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ARBEITERSTIMME/298: "Niemals gegen das Gewissen", Lebenszeugnis und Plädoyer eines Wehrmachtsdeserteurs


Arbeiterstimme Nr. 186 - Winter 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

"Niemals gegen das Gewissen"

Lebenszeugnis und Plädoyer eines Wehrmachtsdeserteurs



Nun ist es doch noch wahr geworden und als kleines gebundenes Büchlein im Herder-Verlag erschienen: der Lebensbericht und das mahnende Zeugnis eines kämpferischen Menschen, Ludwig Baumann, nach eigenem Vermuten der letzte noch lebende Deserteur der ehemaligen deutschen Wehrmacht. Aufgeschrieben von ihm selbst in Co-Autorschaft mit dem Journalisten und Hörfunkmoderator Norbert Joa. Baumann, im Dezember 2014 93 Jahre alt geworden, verbrachte ein langes, von Schicksal, Mühe, Tiefschlägen, aber auch späten "Erfolgen" bestimmtes Menschenleben. Wer dem Menschen Baumann begegnet, ist bald von seinem schlichten, aufrichtigen, warmherzigen Wesen eingenommen und angetan. Sein fast schon biblisches Alter sieht man ihm kaum an, er wirkt aufmerksam, zugänglich, unkompliziert, keineswegs Verbittert oder frustriert. Das hat dem Mann mit dem weichen freundlichen Gesicht sicher so manche Tür geöffnet und Zugänge erleichtert, nicht nur als Handelsvertreter, der der gelernte Maurer zeitweilig im Berufsleben auch war.

Der Name Ludwig Baumann steht hierzulande politisch für ein exemplarisches Bestreben: den zähen und zermürbenden, jahrzehntelangen Kampf um endgültige pauschale Rehabilitierung all jener, die im Zweiten Weltkrieg aus der in grausame Verbrechen und schwere Verstöße gegen Menschlichkeit und Völkerrecht verstrickten Wehrmacht des Naziregimes durch Desertion ausgetreten und geflüchtet sind, also Fahnenflucht begingen, auf die die Todesstrafe stand. Lange galten in der deutschen Bevölkerung Deserteure im Weltkrieg meist als Verräter, Kameradenschweine, Feiglinge, wurden bedroht, geächtet und geringgeschätzt, selten mit Achtung und Respekt bedacht. Auch manche RepräsentantInnen des öffentlichen politischen Lebens der BRD haben sich im Konzert der Missachtung nicht gerade mit Ruhm bekleckert, gaben wie der CDU-Abgeordnete Norbert Geis ihrerseits vehementes Zeugnis ab für eine starre, unbelehrbare Ablehnungs- und Blockadehaltung gegenüber diesen Verfolgten und Opfern des NS-Regimes und seiner gnadenlosen Militärjustiz, die mehr als 20.000 von rund 30.000 zum Tode Verurteilten hinrichten ließ. Etwa 4.000 Desertierte überlebten den Krieg, davon waren 1994 noch um die 400 am Leben. Ludwig Baumann wurde zum wichtigsten Träger, unnachgiebigen Betreiber und zur Symbolfigur des Bestrebens nach Rehabilitierung. Das klingt nach Superlativen, aber trifft das Thema, sein Lebensthema, im Kern.

Man könnte Baumanns eindrückliche und bewegende Schilderungen von Stationen aus seinem Lebensgang auch als Bericht aus einem "beschädigten" Leben auffassen. Beschädigt vor allem durch die Wucht, mit der ihn die Reaktion der Militärmaschinerie mit allen ihren Folgen traf: Todesurteil nach Gefangennahme, monatelanges ungewisses Ausharren müssen in der Todeszelle, kettengefesselt an Händen und Füßen, schließlich doch unverhoffte Begnadigung zu langjährigem Zuchthaus, Überstellung mit Zwischenaufenthalt im emsländischen KZ Esterwegen ins berüchtigte Militärgefängnis von Torgau, Fort Zinna. Von dort Abkommandierung zur "Bewährung" ins Strafbataillon an die russische Front, zum Himmelfahrtskommando in die vordersten Reihen und zur Drecksarbeit, wo viele umkamen. Hitlers menschenverächtliches Unwort, der Soldat kann sterben, der Deserteur müsse sterben, wurde in den "Bewährungsbataillonen" zu letzter grausamer Realität, die als Kanonenfutter und Puffer nur so nacheinander aufgerieben wurden. Und wie zum Hohn noch draufgesattelt die Auflage zur Verbüßung der 12 Jahre Zuchthaus nach Kriegsende! Doch als hätte Baumann in all diesen schlimmen Monaten und Jahren der Zwangslagen eine Art Schutzengel gehabt, überlebte er, anders als sein bester Freund Kurt Oldenburg, mit dem zusammen er in Südwestfrankreich desertiert war, auch diese Phasen der Erniedrigung und Entmenschlichung und kehrte wie viele davon gezeichnet kurz nach Kriegsende nach Hause ins einst vertraute Hamburg zurück, wo nichts mehr war wie zuvor.

Ob jene, die Ludwig Baumann bis jüngst noch immer wieder anonyme Droh- und übelste Schmähbriefe an seine private Hausadresse schickten, von diesem Hintergrund etwas wussten? Hätten sie dann auch noch solche faschistoiden Angriffe gegen die ohnehin tief verletzte Würde ihres Hassobjektes gestartet? Im Buch sind einige der eindrücklichsten und verabscheuungswürdigen Beispiele solcher Briefe als Zwischentexte wiedergegeben. Dabei war Baumann nicht von der kämpfenden Front desertiert, ließ, wie der perfide Vorwurf an ihn oft lautete, gerade keine Kameraden im Stich oder verriet diese, sondern hatte sich mit Hilfe von französischen Resistanceleuten aus der Etappe abgesetzt. Sein Kamerad und er fristeten im Hafenkommando in Bordeaux ein relativ lockeres Leben als Wachsoldaten bei der deutschen Kriegsmarine. Nach dem Dienst ging man ins Soldatenkino oder in die Hafenkneipen. Der Entschluss, im Juni 1942 abzuhauen, kam anders, vom Kopf her, dem kritischen Blick auf das Kriegsgeschehen im Osten und der Bewertung des bisher eigenen Kriegserlebten, nicht zuletzt vom Willen zum Leben und der Befreiung vom Militär- und Kriegszwang. Amerika war das Ziel der Flucht, dorthin wollten die beiden Desertierenden gelangen und die Aktivisten der Resistance, zu denen man in den Hafenkaschemmen von Bordeaux leicht Kontakt bekommen konnte, wollten ihnen dabei gerne helfen. Alles lief zunächst planmäßig, die beiden kamen in zivil gekleidet in die Nähe der Grenze zum noch unbesetzten Frankreich, dort liefen sie einer deutschen Zollstreife direkt in die Arme, die sie sofort verhaftete. Mit den zuvor aus einem Magazin entwendeten geladenen Pistolen hätten Baumann und sein Freund, die nicht gefilzt worden waren, die beiden Zollpolizisten leicht über den Haufen schießen können. Sie taten es nicht. So gesehen fast schon ein filmreifes Szenario.

Das Thema Desertion aus der Wehrmacht oder ihr im Krieg angegliederten Formationen wie dem Frontarbeitsdienst ist literarisch in deutschen Quellen nicht gerade häufig anzutreffen. Bekannt sind die sich vom Militär absetzenden Handlungsweisen von Schriftstellern wie Gerhard Zwerenz oder Siegfried Lenz (thematisiert in dessen Erzählung "Ein Kriegsende" über eine wahre Begebenheit von Mannschafts-Meuterei in der deutschen Kriegsmarine) oder die Darstellung wahrer Begebenheiten von Desertion bei der Kriegsmarine in der fünfteiligen DEFA-Verfilmung "Rottenknechte". Alfred Andersch verarbeitete in "Die Kirschen der Freiheit" eigene Deserteurserlebnisse in Italien. Und Otl Aicher, der spätere Ehemann von Inge Scholl, Schwester der hingerichteten Geschwister Scholl, schildert seine Armeeflucht kurz vor Kriegsende in seinem Erinnerungsbuch "innenseiten des kriegs". Er wurde von Angehörigen der Familie Scholl versteckt, die, um sich den sippenhaften Nachstellungen der Gestapo zu entziehen, auf einem Einödhof im Südschwarzwald untergekommen war und wartete dort das Kriegsende ab. Und auch solche Desertionen "der anderen Art" gab es im Stil jugendlich gewagter und riskanter "Schwejkiaden " wie des 1945 gerade mal 17-jährigen Rainer Schepper aus Warendorf, der sich, noch als Luftwaffenhelfer und zum Arbeitsdienst gezogen, eigenmächtig von der sich zurückziehenden Front in Polen als "Versprengter" getarnt entfernte und auf Umwegen ins heimatliche Westfalen zurückkehrte. Von da musste er erneut einem Marschbefehl Richtung Front folgen, dem er sich auf verzögerten Wegen zu entwinden versuchte, jedoch von SS aufgegriffen und in Kassel dem Standgericht zugeführt wurde, das ihn zum Bewährungseinsatz bei der Stadtverteidigung nach Frankfurt schickte. Dort angekommen, machte er in den allgemeinen Auflösungswirren der letzten Kriegswochen bald erneut eigenmächtig kehrt und hatte auf dem Weg nach Hause am Rhein entlang in Rhöndorf noch eine abweisende Begegnung mit Konrad Adenauer (siehe Rainer Schepper: "Ich war Deserteur. Reminiszenzen aus dem Jahr 1945", Münster 2009, 57 S.). Der ebenfalls noch lebende Schepper teilt mit Baumann das Schicksal, einer der letzten damals so Handelnden zu sein.

Der Wiederbeginn des zivilen Lebens im kriegszerstörten Hamburg war schwer für Baumann. Sein Vater, ein Kaufmann und Tabakhändler, hatte sich über einen Geschäftsfreund mit Beziehungen zu Großadmiral Raeder an diesen gewandt und sich für die Begnadigung seines Sohnes eingesetzt, der dann auch bald stattgegeben wurde, ohne dass Baumann in der Todeszelle monatelang etwas davon erfahren hätte. Die einschneidenden Kriegs-, Gefängnis- und Fronterlebnisse hingen dem Heimgekehrten im Nacken, lasteten wie ein Alb auf seiner Seele, er kam allein damit kaum zurecht, verlor wie viele damals bald den Halt, wurde zum Trinker. Das Verhältnis zum Vater war trotz allen Einsatzes für ihn stark belastet. Es kam zu keiner befreienden Aussprache mehr mit dem 1947 verstorbenen Vater. Ludwig Baumann vertrank binnen weniger Jahre das mit der Schwester geteilte Erbe des Vaters und stand wiederum vor dem Nichts.

Nach den traumatisierenden Kriegserfahrungen, den schwierigen familiären Nachkriegsjahren mit dem frühen Tod der erst 33-jährigen Ehefrau 1966 bei der Geburt des sechsten Kindes, gibt es ein drittes Leben des Ludwig Baumann. Es setzte erst nach und nach ein durch Abkehr vom Alkohol, Besinnung auf die bestehende Verantwortung als alleinerziehender Vater und Erinnerung an die eigene Vergangenheit beim Militär. Er lässt sich zur Einsicht vom zentralen Bundesarchiv seine persönliche Militärakte kommen, erfährt erst daraus weitere Einzelheiten seines "Falles", liest erstmals den Eingabebrief seines Vaters mit dem Gnadengesuch und weitere Dokumente. Das zusammen setzte schließlich eine Seite in Ludwig Baumanns Wesen in Bewegung, die sich gezielt mit dem eigenen Leben auseinandersetzte. Er beginnt Ende der 1970er Jahre politisch aktiv zu werden, erst in Dritte-Welt-Initiativen, dann auch in der neuen Friedensbewegung gegen akute Bedrohungen durch Aufrüstung, Atomraketen-Stationierung und eine seit der Wiedervereinigung zunehmend offensive Rolle der Bundeswehr. Er nimmt im Herbst 1981 an der Demonstration Hunderttausender im Bonner Hofgarten teil, beteiligt sich mit Ansprachen an öffentlichen Initiativen für Deserteursdenkmale, reist unentwegt landauf landab, wendet sich mit Flugblattaktionen und Reden an einrückende Bundeswehr-Rekruten auf Bahnhöfen und vor Kasernentoren, spricht als Zeitzeuge vor zahllosen Schulklassen, gibt Interviews in Radio und Fernsehen im In- und Ausland.

Er wurde damit zum leibhaftigen Plädoyer gegen den Krieg und zur festen Institution, mit der die etablierte Politik fortan rechnen musste, wenn es um die berechtigten juristischen wie menschlichen Belange der Deserteursrehabilitierung ging. Er brachte in diesen Kampf um Wiedererlangung der persönlichen Würde aus dem persönlichen Erleben den zähen unbeirrbaren Willen ein, wobei er freilich auch Beistand, Hilfe und Unterstützung nötig hatte und erfuhr, aus Kreisen kirchlicher und pazifistisch-antimilitaristischer Friedensarbeit, von Vertretern politischer Parteien, vornehmlich der Grünen, SPD und damaligen PDS, aber auch von Rita Süßmuth und Heiner Geissler von der CDU, der nicht lange zuvor noch jene ungeheure und unsägliche Diffamierung in die Welt gesetzt hatte, wonach die Pazifisten in den 1930er Jahren Auschwitz erst möglich gemacht hätten. Auch Vertreter einer neuen kritischen Militärgeschichtsforschung gesellten sich dazu, ihrerseits sehr daran interessiert, endlich dokumentierendes Licht ins Dunkel eines weithin unaufgearbeiteten Kapitels deutscher Kriegsvergangenheit zu bringen. Im Laufe der Jahre entstanden so eine Reihe fundierter wissenschaftlicher Texte und Publikationen von kompetenter Autorschaft, zu nennen wären etwa Namen wie Messerschmidt, Wette und Wüllner. Zusammen mit Freunden und 40 direkt Betroffenen wurde zur Verstärkung des öffentlichen Drucks im Jahr 1990 die Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz als Verein gegründet. Als Lobby der Betroffenen sammelte der Verein die weit versprengten Überlebenden, beriet und unterstützte in Fällen von Entschädigungsverfahren, dokumentierte Deserteursfälle, fertigte Dossiers an, vermittelte und stellte Referenten, formulierte programmatische Forderungen, die wiederum Eingang fanden in parlamentarische Anhörungen zuständiger Bundestagsausschüsse und Gremien der politischen Legislative. Diese sichtbaren Bestrebungen führten nach mehr als 20 Jahren auch zu einem wenn auch späten gründlichen Wandel im Meinungsbild der deutschen Öffentlichkeit, wie er in allen wichtigen Schritten und Aspekten in einem exemplarischen Aufsatz des Militärhistorikers Prof. Dr. Wolfram Wette detailliert chronologisch nachgezeichnet und beschrieben wird (siehe Wolfram Wette: "Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland 1980-2002." In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 52. Jg., Heft 6/2004, S. 512-527).

Entsprechend zu dieser bis 2002 besten und vollständigsten Darstellung der Vorgänge waren die wichtigen politisch erreichten Ergebnisse die 1998 erfolgte rechtliche, gefolgt von der 2002 ausgesprochenen pauschalen Rehabilitierung der Deserteure und Wehrkraftzersetzer bis hin zur schließlich 2009 auch verfügten Aufhebung aller Urteile wegen "Kriegsverrats".

Und noch immer bleiben unerledigte Aufgaben zu tun, wie sie die Bundesvereinigung auf ihrer Webseite auflistet: Neben Informations- und Beratungsangebot und der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Unrechtscharakters der Wehrmachtsjustiz ist es das Erstellen biografischer Studien über Opfer und Täter. Archiviertes und dokumentiertes Material soll zu Friedensengagement ermutigen und nicht zuletzt ist für ein würdiges Gedenken der Opfer einzutreten (siehe www.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de).

E. K., Bremen, 3.12.2014


Ludwig Baumann: Niemals gegen das Gewissen. Plädoyer des letzten Wehrmachtsdeserteurs.
In Zusammenarbeit mit Norbert Joa, Herder Verlag, Freiburg 2014, 127 S.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 186 - Winter 2014, Seite 24 bis 27
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2015


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