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ARBEITERSTIMME/297: Großbritannien - Einige Schlüsselereignisse des Jahres 2014


Arbeiterstimme Nr. 186 - Winter 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

GB: Einige Schlüsselereignisse des Jahres 2014



Im März dieses Jahres war der 30. Jahrestag des Beginns des jahrelangen Streiks der Kohlebergleute gegen die Schließung der Gruben. Nun kamen dazu geheime Regierungspapiere nach 30 Jahren ans Licht, die zeigten, dass die Regierung Thatcher gelogen hatte. So hatte diese schon seit langem geplant, 75 Gruben zu schließen und damit 75.000 Bergleute in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Die NUM (National Union of Mineworkers) sollte zerschlagen, die Kohleindustrie sollte dezimiert und der Rest sollte dann privatisiert werden.

Damit blieb der NUM gar keine andere Wahl als zu kämpfen.

Im Juni begingen ehemalige Bergleute mit ihren Familien und Freunden den Jahrestag der großen Konfrontation mit der Polizei in der Kokerei von Orgreave - dies war damals ein Schlüsselereignis. Orgreave belieferte die nahegelegenen Stahlwerke in Rotherham in Yorkshire mit Koks. Die NUM ließ so viel Koks durch, dass die Hochöfen am Brennen blieben - aber als entdeckt wurde, dass Stahl produziert wurde, entschied sie, dass kein weiterer Koks aus Orgreave mehr ausgeliefert werden sollte. Dazu setzte sie eine Menge Streikposten ein. Die Polizei erlaubte 5.000 Streikposten, sich in Orgreave zu versammeln, während überall sonst im Land Streikposten durch Straßenblockaden der Polizei am Reisen gehindert wurden. (Die NUM hatte Kenntnis davon, dass ihre Telefone abgehört wurden. Aus diesem Grund setzte sie Boten ein, die Details darüber weitergaben, wohin die Streikposten gehen sollten.)

Dann griff die Polizei die Streikposten mit großer Brutalität an. In den BBC-Nachrichten waren die Filme so manipuliert (aufgearbeitet) worden, dass es so aussah, als ob die Streikposten die Polizei angegriffen hätten. Viele der Streikposten waren verurteilt oder festgenommen worden. Die Anklagen gegen sie wurden allerdings fallengelassen, als herauskam, dass die Polizei gelogen hatte.

Es läuft auch noch eine Kampagne für eine öffentliche Untersuchung darüber, was in Orgreave geschehen ist. Sie wurde verstärkt durch die erfolgreiche Kampagne der Familien der 96 Fußballfans des FC Liverpool, die vor 25 Jahren in Sheffield zu Tode gedrückt worden waren und von deren Unterstützern. Hier hatte die Polizei gelogen, um ihre Inkompetenz zu verschleiern. Sie hatten die Krankenwagen, die den verletzten Fans zu Hilfe eilen wollten, mit der Behauptung, die Fans seien bereits tot, gestoppt. Tatsächlich waren aber noch über 40 Fans am Leben; sie könnten wohl auch immer noch am Leben sein. Es wurden falsche Totenscheine ausgestellt und Lügen an die Presse weitergegeben, nach denen die Fans betrunken gewesen seien, die Toten ausgeplündert hätten und zu guter Letzt hätten sie sogar die Retter angepisst. Das waren dieselben Polizeieinheiten, die damals die Streikenden in Orgreave angegriffen hatten.

Im Juli dieses Jahres streikten über eine Million Arbeiter des Öffentlichen Dienstes für eine bessere Bezahlung und für ihre Renten. Arbeiter und Angestellte des Gesundheitswesen und der Gemeinden hatten ihre Proteststreiks weitergeführt; am 18. Oktober hatte der TUC (Trades Union Congress) in London eine große Demonstration organisiert, die unter dem Motto stand: "England braucht höhere Löhne". Die Armut ist gewachsen, ebenso wie sich die Kluft zwischen arm und reich vergrößert hat. Millionen Menschen sind auf Tafeln angewiesen, bei denen es Nahrungsmittel umsonst gibt, die von den besser gestellten Leuten gespendet werden. Die Arbeitslosenzahlen sind unzuverlässig, weil viele Menschen auf mehrere Teilzeitarbeitsverhältnisse angewiesen sind. Ein besonders schädliches Beispiel ist der "Null-Stunden-Vertag", wie in der Fast-Food-Branche, wo McDonalds das übelste Beispiel abgibt. Die Arbeiter haben einen Vertrag ohne feste Arbeitszeiten, sie müssen bei Bedarf zusätzlich arbeiten, aber ohne Bezahlung der Überstunden, es gibt keine "Set-Pausen". Das ist eine Form von moderner Sklaverei!

Bei den Arbeitern herrscht großer Unmut, aber bis jetzt noch keine allgemeine Kampfbereitschaft.

Am 13. Oktober stimmte das britische Parlament für eine Anerkennung Palästinas als Staat neben Israel, so wie es 135 andere Länder bereits getan haben. Das war eine Initiative der Labour-Party, die von Mitgliedern aller anderen Parteien unterstützt wurde, ebenso wie von anderen Gruppen, wie z.B. "Juden für Gerechtigkeit für Palästinenser", dem "israelischen Komitee gegen die Zerstörung von Häusern", der "Palästina Solidarität Kampagne", Menschenrechtsgruppen und verschiedenen Gewerkschaften. Doch dieser Beschluss ist für die Regierung nicht bindend.

Die jüngsten israelischen Angriffe auf Gaza, besonders in diesem Jahr, wobei die Zivilbevölkerung ein vorsätzliches Ziel war, haben zu einem massiven Meinungswandel innerhalb und außerhalb des Parlaments geführt!

Im ganzen Land fanden Demonstrationen statt, und das in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Die größte Demonstration, die es jemals für Palästina gab - mit 150.000 Teilnehmern - fand in London statt. Im ganzen Land wurde auch gegen lokale BBC-Studios protestiert, die zu israel-freundlich berichteten. Gewerkschaften haben palästinensische Vertreter eingeladen; von ihrer Solidarität mit Israel sind sie zur Solidarität mit Palästina umgeschwenkt.

Bei den Wahlen zum EU-Parlament im Mai, die mit den Kommunalwahlen zusammenfielen, gewann UKIP, die europafeindliche populistische Partei, die größte Anzahl von Sitzen; Labour folgte auf Platz zwei. Sie konnte ihre Schwerpunkte im Norden halten, ebenso wie London und Wales. Auch die Grünen konnten zulegen. Verlierer waren die Tories und die Liberaldemokraten, die nahezu ausgelöscht wurden. Die faschistische BNP verlor ihre zwei Sitze, sie befindet sich in einer tiefen Krise. UKIP fraß sich bei den rechten Tories hinein, aber mit dem weitverbreiteten Zynismus gegenüber der EU und den Politikern im Allgemeinen hat sie auch bei Labourwählern Stimmen geholt. Linke Parteien hatten gar keinen Einfluss.

Am 18. September fand das Referendum für oder gegen die Unabhängigkeit Schottlands statt, was zur Auflösung des 1707 gegründeten Vereinigten Königreichs hätte führen können. 55,3 % der Wähler stimmten gegen die Unabhängigkeit, 44.7 % dafür. Die Wahlbeteiligung lag bei 85 Prozent, das war die höchste seit 60 Jahren. Die Argumente waren leidenschaftlich und in der Politik wurden ernsthafte Debatten über grundlegende Fragen geführt, etwas, was man länger nicht gehört hatte, seitdem die Hauptparteien neoliberale Ansichten und eine ebensolche Ausrichtung haben. Teenager von 16, 17 Jahren durften abstimmen und sie beteiligten sich begeistert daran.

Glasgow und andere städtische Zentren, die traditionell rot sind, stimmten mit Ja, auch die entindustrialisierten Gegenden mit der größten Armut, während die wohlhabenderen und die ländlichen Gegenden mit Nein votierten. Edinburgh, das Finanz- und Verwaltungszentrum, stimmte mit Nein, ebenso wie Aberdeen, das Zentrum der Öl- und Gasindustrie.

Cameron empfahl den Tory-Parlamentariern, Schottland fern zu bleiben, da die Partei dort seit Thatcher als "giftig" gilt. Der liberaldemokratische Juniorpartner der Tories ist genauso unbeliebt, deswegen führte Labour die Nein-Kampagne an. Aber weil sich Labour mit den Koalitionspartner gemein machte, erschien sie als Verteidigerin der verhassten Londoner Eliten.

Die Vertreter der Nein-Kampagne hatten außer Drohungen und dem Schüren von Ängsten nichts anzubieten. So könne Schottland das Pfund nicht weiter als Zahlungsmittel verwenden, könne der NATO nicht beitreten und hätte deswegen keine Verteidigung (ursprünglich wollten die Nationalisten in der Tat die NATO verlassen, begnügten sich dann aber mit der Forderung nach einem Abzug der Atom-U-Boote), die Mitgliedschaft in der EU würde abgelehnt werden (Spanien und andere Länder mit Unabhängigkeitsbewegungen würden das blockieren). Verschiedenste Welt- und EU-Politiker, Offiziere, Banker und Geschäftsleute sprachen sich gegen die Unabhängigkeit aus und behaupteten, dass alle Unternehmen Schottland verlassen würden und die Lebenshaltungskosten für die Schotten steigen würden.

Am 10. September sah dann ein Meinungsforschungsinstitut die Austrittsgegner leicht in Führung, dagegen lagen sie in einer Umfrage, die am 11. veröffentlicht wurde knapp dahinter; die Unentschlossenen unter den Wählern wandten sich dann aber bei der Abstimmung der Ja-Kampagne zu. Die Parlamentsgeschäfte in London wurden eingestellt, da hunderte von Parlamentariern in einem Anfall von Panik nach Schottland reisten, um die Austrittsgegner zu unterstützen.

Die Londoner Politiker trafen auf Feindseligkeit; Miliband wurde durch Gordon Brown ersetzt, von dem man nach seiner Niederlage bei den Parlamentswahlen 2010 nichts mehr gehört hatte. Seiner Rhetorik ist es zu verdanken, dass kein weiteres Abdriften von Labour-Wählern ins Lager der Austrittsbefürworter mehr stattfand. Labours eigene Umfragen machten deutlich, dass sich die Wähler zur Seite der Austrittsbefürworter hin bewegten.

Zwischen dem 10. und dem 18. September war es wirklich komisch, die herrschende Klasse zu beobachten. "Wie sollen wir unser Land nennen?" fragten die Kommentatoren, etwa "Vereinigtes Rumpf Königreich" (Vereinigtes Königreich weist hin auf die Vereinigung von zwei Königreichen, zuzüglich der sechs Grafschaften von Nordirland, während Wales in dem Namen nicht vorkommt), oder "Klein-Britannien?". Sollte Wales dann auch noch unabhängig werden, wäre England nur noch ein unbedeutender Spieler im Weltmaßstab.

Aus den genannten Gründen hat am Ende die Angst den Ausschlag gegeben. Der Labour-Politiker Douglas Alexander, ein Befürworter der Nein-Kampagne, sagte: "Die vorherrschenden Gefühle waren Misstrauen und Wut auf die Politiker. Die Abstimmung war in Wahrheit mindestens ebenso eine Abstimmung über die Politik und die Politiker als eine über Schottland und die Schotten. Es ist ein Weckruf für die gesamte Politik."

Den Schotten wurde größere Autonomie versprochen. Die Austrittsbefürworter werden weiterhin Druck in Richtung Unabhängigkeit machen. Nationalisten, Grüne und die Schottische Sozialistische Partei verzeichneten während der Kampagne eine massive Steigerung ihrer Mitgliederzahlen, die beiden ersteren konnten sie gar verdreifachen.

Das ist ein Zeichen dafür, dass die Politik der Unabhängigkeit in Schottland weiterhin attraktiv ist.

November 2014

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 186 - Winter 2014, Seite 21 bis 23
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2015


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