoben wird, in der Vergangenheit im Prinzip alles richtig gemacht zu haben. Wenn Marxistische Theorie nicht dazu dient, die Lage ergebnisoffen zu analysieren, sondern oft dazu missbraucht wird, nachträglich irgendwelchen Entscheidungen ein entsprechendes Mäntelchen überzuhängen.

Der Mangel an kritischer Selbsteinschätzung ist in Kombination mit der fehlenden (oder verschwundenen) innerparteilichen Demokratie ein Schlüssel für die im Laufe der Geschichte zu beobachtende abnehmende Fähigkeit, aktiv als Kommunisten und nicht nur als Staat SU mit seinen staatlichen Interessen in das Geschehen einzugreifen. Das staatliche Handeln ist bedingt und getrieben durch die Interessen der Stabilisierung der herrschenden bürokratischen Schicht. Diese und der Staat waren zwar in gewisser Weise mit dem Sozialismus verbunden, weil die SU im Gegensatz zu den kapitalistischen Ländern stand. Aber selbstverständlich sind die beiden Interessen nicht gleichzusetzen.

Und nach 1990 hat sich dann auch gezeigt, dass vielen der leitenden Kader in Partei, Staat und Betrieben der Seitenwechsel zum eigenen Vorteil keine Schwierigkeiten bereitete.

Es gibt eine Argumentationslinie, die unter Verweis auf die objektiven Bedingungen betont, dass die Entwicklungen in der SU ein notwendiges Zwischenstadium waren, das man zwar bedauern kann, das aber aufgrund der Verhältnisse unvermeidlich war. Dies nicht anzuerkennen, wäre letztlich eine Projektion von Wünschen auf Verhältnisse, die eben anders sind als wir sie sich uns wünschen. Diese Argumentation hat eine gewisse Berechtigung. Es wäre unrealistisch anzunehmen, dass die ungünstigen Bedingungen in der Realität keine Auswirkungen haben. Es ist auch offensichtlich, dass es häufig Kritik an der SU gab und gibt, die mehr oder weniger unrealistisch, idealistisch oder rein moralisch motiviert ist. Gegen eine solche Kritik ist der Hinweis auf die Zwänge der Bedingungen berechtigt und sinnvoll.

Es besteht bei einer solcher Argumentation aber die Gefahr, das Reale mit (angeblichen) historischen Gesetzmäßigkeiten zu rechtfertigen, nur weil es real ist. Die Argumentation bleibt in einem Zirkelschluss gefangen. Das Reale war notwendig und unvermeidlich, weil es sich realisiert hat. Damit werden potentielle Alternativen und (vermeidbare) Fehler aus der Erörterung verdrängt oder ausgeschlossen.

Die Befürworter der Unvermeidlichkeit verkennen außerdem den häufig erheblichen, selbst-destruktiven Anteil der zur Debatte stehenden Politik. Damit ist gemeint, dass die angeblich notwendigen Maßnahmen letztlich keine Probleme lösten und nicht, auch nicht langfristig, den Aufbau des Sozialismus förderten, sondern in Wirklichkeit die Grundlage für weitere Probleme schufen. Sie waren dann nicht notwendig im wortwörtlichen Sinne, indem sie die Not zum besseren wendeten, sondern trugen zu einer weiteren Verstrickung in die Misere bei.

War die Oktoberrevolution deshalb ein strategischer Fehler? Die Frage ist falsch gestellt. Die Geschichte ist grundsätzlich offen, weder war 1917 die zukünftige Entwicklung in Russland noch der Ausgang der Revolution in Deutschland und anderswo eindeutig festgelegt. Wir können erkennen, dass die Ereignisse, die dann wirklich eingetreten sind, auch objektive Grundlagen hatten und damit eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Aber eben nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit und keine Vorbestimmtheit und kein festgelegtes Ergebnis.

Auch wenn jeder naive Anspruch auf eine nachträgliche "Korrektur", im Sinne von "wenn damals eine andere Entscheidung getroffen worden wäre, wäre alles besser verlaufen", abzulehnen ist, sollte dennoch daran festgehalten werden, Fehler Fehler, falsche Politik falsche Politik und Verbrechen Verbrechen zu nennen. Natürlich begibt man sich dadurch in ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Linien der Argumentation. Einerseits ist das Herausarbeiten von objektiven Gegebenheiten, Zwängen etc., die selbstverständlich den Spielraum der Handelnden wesentlich einschränkten, nötig und zum Verständnis der Geschichte unverzichtbar. Andererseits gilt es jeden Anschein eines starren Determinismus zu vermeiden. Es geht darum, historische Ereignisse und Gegebenheiten zu erklären und Zusammenhänge aufzuzeigen. Was aber nicht notwendigerweise heißt, die Dinge zu rechtfertigen und auch nicht den Gang der Geschichte für alternativlos zu halten.

Kritik bezogen auf historische Ereignisse kann nur auf einem relativ abstrakten Niveau erfolgen. Wir können die Bedingungen analysieren und aufgetretene Widersprüche benennen. Wir können die Veränderungen der politischen Linie über die Zeit verfolgen und auf das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit hinweisen. Was wir auf keinen Fall zulassen dürfen, ist eine Beschönigung der Wirklichkeit oder ein Verdrängen von unangenehmen Wahrheiten. Alles Verdrängte wird irgendwann wieder aufbrechen und sich entsprechend negativ bemerkbar machen, mit entsprechend schädlichen Folgen für die weitere Entwicklung der sozialistischen Bewegung. Es ist nicht unsere Aufgabe, nachträglich zu entscheiden, ob zum Zeitpunkt X der Weg A oder B besser gewesen wäre. Denn die Geschichte hat sich ereignet, es gibt keine Chance, sie noch einmal zu durchlaufen.

Wichtig sind die Schlüsse, die wir für die Zukunft daraus ziehen.

W.


Literatur:

August Thalheimer, Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst, Ein Versuch, München 2008

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 19 - Sommer 2017, Seite 8 bis 14
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2017

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