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ARBEITERSTIMME/249: Lateinamerika 2012 - Integration und solidarische Beziehungen


Arbeiterstimme Nr. 175 - Frühjahr 2012
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Lateinamerika 2012: Integration und solidarische Beziehungen



Vor einem Jahr lieferte der arabisch-nordafrikanische Raum über Monate Schlagzeilen. Der Ausbruch sozialer Revolten überraschte und verunsicherte die bürgerliche Welt hierzulande. War man doch bis dato der Meinung, die regionalen Despoten hätten alles im Griff und würden - wenn auch mit harter Hand und gelegentlicher Hintanstellung der Menschenrechte - gegen islamischen Fundamentalismus für geordnete Verhältnisse sorgen und damit für den Geschäftsbetrieb im Interesse des freien Welthandels garantieren. Nach einem Jahr sieht die Bilanz für die so genannte arabische Revolution düster aus. Aber nicht nur hier mussten die Erfolgsfahnen auf Halbmast gesetzt oder gänzlich entfernt werden, auch Europa mit seinem Vorzeigeprojekt EU steckt tief in der Krise und produziert negative Schlagzeilen am laufenden Band.

Ob dieser und anderer desolaten Zustände in vielen Teilen der Welt fällt ein Blick auf den lateinamerikanischen Kontinent überraschend positiv aus. Fast alle Meldungen, vor allem aus den südamerikanischen Ländern, berichten über Fortschritte in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht. Zwar finden sich auch erschreckende Berichte über ökologische Katastrophen, Drogenkriege, Bandenterror und extralegale Hinrichtungen. Aber im Unterschied zu früheren Zeiten werden diese Erscheinungen eher als Probleme dargestellt, die nur noch auf wenige Länder zuträfen und nicht mehr für den Kontinent symptomatisch seien.

Was für die Linke wichtig ist: Ignacio Ramonet stellt in Le Monde diplomatique fest "Lateinamerika ist derzeit die Region der Erde, in der die meisten Erfahrungen mit linker Politik gesammelt werden." Und überall dort, wo Erfahrungen mit linker Politik gemacht werden, findet reale Bewegung statt, gibt es mehr oder weniger entwickelte Klassenkämpfe, die das gesellschaftliche Kräfteverhältnis verändern. Die objektiven Bedingungen sind in jedem Land anders. Um zu einer stimmigen Einschätzung des Kräfteverhältnisses auf dem Gesamtkontinent zu kommen, müsste jedes einzelne Land analysiert werden. Weil das aber den Rahmen eines Artikels sprengen würde, kann nur auf punktuelle Entwicklungen und Ereignisse eingegangen werden.


UNASUR wird erweitert

Das bedeutendste Ereignis für Lateinamerika im Jahre 2011 war unbestritten die Gründung der "Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten" (CELAC) im Dezember in Caracas.

Bereits 2008 war mit der Gründung der "Union Südamerikanischer Nationen" (UNASUR) ein entscheidender Schrift in Richtung Integration gelungen. Mit CELAC wurde der Zusammenschluss der bisher 22 Länder auf nunmehr 33 aufgestockt. Und in beiden Fällen unter Ausschluss von USA Lind Kanada. Um die längerfristige Bedeutung dieses Ereignisses besser einschätzen zu können, sollen einige Zahlen Aufschluss geben. Die 33 Länder der CELAC vertreten etwa 550 Millionen Einwohner und bilden zusammen genommen ein Bruttoinlandsprodukt von 6,3 Billionen Dollar. Sie könnten mit dieser Größenordnung die drittgrößte Wirtschaftsmacht realisieren, die über die größten Erdölreserven verfügten (ca. 338 Milliarden Tonnen) und unter den Nahrungsmittelerzeugern stünden sie an erster Stelle. Das ist allerdings ein Blick in die fernere Zukunft. Noch handelt es sich um ein Bündnis von Staaten mit unterschiedlichen und teilweise sehr gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen. Noch vor kurzem bedrohten sich einige Staaten wie Kolumbien und Venezuela militärisch. In der CELAC koexistieren sowohl Länder, über welche die USA ein Handelsembargo verhängt haben, wie Kuba, als auch Länder, die mit den USA über Freihandelsverträge eng verbunden sind, wie Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko. Und sechs der 33 Länder - Panama, Guatemala, Costa Rica, Mexiko, Chile und Kolumbien gehen über konservative Regierungen mit den USA politisch konform.

Kann ein derartiges Bündnis erfolgreich sein? Die Zukunft wird es zeigen. Der uruguayische Journalist und Mitbegründer von Telesur, Aram Aharonian, gibt folgenden Hinweis: "Es ist unmöglich, die Bedeutung und Tragweite abzusehen, welche die Entstehung der Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten und der Karibik (CELAC) als neuem kontinentalen Forum, das Kuba ein- und erstmals die USA sowie Kanada ausschließt, mit sich bringt, wenn man diese von der Geschichte des langen Kampfes um soziale und politische Emanzipation, um Freiheit und die Einheit unserer Völker losgelöst diskutiert." Auf der Gründungskonferenz sprach der ecuadorianische Präsident Rafael Correa eine wichtige Aufgabe der CELAC an, nämlich Plattform regionaler Konflikte zu sein in dem Wissen, "dass diese Konflikte nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und noch viel weniger von anderen instanzen gelöst werden können". Erfahrungsgemäß benötigen Bündnisse in Lateinamerika bis zur Umsetzung ihrer Ziele viel Zeit und strapazieren die Geduld derer, die eher auf rasche Ergebnisse setzen.


...und auch bei ALBA geht's voran

Eigentlich sollte CELAC bereits am 5. Juli anlässlich der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Venezuelas gegründet werden. Doch die Krebserkrankung von Hugo Chavez hatte der Planung einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und ohne Chavez, nein, das war nicht vorstellbar. Schließlich ist er seit Jahren der wichtigste Konstrukteur neuer Bündnisse. Das fortschrittlichste davon war und ist die "Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika" (ALBA). Nachdem es im Jahr 2011 um ALBA keine spektakulären Entwicklungen gab, was aber nicht viel aussagt, überraschte sie Anfang Februar beim XI. Gipfeltreffen die Öffentlichkeit mit der Mitteilung, man habe drei neue Mitglieder aufgenommen: das südamerikanische Suriname sowie die Karibikstaaten Haiti und Saint Lucia. Bei Suriname handelt es sich um den kleinsten Staat Südamerikas mit einer Fläche von 164.820 km² und einer Bevölkerungszahl von knapp über einer halben Million Bewohner, vorwiegend an der Küste konzentriert. Die beiden Karibikstaaten dürften sich von ALBA vor allem materielle Unterstützung erhoffen. Die aktuelle zahlenmäßige Ausdehnung der Allianz von acht auf elf Mitglieder ist nach dem Austritt von Honduras - bedingt durch den Putsch von 2009 - ein recht überschaubarer Schritt vorwärts.

Weniger Aufsehen erregten andere Ergebnisse des Gipfeltreffens, wenngleich sie für das Bündnis bedeutsamer sein dürften. Bei den Beratungen über einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit der Bezeichnung ECO-ALBA, wurde die Einrichtung eines Wirtschaftssekretariats beschlossen. Es soll die bestehenden gemeinsamen Instrumente wie das Buchgeld Sucre und die Banco del Sur stärken. Ein weiteres Ergebnis war die dezentrale Zuordnung von Gremien des Bündnisses. Caracas wurde als ständiger Sitz des leitenden Sekretariats festgelegt. Eine neu geschaffene sozialpolitische Kommission soll von Havanna aus geleitet werden. Ein von Evo Morales unterbreiteter Vorschlag, einen gemeinsamen Verteidigungsrat zu etablieren, wurde als Beratungspunkt auf die Tagesordnung des nächsten Treffens gesetzt. Hellhörig dürfte die US-Regierung die Ankündigung von Chavez und Correa gemacht haben, gegebenenfalls den diesjährigen Amerika-Gipfel zu boykottieren, sollte Kuba weiterhin ausgegrenzt werden. Wesentlicher als der Ausbau der Strukturen für die Entwicklung von ALBA dürften die Fortschritte sein, die die einzelnen Staaten in wirtschaftlicher und sozialpolitischer Hinsicht machen. Und dabei sind es vor allem Venezuela und Bolivien, die für Erfolg oder Misserfolg des Bündnisses stehen. Der bolivianischen Regierung wurden im Februar in einem Zwischenbericht der UNO zur menschlichen Entwicklung bemerkenswerte Erfolge in der Armutsbekämpfung attestiert. Für den Berichtszeitraum von 2005 bis 2009‍ ‍liegen erstmals belastbare Daten vor. Laut dieser Daten "ist die Zahl von in extremer Armut lebenden Menschen von 38,2 Prozent (3,6 Millionen) der 10-Millionen-Gesamtbevölkerung auf 26,1 Prozent (2,7 Millionen) gesenkt worden. Die Zahl moderater Armut ging von 5,7 Millionen auf 5,2 Millionen zurück. Damit haben insgesamt 1,4 Millionen Menschen die Armutsgrenze hinter sich gelassen." (Benjamin Beutler auf amerika21.de) Die Zahlen zeigen aber auch, welche Probleme die Regierung noch zu lösen hat. Und die sind nur zu lösen bei anhaltender ökonomischer Prosperität. Auch Venezuela bekam unlängst von der UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) ein deutliches Lob ausgesprochen. Seit 2002 sei dort der Gini-Koeffizient, der die soziale Ungleichheit misst, von 0,5 auf unter 0,4 gesunken. Das südamerikanische Land sei damit "das Land, das die größten Errungenschaften in Bezug auf die Schließung sozialer Kluften hat", sagte Alicia Bárcena, Direktionssekretärin der Kommission auf einer Konferenz in Havanna. In seinem Rechenschaftsbericht vom Januar 2012, konnte Präsident Hugo Chavez eine positive Bilanz für 2011 und für die knapp 13 Jahre seit Beginn der bolivarischen Revolution ziehen.

Einige Vergleichsdaten aus dem Rechenschaftsbericht sollen diese Tendenz belegen:

• Bruttoinlandsprodukt
1999: 91 Mrd. Dollar
2011: 328,6 Mrd. Dollar

• Sozialausgaben
1986-1999: 73,49 Mrd. Dollar
1999-2011: 468,61 Mrd. Dollar

• Extreme Armut
1998: 17,1 Prozent
2011: 7 Prozent

• Kindergarten-Quote
1998: 43 Prozent
2011: 71 Prozent

• Gesundheitszentren mit freiem Zugang
1999: 5.360
2011: 13.721

Chavez verschwieg aber auch die Schwachpunkte nicht. So sei die Inflation nach wie vor zu hoch. Und bei der Kriminalitätsbekämpfung bestehe Handlungsbedarf. Zuletzt hatte die Regierung Anfang 2011 eine Mordrate von 48 pro 100.000 Einwohner bekannt gegeben. Dieses hohe Niveau habe man auch 2011 nicht durchbrechen können, gestand Innenminister El Aissami im Parlament ein. Trotzdem wird sich Chavez weitgehend unbeschadet am 7. Oktober der Wiederwahl als Staatsoberhaupt Venezuelas stellen können.


Wahlen 2011 bestätigen Tendenz

In vier lateinamerikanischen Ländern waren 2011 die Staatspräsidenten zu wählen. Besonders spannend gestaltete sich in Peru im Juni die Stichwahl zwischen Keiko Fujimori, der Tochter des inhaftierten Expräsidenten Alberto Fujimori, die die Unterstützung der Bourgeoisie hatte und dem Exmilitär Ollanta Humala, der im Wahlkampf mit dem Versprechen einer antineoliberalen Politik punktete. Unterstützung bekam er durch die Linke und durch die ländliche indigene Bevölkerung, die sich seit längerem von Bergbaukonzernen in ihrer Existenz bedroht fühlt. Nach einem halben Jahr Regierungszeit fällt die Bilanz zwiespältig aus. Rolf Schröder in der Zeitschrift Lateinamerika Nachrichten: "Die neue Regierung legte einen rasanten Start hin. In weniger als einem Monat hatte sie bereits den Mindestlohn von 160 Euro auf 180 Euro erhöht, das Haushaltsbudget im Jahr 2012 für Bildung um 15‍ ‍Prozent und das für Gesundheit tun 11,5 Prozent Prozent heraufgesetzt. Außerdem beschloss die Regierung, bis Ende 2013 allen Bürgern über 65 eine Grundrente von etwa 80 Euro zu zahlen." (LN 449) Auch außenpolitisch bewegte er sich auf den Spuren der fortschrittlichen Regierungen des Kontinents. Beim ersten offiziellen Staatsbesuch in Caracas wurde ein Zehn-Punkte-Plan vereinbart, der u.a. soziale Entwicklung, Energie und bilateralen Handel zum Ziel hat. Ollanta Humala erklärte: "Wir wollen mit unserer Arbeit mehr Venezolaner und Peruaner für das gleiche Ziel verbinden und das ist der Integrationsprozess in Lateinamerika sowie ebenfalls die Stärkung der Union südamerikanischer Staaten." So weit böte die neue Politik Anlass zur Hoffnung auf einen zumindest moderaten Linksschwenk. Allerdings gibt es in letzter Zeit auch besorgniserregende Signale. Auf Proteste im Norden aber auch in anderen Teilen des Landes reagierte die neue Regierung unerwartet repressiv mit Demonstrationsverboten, Polizeieinsätzen und der Verhängung des Ausnahmezustandes. Der wegen seiner Härte berüchtigte Innenminister wurde für sein Vorgehen mit dem Amt des Ministerpräsidenten belohnt, nachdem der Vorgänger sein Amt niedergelegt hafte. Diese Ereignisse lassen nichts Gutes erwarten.

Vor allem in der nördlichen Region Cajamarca demonstrieren die Menschen seit mehreren Monaten gegen ein Bergbauprojekt des US-amerikanischen Konzerns Newmont. Die Bewohner sowie Umwelt- und Sozialorganisationen befürchten nicht unbegründet eine Verschmutzung des Grund- und Trinkwassers durch den Bergbau. Wie sich die Regierung, deren Minister aus dem rechtsbürgerlichen und linken Spektrum kommen, in diesem für das Land zentralen Konflikt weiter verhält, ist derzeit noch offen.

Nicht überraschend war im Herbst die Bestätigung im Amt von Nicaraguas Präsident Daniel Ortega und Argentiniens Präsidentin Christina Fernandez de Kirchner. Letztere war im Oktober mit über 54 Prozent der Stimmen gewählt worden, das beste Ergebnis seit dem Ende der Militärdiktatur. Bei ihrer erneuten Amtseinführung hob sie die Herstellung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit sowie Verbesserungen im Bildungswesen als Ziele ihrer Regierungszeit hervor und stellte klar: "Ich regiere nicht für die großen Unternehmen, sondern für alle 40 Millionen Argentinier." Kommentar in der Financial Times Deutschland: "Damit hat Südamerikas zweitgrößtes Land den Linksruck des Kontinents zementiert, der mit seinem zunehmenden Gewicht in Weltpolitik und globaler Wirtschaft einhergeht - und einem dementsprechend gewachsenen Selbstbewusstsein: Den Zugang zu dem neben Afrika größten Rohstofflager und nach Ostasien wichtigsten Wachstumsmarkt müssen sich westliche Unternehmen teurer erkaufen als bisher. Als sich Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister unlängst bei einem Besuch in Argentinien über die absurden Importbeschränkungen beschwerte, die Firmen dazu verpflichten, mindestens so viel aus dem Land zu exportieren wie einzuführen, erntete er von Regierungsvertretern nur Schulterzucken und von Kirchner ein freundliches Lächeln." (FTD, 24.10.11) Auch Daniel Ortega und die FSLN konnten im November mit über 60 Prozent ein überraschend hohes Wahlergebnis verbuchen. Zwar sprach der unterlegene Oppositionskandidat Fabio Gadea von einem "monströsen Betrug ungekannten Ausmaßes", doch fehlte es an entsprechenden Beweisen. Das hielt aber die Mehrzahl der deutschen Medien nicht davon ab, einen Wahlbetrug als glaubhaft hinzustellen. Nun ist Ortegas Bündnispolitik (z.B. die Zusammenarbeit mit reaktionären Teilen der katholischen Amtskirche) für linke Sympathisanten der FSLN alles andere als nachvollziehbar. In der ARSTI Nr.165 wurde sie auch entsprechend problematisiert, aber das ist eine andere Geschichte. Dirk Niebel, deutscher Entwicklungshilfeminister hat angekündigt, einen Teil der Gelder für Nicaragua zu streichen. Er begründet den Schrift mit der Amtsführung Ortegas und mit dem Ablauf der Wahl. In Wirklichkeit ist dem FDP-Minister die Teilnahme Nicaraguas am ALBA-Projekt ein Dorn im Auge. Inzwischen ist der ehemalige Regionalverantwortliche der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, Christian Lüth, im Entwicklungshilfeministerium (BMZ) für die Vergabe von Mitteln für ganz Lateinamerika zuständig. Herr Lüth zeigte nach dem Putsch in Honduras Verständnis für das gewaltsame Vorgehen des Militärs. Auch ohne Herrn Lüth ist die Friedrich-Naumann-Stiftung in Mittelamerika erfolgreich. Das wurde bei der vierten Wahl des Jahres 2011 deutlich. In Guatemala gibt es eine reaktionäre "Patriotische Partei", beschäftigt mit der Interessenvertretung der städtischen und agrarischen Bourgeoisie, Mitglied der Liberalen Internationale. Präsidentschaftskandidat der mit den deutschen Liberalen kooperierenden Partei wurde Otto Perez Molina, ein während des 36jährigen Bürgerkriegs in Verbrechen verstrickter ehemaliger Militär. Er gilt - wie könnte es anders sein - als Verfechter neoliberaler Wirtschaftskonzepte, was sicher dazu beiträgt, das sog. Assoziierungsabkommen mit der EU in seiner Amtszeit unbürokratisch zu ratifizieren. Sein Wahlkampf soll durch Drogengelder in einer Größenordnung von bis zu 100 Millionen Dollar finanziert worden sein. Zwar hat er inzwischen ein Ministerium zur Armutsbekämpfung einrichten lassen, doch sind die sozialen Verhältnisse im Land derart desaströs, dass das zusätzliche Ministerium daran wenig ändern dürfte. So leidet jedes zweite Kind an chronischer Unterernährung. Guatemala steht mit El Salvador und Honduras an der Spitze der lateinamerikanischen Gewaltstatistik. Molina wird mit seinem Wirtschaftskonzept die immensen Probleme nicht lösen können. Er setzt auf die Ankurbelung des Exports, auf die Produktion von Palmöl (Biosprit) und die Förderung des Bergbaus. Minimale Abgaben kommen zwar den Gewinnen der Konzerne zugute, für die staatlichen Aufgaben im Erziehungs- und Gesundheitswesen bleibt aber kaum etwas übrig. Zwar ist in Guatemala die Linke noch zu schwach, um in den nächsten Jahren in die Nähe der Machtfrage rücken zu können, aber der Aufbruch der indigenen Bevölkerung in anderen Ländern des Kontinents wird sich auch in Guatemala immer mehr herumsprechen. Vorerst kann sich der US-Imperialismus auf seine Brückenpfeiler in Mittelamerika verlassen.


Die Pazifikschiene: Vorposten des US-Imperialismus

Dazu zählt auch Mexiko, mit 112 Millionen Einwohnern der bedeutendste Staat Mittelamerikas. Mexiko macht seit Jahren Schlagzeilen mit dem so genannten Drogenkrieg, der seit 2006 etwa 50.000 Tote gefordert haben soll. Nach Einschätzung von Kennern haben verschiedene Drogenkartelle in vielen Teilen des Landes das Sagen. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vom November letzten Jahres kommt zu einem vernichtenden Urteil über die Strategie der Regierung von Staatspräsident Felipe Calderon gegen den Drogenhandel. Unter anderem ist da die Rede von "einem dramatischen Anstieg schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen", von extralegalen Hinrichtungen, systematischer Folter und dem Verschwindenlassen von Menschen. Mexiko wählt am 1. Juli einen neuen Präsidenten. Erstmalig in der Geschichte Mexikos wird eine Frau als chancenreiche Kandidatin antreten. Die frühere Bildungsministerin Josefina Vázquez Mota konnte sich bei den parteiinternen Wahlen der konservativen Regierungspartei PAN gegen den ehemaligen Finanzminister Ernesto Cordero durchsetzen. Die aussichtsreichsten Mitbewerber von Vázquez Mota sind der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Mexiko, Enrique Peña Nieto, von der konservativen Partei der institutionellen Revolution (PRI) und Andrés Manuel López Obrador von der Coalición Progresista um die Partei der demokratischen Revolution (PRD), "eher ein Sammelbecken verschiedener Strömungen und Gruppen im Mitte-Links-Spektrum" (Manuel Burkhart, amerika21.de, 2.2.12). Wer immer die Wahl für sich entscheidet, an der Misere des Landes, das unter Armut, Gewalt und Korruption leidet, wird sich in den nächsten Jahren nicht viel ändern. Das schätzt auch die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in Chiapas so ein und beschäftigt sich weniger mit dem landesweiten Wahlzirkus als mit der Festigung autonomer Strukturen in den Dörfern des lakandonischen Urwalds.

Diese "Ruhe" ist den kolumbianischen FARC nicht vergönnt. Der seit August 2010 amtierende Präsident Juan Manuel Santos will die Guerillaorganisationen FARC und ELN militärisch besiegen und lehnt Friedensverhandlungen bisher kategorisch ab. Mit dieser Strategie gelangen ihm in seiner Amtszeit einige spektakuläre Schläge gegen die Führungsriege der FARC. So z. B. im September 2010 als der Militärchef Jorge Briceño einem Angriff des Militärs zum Opfer fiel. Für die weitere Entwicklung in Kolumbien als fatal wird von friedensorientierten Kräften im Land die Ermordung des obersten Kommandanten Alfonso Cano im November 2011 eingeschätzt, da Cano innerhalb der Organisation stärker als andere auf eine friedliche Lösung gesetzt haben soll. Es spricht wenig dafür, dass es der Regierung in absehbarer Zeit gelingen könnte, die FARC militärisch zu vernichten. Aber auch die FARC dürften für sich keine Möglichkeit einer militärischen Lösung sehen. In einem Kommuniqué mit dem Titel "Ohne Lügen, Santos, ohne Lügen" forderte unlängst Canos Nachfolger Timoleón Jiménez die Regierung zu ernsthaften Friedensverhandlungen auf, bei denen "die Privatisierungen, die Deregulierung, die absolute Freiheit des Handels und der Investitionen, die Umweltzerstörung, die Marktdemokratie, die Militärdoktrin" infrage zu stellen seien. Und er betonte, der interne bewaffnete Konflikt könne nicht gelöst werden, "wenn unsere Stimmen nicht berücksichtigt werden". Die von Präsident Santos gegenüber den linken Guerilleros praktizierte Vernichtungsstrategie ist kein Widerspruch zu seiner außenpolitischen Orientierung. Er lässt den US-Militärs und den ausländischen Konzernen ebenso wie sein Vorgänger Uribe weitgehend freie Hand und beteiligt sich gleichzeitig an den Integrationsbestrebungen der lateinamerikanischen Staaten. Als Interessenvertreter der kolumbianischen Bourgeoisie hat er deren klassenspezifische ökonomische Interessen zu vertreten. Ein feindseliges Verhältnis zum wichtigsten Nachbarn, zu Venezuela, würde die kolumbianische Wirtschaft auf längere Zeit schwächen. Gleiches gilt für die venezolanische Seite. Nur so ist das nunmehr entspanntere Verhältnis der beiden Nachbarstaaten zu erklären. Während die Regierung Santos die Konflikte mit Venezuela und Ecuador weitgehend bereinigen konnte, sorgten die Studierenden des Landes für Furore. Ab September 2011 kam es zu massiven Protestaktionen gegen eine geplante Reform des Bildungsgesetzes. In einem unbefristeten Generalstreik, dem sich 37 staatliche und 17 private Hochschulen anschlossen, gelang es, die Regierung im November zum Einlenken zu bewegen. Mit dem neuen Bildungsgesetz hätten private Investitionen eine wichtigere Rolle bei der Finanzierung der Hochschulen spielen sollen. Außerdem war geplant die Hochschulautonomie erheblich einzuschränken. Alle konservativ regierten Länder setzen auf neoliberale Rezepte im Bildungsbereich. Deshalb kann nicht verwundern, wenn sich SchülerInnen, Studierende und die im Bildungsbereich Beschäftigten etwa zur gleichen Zeit gegen dieses Privatisierungsmodell auflehnten. Am heftigsten in Chile, weil hier die von neoliberalen Ökonomen in der Zeit der Diktatur von Pinochet entwickelten Konzepte am konsequentesten umgesetzt worden waren und auch unter den vier Mitte-Links Regierungen der Concertacion (de Partidos por la Democracia) keine wesentliche Revision erfuhren. Schließlich war man überzeugt, der wirtschaftliche Erfolg würde irgendwann bis zu den benachteiligten Schichten durchschlagen. Das tat er aber nicht, und so entwickelte sich Chile zu einem der Länder Südamerikas mit der größten Einkommensungleichheit. Letztendlich kam noch die Weltwirtschaftskrise von 2009 dazu. Zur Entwicklung Chiles in den vergangenen Jahrzehnten ist ein Artikel in der ARSTI, aufgeteilt in vier Teilen von Nr.167 - 170, sehr zu empfehlen. Die aktuellen Proteste in Chile begannen im April 2011, mündeten im Mai in einen landesweiten Streik, brachten im Juni 300.000 DemonstrantInnen auf die Straße und im August bereits 500.000. Unterstützt wurden die Studierenden und SchülerInnen vom Gewerkschaftsdachverband CUT, der seine eigenen Forderungen einbrachte und der Bewegung eine breite Unterstützung verschaffte. Umfragen zufolge (bei aller Skepsis gegenüber Umfragen) unterstützen 80 Prozent der Bevölkerung diese Forderungen und Präsident Pinera soll nur noch 22 Prozent Zustimmung verzeichnen. Die Regierung jedenfalls versuchte mit härtester Repression die Protestbewegung von der Straße wegzubekommen. Da sie damit erfolglos blieb, bot man im September den Studierenden Verhandlungen an. Der Versuch, mit den Verhandlungen die Bewegung zu spalten, misslang. War schon im Juli der Bildungsminister zurückgetreten (worden), hielt sein Nachfolger gerade mal bis Januar 2012‍ ‍aus. Trotz der grandiosen Mobilisierungserfolge einer neuen Generation, die nicht mehr vom Diktatur-Trauma ihrer Eltern und Großeltern geprägt zu sein scheint, ist vor allzu großer Euphorie zu warnen. Noch sitzt die chilenische Bourgeoisie fest im Sattel. Noch ist die Linke zersplittert und große Teile der Bevölkerung sind weiterhin entpolitisiert bzw. mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt. Aber eins ist auch klar: Das Lateinamerika in seiner heutigen Verfassung würde ein Massaker wie 1973 nicht mehr zulassen. Angesichts der blutigen Exzesse der 70er/80er Jahre sollte man diesen Fortschritt nicht gering achten!


Eine Empfehlung für die europäische Linke

Von Lateinamerika lernen? Ja, lernen ist immer gut. Wir dürfen nur keine Rezepte erwarten um sie hier anzuwenden. Das würde nicht funktionieren. Und günstiger für radikale gesellschaftliche Veränderungen waren und sind die Bedingungen in Lateinamerika auch nicht als in Europa. Dazu hat sich Alvaro Garcia Linera, Vizepräsident Boliviens in einem Gespräch vom Januar 2011 geäußert: "Wir hatten eine Situation, die noch viel rabiater neoliberal war, als das heute in Europa der Fall ist, wo zumindest gewisse Vorbehalte vorhanden sind ­... Doch kaum je hatten wir Anlass zur Hoffnung. Vor einem Dutzend Jahren mussten wir uns sagen: Vergeblich werden wir wohl immer wieder das Gleiche versuchen, bis wir sterben. Klar ist: Die Kräfte sind nicht statisch. Auch nicht in Europa. Ich stelle fest, dass das Europa von heute nicht mehr das Europa von vor zehn Jahren ist: Heute gibt es keine Begeisterung mehr. Es gelingt nicht mehr, die Leute mitzureißen ... Es gibt keine aktive Hegemonie der Eliten und des konservativen Projektes mehr ... Und die Linke weiß immer noch nicht, wohin sie sich wenden soll ... Eher das Gegenteil ist der Fall, man ist irritiert und hilflos gegenüber einer erstarkenden vorgestrigen Ultrarechten. Und es gibt keine Rezepte. Wenn wir hier bei uns in Bolivien Rezepte gesucht hätten, dann hätten wir uns eingereiht in die bequeme Schlange und gewartet, bis der Sozialismus ausgerufen wird. Wir würden heute noch da stehen. Nein, vielmehr muss man sehr aufmerksam sein, kreativ und offen, den Puls der Gesellschaft dauernd messen ... Und wir müssen immer bereit sein, die Gelegenheiten am Schopf zu packen. Und von den zehntausend Türen, an die wir klopfen, wird eine sich plötzlich auftun." (aus: Vom Rand ins Zentrum, Zürich 2012, S.30/31)

Stand: 20.2.2012 hd

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 175, Frühjahr 2012, Seite 15 bis 20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2012