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ARBEITERSTIMME/278: Tschechien - geht es weiter bergab?


Arbeiterstimme, Winter 2013, Nr. 182
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Tschechien: geht es weiter bergab?

von Štěpán Steiger



Kaum etwas in der Wirtschaft der Tschechischen Republik kann in diesen Tagen Hoffnung auf eine erfreuliche Entwicklung erwecken. Die meisten Ökonomen erwarteten für das dritte Quartal freundlichere Zahlen, doch die Statistiker mussten sie enttäuschen: Das BIP ist im Jahresvergleich um 1,6 Prozent zurückgegangen, im Vergleich mit dem vorherigen Quartal um 0,5 Prozent. Als Gründe werden schwache Investitionstätigkeit sowie zurückgehendes Mehrwertschaffen in Energieproduktion, in der Bauindustrie (die bereits seit längerer Zeit nicht im Stande ist, sich aus der Krise aufzuraffen), im Handel und Verkehr sowie in der Landwirtschaft. Eine Ausnahme bildete nur die verarbeitende Industrie, besonders die Verkehrsmittelerzeugung (ja, die Autos!).

Hinter diesen grossen (groben) Zahlen verstecken sich die fortschreitenden sozialen Auswirkungen der Krise. Während im Jahre 2011 ungefähr eine Million Menschen - die Republik zählt 10,5 Mill. Einwohner - von Armut betroffen waren (d. h. ihr Monatseinkommen lag unter 10.000 Kronen), sind es heuer bereits 1,6 Mill. (15,4 Prozent der Bevölkerung). Obwohl diese Zahlen die niedrigsten in Europa sind, steigen sie doch am schnellsten. Nach Angaben des Tschechischen Helsinki-Komitees nahm diese Zahl jetzt um 86.000 Personen zu, die in Haushalten unter der Armutsgrenze leben. Der Komiteebericht stellt wörtlich fest: "Der Armutsgrad stieg (von 41 auf 46 Prozent). Meistens sind Arbeitslose betroffen sowie Menschen in Haushalten mit drei und mehr Kindern (von 20 Prozent erhöhte sich ihre Zahl auf 24,5). Es gibt mehr Frauen (deren Zahl von 10 Prozent auf 10,8 gestiegen ist) als Männer (deren Prozentsatz von 8 auf 8,9 anstieg). Knapp über der Armutsgrenze leben 1,7 Mill. Menschen." Fast eine Viertelmillion Menschen - genau 215.000 - sind auf Sozialhilfe angewiesen. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres zahlte der Staat 5,1 Milliarden Kronen der sog. Nothilfe aus - um 1,5 Mrd. (40 Prozent) mehr als für denselben Zeitraum in 2012. (Diese Art von Nothilfe besteht aus einem Lebenshilfe-Beitrag, Wohnhilfe sowie sofortiger Nothilfe.) Der Grund der steigenden Hilfe ist offensichtlich: Die Zahl der Langzeit-Arbeitslosen nimmt zu. Diese verlieren nach fünf Monaten ihr Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung. (Allerdings ist diese Unterstützung abgestuft: für Menschen im Alter von unter 50 Jahren endet das Anrecht nach fünf Monaten, zwischen 50 und 55 Jahren nach acht Monaten, über 55 nach elf Monaten.) Im ersten Halbjahr 2012 zahlte der Staat monatlich diese Unterstützung an 155.000 Menschen; heuer waren es in demselben Zeitraum bereits 215.000.

In dieser Situation fanden Ende Oktober Wahlen für die Abgeordnetenkammer statt. Der letzte Grund, warum die vorherige rechtslastige Regierung - wohl die schlimmste der letzten zwanzig Jahre - fiel, war auch ihr letzter Skandal: Die Chefsekretärin des Ministerpräsidenten (die auch seine Geliebte war) hatte nicht nur Verbindungen zu Mafia-"Paten" aufrechterhalten, sondern z. B. auch die Gemahlin des Ministerpräsidenten von Offizieren des Militär-Nachrichtendienstes bespitzeln lassen.

Die vorzeitigen Parlamentswahlen zeigten die Brüchigkeit des politischen Systems, die u. a. auch durch das tiefe Misstrauen der Bevölkerung der politischen Sphäre gegenüber begründet war (und ist) - ein überwiegender Grossteil der Bürger traute keinem der Repräsentanten der bisherigen ("alten") politischen Ordnung mehr. Kein Wunder also, dass der eigentliche Sieger der Wahl ein Mann ist, der bisher nie politisch tätig war, ein Milliardär - einer der drei reichsten Männer des Landes, Andrej Babiš. Vor zwei Jahren gründete er eine "politische Bewegung", genannt Aktion der unzufriedenen Bürger - die Abkürzung des Namens ist ANO, was (im Tschechischen) "Ja" bedeutet. Die Sozialdemokraten erhielten zwar 50 Mandate (d. h. sie zählen 50 Abgeordnete in der zweihundertköpfigen Kammer), doch die ANO-Partei hat 47. Mit anderen Worten: Ohne diese Partei ist kaum eine Regierung zu bilden. Die Losung ihres Gründers (der Besitzer von Nahrungsmittelfabriken und u. a. auch der grösste tschechische Investor in Deutschland ist), die jetzt ununterbrochen in den Medien wiederholt wird, lautet: Man muss den Staat wie eine Firma leiten! Er führte - verglichen mit allen anderen Parteien - eine sehr "volksnah" geführte Wahlkampagne und war im Stande, frühere Sympathisanten anderer Parteien für sich zu gewinnen. Weil sie frustriert und unzufrieden waren, sahen allzu viele Bürger zu ihm auf und glaubten an seine Losungen, betreffend Korruptionsbekämpfung, "effektiven Staat" und strenge Überwachung der Staatsausgaben. Manche waren auch angezogen vom Bild eines erfolgreichen Unternehmers, der es ihrer Meinung nach ernst meinte, da er - sehr reich - vom Staat kein Geld zu verlangen brauchte.

Eine zweite vor zwei Jahren entstandene Partei, Úsvit (Morgendämmerung) genannt, gegründet und geführt von einem Mann, dessen Vater ein Japaner war (dessen Mutter jedoch aus Mähren stammt), hat eigentlich als "Programm" nur die Forderung nach einem allgemeinen Referendum sowie damit verbundener "direkter Demokratie". Diese sollte u. a. die Möglichkeit enthalten, jede Art von Staatsbediensteten wie auch Abgeordnete oder Minister abzuberufen. (Wir führen diese Einzelheiten an, obwohl sie scheinbar unwichtig sind, weil sie jedoch auf die Gemüter der tschechischen Wähler grossen Eindruck machten; denn diese Forderungen waren im starken Kontrast mit der Wirklichkeit der bisherigen Politik der Rechten.) Die Morgendämmerung hat zwar nur 14 Abgeordnete - soviel, wie die von Václav Klaus seinerzeit gegründete und bis zu diesem Jahr stärkste Partei der Rechten, ODS (!) - doch sollten die jetzt noch laufenden Koalitionsverhandlungen scheitern, könnte sie zum sprichwörtlichen Zünglein an der Waage werden.

Die Lage der Sozialdemokraten scheint, dem Wahlsieg zum Trotz, schwierig zu sein. Lange Zeit vor den Wahlen und auch während der Kampagne glaubte (hoffte) und deklarierte ihre Führungsspitze, die Partei werde, wenn nicht nahe an 30, so doch wenigstens 25 Prozent der Stimmen erhalten. In diesen Fällen wäre sie im Stande, entweder allein eine Regierung zu bilden oder eine Minderheitsregierung zustandezubringen, die mit Unterstützung der Kommunisten den Staat leiten könnte. Mit 20,45 Prozent der Stimmen wurde die Sozialdemokratie zwar die stärkste Partei, doch es ist das schlechteste Ergebnis seit 1989. (Sie gewann nur 89.000 Stimmen mehr als die ANO-Partei!) Als Grund dieses Misserfolgs nannte ein bekannter Soziologe die Tatsache, dass es den Sozialdemokraten nicht gelang, zwei der am meisten bedrohten Gesellschaftsgruppen anzusprechen - nämlich die knapp über der Armutsgrenze lebenden Menschen und die Wähler, die sich von den Rechtsparteien abgewandt hatten, sich dann jedoch eher den Protestparteien - z. B. der ANO-Partei - zuwandten. In dieser Hinsicht zeigte sich also die ideenlose, einer wichtigen gesellschaftlichen Basis entbehrende Politik der Sozialdemokratischen Partei.

Um nun eine Regierung zu bilden, braucht sie Koalitionspartner - und da sie sich mit dem aus dem Jahre 1995 datierten Kongressbeschluss selbst verboten hatte, mit der KP auf Regierungsebene zusammenzuarbeiten, kann die Partei Kommunisten in eine Regierung nicht aufnehmen. Als "nahestehende" Parteien kommen daher nur die ANO-Partei sowie die Christdemokraten in Frage. Den letztgenannten ist nämlich ein Comeback gelungen: In den Parlamentswahlen im Jahr 2010 haben sie - eine Partei, die zuvor immer im Parlament vertreten war - nicht einen einzigen Sitz gewinnen können.

Um das Bild abzurunden, verdienen zwei Fakten Erwähnung: Erstens, die zwei "grossen" (in Anführungszeichen grossen, da sie im Moment gar nicht mehr gross sind) Rechtsparteien, die einst als "Klaus-Partei" angesehene ODS-Partei sowie die unter der Abkürzung TOP 09 bekannte, formal von Fürst Schwarzenberg geleitete, Partei sind soweit zusammengeschrumpft, dass sie nur noch 14 bzw. 26 statt 53 resp. 41 Abgeordnete haben. Offensichtlich also ein Debakel.

Die zweite Tatsache: Es gibt ein Dutzend kleiner und kleinster Parteien, die es nicht ins Parlament schafften. Zwei nur sind zu erwähnen: Eine hatte die Unterstützung vom Ex-Präsidenten Klaus, eine andere hatte die Unterstützung (die sie wohl inzwischen verlor) des heutigen Präsidenten Zeman, dessen Namen sie sogar im Titel hatte. (Hier ist nicht der Ort, über Zemans Pläne mit dieser Partei zu schreiben - er wollte sie offensichtlich im Fall eines Durchbruchs gegen die Sozialdemokraten verwenden.)

Zuletzt ein Wort zu den Kommunisten. Die Kommunistische Partei von Böhmen und Mähren, wie sie offiziell heisst, kann sich eigentlich auch als Sieger betrachten. Als einzige der "alten", etablierten Parteien gewann sie, verglichen mit der Wahl von 2010, sowohl Stimmen (172.000) als auch Sitze (7). Sie wird sicherlich in der Abgeordnetenkammer wichtige Stellen in manchen Ausschüssen haben, auch beansprucht sie die Position eines der vier stellvertretenden Kammer-Vorsitzenden. Da jedoch - und dies gilt für alle im Parlament vertretenen Parteien - die Wahlen in einer ausserordentlichen Situation stattgefunden haben, werden erst die folgenden zeigen, ob das Ergebnis dieser Wahl einen Trend darstellt oder ob es ein einmaliges Ereignis war. Im nächsten Jahr erwartet man Kommunal- und Senatswahlen. Erst dann wird man sagen können, welchen Weg die Tschechische Republik angetreten hat. Ein allererstes Zeichen mögen die ersten Schritte der neuen Regierung darstellen, die - glaubt man den Worten des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei, Bohuslav Sobotka - vor Weihnachten gebildet sein sollte. Darüber werden wir wahrscheinlich in der Frühjahrsausgabe berichten.

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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 182, Winter 2013, S. 15-16
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2014