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ARBEITERSTIMME/301: Absoluter Tiefpunkt im Drama der Moderne


Arbeiterstimme Nr. 187 - Frühjahr 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Absoluter Tiefpunkt im Drama der Moderne
Vor 70 Jahren wurde das KZ Auschwitz befreit

Von Prof. Dr. Gerhard Armanski


Worte sind arme Boten, wenn es um das Großverbrechen des letzten Jahrhunderts geht. Sie mögen dem Entsetzlichen nachklappern. "Sing kein Trauerlied, / entehre die Trauer nicht. / Worte verraten. / Namen verwandeln sich in ihr Gegenteil", schrieb Abraham Sutzkever in seinem Epos über das Wilnaer Ghettto. Salomon Finkelstein, Überlebender von Auschwitz und des finalen Todesmarsches, mißtraut den Erzählungen und hat lange geschwiegen. Reden konnte er nur mit Schicksalsgenossen wie dem Pianisten Wladyslaw Szpilman, dessen Leben Roman Polanski verfilmte. Scham und Ausgeliefertsein überkam ihn gegenüber Fremden. Beides hat er jedoch überwunden, um jungen Menschen von den Geschehnissen zu berichten. Schließlich spricht er auch im niedersächsischen Landtag.

Heute begegnet uns Auschwitz überall, von Oberbayern bis Emsland, in Medien, Debatten und Gedenktagen. Viele KZ-Häftlinge haben von den Niederungen des Menschengeschlechts berichtet, um sie mindestens ansatzweise zu verstehen und der Nachwelt Zeugnis zu geben. Die mörderische Destruktivität weist eine vielfach durchbrochene Grenzlinie zwischen moderner Perfektion und Barbarei auf. Realität und Irrealität überschnitten sich. Über sie zu schreiben, war auch ein Versuch, das Ich zu erhalten, das unter dem Ansturm der Gewalt bis in die Träume hinein zertrümmert wurde - eine (Spät)Form, den nationalsozialistischen Terror zu bewältigen. Vor allem ab 1980 fanden die Schriften ihren Weg zu den Lesern, niedergelegte Einzelerfahrungen, die auch stets Gruppenschicksale widerspiegeln. Ebenfalls das Lesen als Widerstandsform hatte im KZ seinen Platz, wie denn die Künste soweit möglich von etlichen Insassen gepflegt wurden, Protestsignal gegen das Nazi-Herrenmenschentum. "Ist das ein Mensch?" fragte Primo Levi. Wer es (ver)mochte, floh in den einzigen, inneren Raum, der ihnen noch frei war, abgeschnitten vom Leben und sich an Worte wie Treibanker klammernd.

Wir wissen (fast) alles, was es über die KZs zu wissen gibt. Sie sind, mindestens an Gedenktagen, zum Tagesthema geworden. Aber was Verstehen wir wirklich? Die Grundfesten der europäischen Kultur schmelzen im Nazi-Vernichtungswahn dahin. In höchst geraffter Weise zerbricht das Menschentum. Ungeziefer, herrscherliche Uniform, ratlose Angst und der allfällige Tod regieren die Szene. Mit grimmigem Humor skizzieren das sowohl Spiegelmans Maus wie Jakob der Lügner von Jurek Becker. Im Danach tauchen auch Spott und Sarkasmus auf. Wir suchen zu verstehen, dass sich das KZ "nicht nur als psychopathologische Ausnahme, sondern als immerwährende Möglichkeit erwiesen hat." (Ruth Klüger)

Die einschlägige Literatur ist zwischen Singularität und Wiederholbarkeit des Massenverbrechens angesiedelt. Ihre dringliche Botschaft lautet, die beklemmendste Wahrheit des Menschseins und -erleidens ins Auge zu fassen. Paul Celan beschritt diesen Grenzweg im poetischen Bewußtsein, für welches die Schleuse als Übergang zwischen der Lebens- und der Todeszone steht. Die Sprache gräbt im Niemandsreich des Untergangs. "Wohin gings, da's nirgendwohin ging?" Nur widersprechen und Ansprechen sind der Dichtung nach dem Holocaust angemessen, "Gedichte sind wirklichkeitswund." Lausche dem "zweiten Ton" der "Worthöhlen", kreisend um die "Silbe Schmerz

Maschinen jenseits von Moral

Maschinalität grundiert die Rhythmik moderner Gesellschaften. Der im KZ ins Werk gesetzte Terror war tief im Herrschaftscharakter der zivilisatorischen Entwicklung verwurzelt. Ihre "Tendenz, zu einer gigantischen Maschine zu werden, liquidiert schleichend den Menschen auch als verantwortbar zu machenden Urheber seiner Taten." (K. P. Liessmann) Seit Zygmunt Baumans Arbeiten hat sich diese Sicht im Forschen und Nachdenken über den Holocaust eingelagert. Der arbeitsteilig organisierte bürokratisierte Mord wurde von Tätern verrichtet, die Gewissen und Moral von ihrem Tun abgespalten hatten, was sich in der europäischen Mentalitätsgeschichte lange vorbereitete. Die ihm eingeschriebene Macht konnte im Gegenteil zu Gleichgültigkeit oder sadistischen Impulsen führen. Die Lager waren Produkt und Krisensymptom der abendländischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte mit ihrer spezifischen feindlichen Abgrenzung vom Anderen und Fremden, ohne strikt aus ihr herleitbar zu sein. Ihre Achse zielte darauf, der Herrschaft mißliebige Ausgegrenzte in einem Kosmos des Todes zu beseitigen und/oder zu "Verwerten", das Leben und die Freiheit der Häftlinge zu vernichten.

Deutschland hat die zugespitzteste Form dieses Vorgangs hervor gebracht. Aus schwerhändigem Bürokratismus und Militarismus speiste sich ein Herrschaftsprojekt, das in der bürgerlichen Gesellschaft seinesgleichen suchte. So konnte die latente Gewaltbereitschaft des geschurigelten Untertanen in Dienst genommen werden. Im NS-Staat wurde sie gewissermaßen "alltagsreligiös" befestigt und gegen "undeutsche" Außenfeinde gerichtet. "Als Folge der Lage nach 1933 hörten humanistische Werte zunehmend auf, als Referenzrahmen zu dienen." (Pawelczynska) Der gesellschaftliche Gesamtmörder verband die Hierarchien der Beamtenschaft, Wehrmacht, Partei und Industrie. Hermann Langbein, kommunistischer Auschwitz-Überlebender, war bis zum Schluß seines Lebens davon überzeugt, "Unzählige hätten sich nicht anders verhalten als das Gras der Wachmannschaft von Auschwitz, wenn sie dorthin kommandiert worden wären."

Es war der Krieg, der die politische Pathologie des Nationalsozialismus vollends entband, indem er etwa noch vorhandene Hemmungen beseitigte. In ihm erreichte die kapitalistisch-imperialistische Logik ihren menschenfeindlichen Höhepunkt - Wahrzeichen der ihr innewohnenden Tendenzen. Das KZ-Systemwuchs sich zu einem gigantischen Moloch aus, der zahllose Menschen, vor allem Juden und Russen, verschlang. Er war rassistisch unterlegt, zugleich ein Vorhaben militärisch-politischer Expansion und ökonomischer Ausplünderung der besetzten Gebiete. In Tat und Wahrheit wurden diese zu einem riesigen Konzentrationslager, das seinen Charakter absoluter Macht nach außen kehrte. Es konnte auch erst mit dem NS-Zusammenbruch ans Ende kommen. Der fremde Planet zerschellte.

Entzifferbarer Schmerz

Der moralische und praktische Kampf gegen die entartete Gewalt verlangte die basale Entscheidung, zu vegetieren und zu sterben oder ums Überleben zu kämpfen. Den Antrieb dazu "bezogen wir aus dem wahnsinnigen und an uns selbst gestellten Anspruch, bis zum Ende Menschen zu bleiben." (Robert Antelme) Erst das Begreifen der Lagerwelt und die Bildung von Widerstandspunkten ermöglichten das Überleben jenseits Von Willkür und Zufall. Ein wie auch immer minimaler Gegenbereich von Eigenaktivität, Hoffnung und Solidarität konnte ermöglichen, sich zu schützen. Transzendierende und handlungsleitende christliche oder kommunistische Auffassungen wirkten ebenso wie die Künste. Es galt, die allgegenwärtige Todeszone vermittels Flucht in ein Traumreich zu unterlaufen, ohne ihre sehr realen, allfälligen Zeichen zu übersehen - "eine Art kontrollierte Schizophrenie" (W. Unger). Es muß einen nicht wundern, daß das Auftauchen aus dieser Zwangswelt vielen Überlebenden sehr schwer fiel. Miriam Dubi-Gazan hilft solchen in Israel, Erinnerungsbücher zu verfassen und sich des lastenden Drucks der beschwiegenen Vergangenheit zu entledigen.

"Die böse Kunde, was in Auschwitz Menschen aus Menschen zu machen gewagt haben" (P. Levi), drängte nach der Befreiung der letzten tausende geschwächter und sich selbst überlassener Häftlinge durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 gleichwohl rasch und vielfach an die Oberfläche. Dabei ist ihr Zeugnis von Abgründen und Überleben im KZ unersetzliches Moral- und Handlungserbe der Menschheit, selbst wenn es in der unmittelbaren Nachkriegszeit keineswegs stets mit offenen Ohren aufgenommen wurde. Es berichtet von der Hölle auf Erden und warnt vor Exzessen der Entmenschlichung, die (in anderen Formen) nicht ständig und überall gebannt sind, denken wir nur an die letzten Kriege der USA und des Westens oder das Folterlager Guantanamo. Elie Wiesel erzählte bei seiner Erinnerungsrede in Buchenwald von seinem Vater, den er hilflos in Auschwitz sterben lassen mußte. "Kann ich ihm jetzt sagen, dass die Welt ihre Lektion gelernt hat? - Da bin ich mir nicht so sicher, Herr Präsident [Obama]" Es steht nicht der "Quellenwert" der Berichte im Vordergrund, sondern das mit allen Fasern erlebte Grauen an den Grenzen des Sagbaren. Immer wird man sich ihm sowohl hoch emotional wie geistig erkennend nähern. Gedenkinitiativen, die beides ermöglichen, sind daher besonders wert zu schätzen. Sie geben dem Opfergang Gesichter und Einsichten. Dazu gehören Ortstermine, Lesungen und Ausstellungen, aber auch der "Zug der Erinnerung", der Tanz des Auschwitz-Überlebenden Adam Kohn auf dem KZ-Gelände zum Discohit I will survive, (ein anderer kommt nicht über die Vergangenheit hinweg und lebt in bitterer Armut), Schülerprojekte der Spurensuche, mehr oder minder würdige und angemessene Gedenkreden, Straßenbenennungen, Max Mannheimer, einer der letzten Holocaust- Überlebenden mit seinen unermüdlichen Auftritten in Schulen, KZ-Schauspiele und -Opern, Publikationen, Tagungen. Ein Kreuzweg in der katholischen Kirche von Oesede bettet die Passion Jesu ein in die Leidensgeschichte der Naziopfer ...

Die Eumeniden des Aischylos aus dem 5. Jh. V. Chr. thematisieren die Bürde verbrecherischer Vergangenheit. "Wer nicht erfuhr / Ihre fachtbare Last. Der weiß nicht, woher / Ihm Schlag kommt auf Schlag; führt der Vorfahren Schuld/ Und Frevel doch ihn unter ihre Gewalt." Vor zehn Jahren zitierte das Micha Brumlik in seinem Aufsatz "jenseits der Schwelle. Auschwitz im 21. Jahrhundert". Er spricht auch vom Paradox, das Unvorstellbare dennoch darstellen zu wollen und zu sollen. Gleichwohl gibt es mannigfache Versuche dazu, so lange das Gedenken reicht. Sie schicken sich an, die blinde Kette der Geschichte zu durchbrechen. Sofern sie sich nicht in leerem Ritual und formelhaften Bekenntnissen erschöpfen, sind sie allesamt nötig und willkommen. Dann erst ist das Todesreich ansatzweise überwunden.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 187 - Frühjahr 2015, Seite 27 bis 28
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2015

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