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ARBEITERSTIMME/233: Arbeitswelt prekär


Arbeiterstimme, Frühjahr 2011, Nr. 171
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Arbeitswelt prekär


Anfang der 90er Jahre wurde die Arbeitnehmerüberlassung Schritt für Schrift dereguliert. In der Zeit davor war es den Unternehmern nur für einen eng begrenzten Zeitraum möglich befristete Arbeitskräfte oder Zeitarbeitskräfte einzustellen. Auf diese Möglichkeit griffen sie immer dann zurück, wenn ein Beschäftigter für eine absehbare Zeit ausfiel, wie beispielsweise für die Mutterschutz-Zeit, wegen einer länger dauernden Krankheit, oder auch wegen einer Wehrübung. Die Deregulierung erreichte ihren Höhepunkt unter der von Schröder geführten Bundesregierung. Unter der Agide der Sozialdemokratie wurden 2004 das Befristungs-, das Wiedereinstellungs- und das Synchronisationsverbot abgeschafft. Auch die maximale Überlassungsdauer der Arbeitskräfte an einen Entleiher wurde freigegeben. Im Grunde genommen wurde damit, durch die Hartz-Reformen, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz völlig obsolet. Seither bieten sich den Unternehmern sehr weitgehende Möglichkeiten Druck auf die Stamm-Beschäftigten auszuüben und die Gewerkschaften in den Betrieben zu schwächen. Davon will heute die Sozialdemokratie natürlich nichts mehr wissen. Lieber spielt sie sich als "Hüter der Rechte des kleinen Mannes" auf.

Offiziell wurde die Deregulierung damals von Kapital und Sozialdemokratie damit begründet, dass die Betriebe im Rahmen der Globalisierung der Weltwirtschaft flexibler sein müssten um wettbewerbsfähig zu bleiben und die Zeitarbeit darüber hinaus eine Brücke von der Arbeitslosigkeit in die Festanstellung sei.

In der Folgezeit entwickelte sich die Zeitarbeit in einem unwahrscheinlichen Tempo. Waren es 2004 noch 326.000 Leiharbeiter, so waren es im Oktober 2006 bereits doppelt so viele. Und nach einem Einbruch während der Weltwirtschaftskrise, bewegt sich die Zeitarbeitsbranche heute auf die Millionengrenze an Beschäftigten zu. Der Charakter der Zeitarbeit wird deutlich, wenn man sich anschaut, woher die Arbeitskräfte die dort arbeiten, kommen. Das IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) in Nürnberg führt eine Arbeitnehmerüberlassungsstatistik (ANUSTAT). Nach dieser kommen zwei Drittel der Arbeitskräfte, die bei einer Zeitarbeit anfangen direkt aus der Arbeitslosigkeit. Ein Drittel der vormals arbeitslosen Leiharbeiter hat auch nach der Zeitarbeit keinen Job. Lediglich etwa 7 Prozent der Leiharbeiter waren im Zweijahreszeitraum vor ihrer Einstellung mindestens ein Jahr außerhalb der Leiharbeit beschäftigt. Die Zahlen belegen: das Gerede von der Brücke zu einem festen Arbeitsplatz durch die Leiharbeit gehört in den Bereich der Märchen. Auch das Argument, Zeitarbeit sei für die Betriebe aus Gründen der Flexibilität erforderlich, ist nicht haltbar. Auch in der Vergangenheit reagierten die Betriebe flexibel auf einen unerwarteten Auftragseingang. Das Erwirtschaften zusätzlicher Profite lässt sich kein Kapitalist nehmen. Allerdings war das in der Vergangenheit etwas teuerer. Sonderschichten, Überstunden und Neueinstellungen verursachen für ihn höhere Kosten, als der Rückgriff auf eine Zeitfirma.

Doch auch darin ist nicht die Begeisterung der Unternehmer für diese Beschäftigungsform zu suchen. Ihnen geht es um die grundsätzliche Umgestaltung der Arbeitswelt. Das wollen allerdings weder die Unternehmer, noch ihre Lobby in den Parlamenten offen sagen. Deshalb wird gelogen, dass sich die Balken biegen. So behauptet Kannegießer von Gesamtmetall frech, dass durch die Zeitarbeit keine Verdrängung regulärer Arbeitsplätze stattfände. Die Erfahrungen der Gewerkschaften und Betriebsräte sprechen dagegen eine andere Sprache. Wie die IG Metall festgestellt hat, besteht das hochgejubelte deutsche "Job-Wunder" zu 85 Prozent aus Neueinstellungen, die in dem prekären Bereich verbucht werden müssen. Die Hälfte davon sind Leiharbeiter, die andere Hälfte sind Beschäftigte mit einer zeitlichen Befristung. Dabei sind Dumpinglöhne, das zeigt eine aktuelle DGB-Studie, an der Tagesordnung. Die Löhne liegen dabei teilweise so niedrig, dass Mitte 2010 rund 92.000 Beschäftigte - und das ist jeder achte - zu den so genannten Aufstockern zählten. Das heißt, das Entgelt dieser Menschen reichte alleine nicht zum Leben und wird deshalb durch Hartz IV subventioniert. Doch auch die übrigen können von ihren Löhnen nicht gerade üppig leben. Die Lohnunterschiede zu Beschäftigten in anderen Branchen sind riesig. So lag das mittlere Bruttoeinkommen aller Vollzeitbeschäftigten 2009 bei 2805 Euro im Monat gegenüber 1456 Euro für Leiharbeiter, was einem Lohngefälle von 48,1 Prozent entspricht. Und dieser Abstand ist in den vergangenen Jahren sogar noch größer geworden. Nach der Studie des DGB kommen "nur 19,1 Prozent der bei Verleihfirmen Beschäftigten auf monatlich mehr als 2000 Euro brutto. In der gesamten Wirtschaft gilt dies dagegen für gut 70 Prozent der Vollzeitbeschäftigten. Bundesweit erhielten ein Zehntel aller Beschäftigten weniger als 1000 Euro im Monat, im Osten sind es 20 Prozent". In diese soziale Lage werden jetzt nach der Krise immer mehr Werktätige gedrängt. Dabei ist die Diskriminierung in Entlohnungsfragen noch nicht alles. Am Arbeitsplatz in den Betrieben findet sie ihre Fortsetzung. Stammbelegschaft und vielfach auch Betriebsräte verhalten sich oft wenig solidarisch gegenüber diesem Belegschaftskreis. Von Ausnahmen in den Betrieben der Automobilindustrie abgesehen, pochen die Betriebsräte selten auf gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Und meistens ist man sogar in Betriebsräten und Stammbelegschaften darüber heimlich froh, dass es dieses "Ventil" der Leiharbeit gibt. Bei Auftragsrückgängen und Beschäftigungsproblemen können diese KollegInnen "problemlos" abgeschoben werden. Wenn das geschieht, gibt es keine sichtbare Resonanz bei der Stammbelegschaft. Diese sieht die Leiharbeiter nicht als Belegschaftsteil und damit als Kollegen mit denen man solidarisch ist.

Die Kapitalisten wollen natürlich an diesen Zuständen nichts ändern. Es liegt in ihrem Interesse, wenn Belegschaft sich spalten. Mit dem Einsatz von immer mehr Leiharbeitern geht ihre Taktik des "teile und herrsche" voll auf. Sie glauben damit den Hebel gefunden zu haben, die Löhne auf Dauer niedrig zu halten und sogar noch weiter zu drücken. Davon zeugen die Verlautbarungen ihrer Verbandsoberen. Kannegießer und Hundt fordern gegenüber der Bundesregierung für die Zukunft noch mehr "Flexibilität". Also noch mehr Zeitarbeit, noch mehr Befristungen und Teilzeitarbeit zu Billigkonditionen. Und die Politik unterstützt sie dabei. So sind die Anfang Februar veröffentlichten Pläne der Koalition, dass Rentner zukünftig neben ihrer Rente mehr hinzuverdienen dürfen, ein Beleg dafür. Besonders die FDP macht sich dafür stark, dass Rentner bis zur Höhe ihres letzten Bruttoentgelts hinzuverdienen dürfen. Welche Möglichkeiten für Kapitalisten auf Billigarbeitskräfte zurückzugreifen. In Zukunft werden immer mehr Rentner auf grund des Sozialkahlschlags der zurückliegenden Jahre in die Altersarmut gestoßen. Es wird ihnen gar nichts anderes übrig bleiben als einen Zusatzjob zu suchen. Egal zu welchen Konditionen. So wird man sicher auch in Zukunft hierzulande, wie heute schon in den USA, 80jährige sehen, die sich zur Arbeit schleppen.

Noch nimmt die Arbeiterklasse diese ganzen Verschlechterungen ihrer Lebensverhältnisse hin. Allerdings ist im Moment noch immer nicht eine Mehrheit davon betroffen. Mit breiten offensiven Widerstandsaktionen ist deshalb vorerst nicht zu rechnen. Aber das einstige Vertrauen in die Sicherheit und Zukunft unter kapitalistischen Verhältnissen ist dahin. Die Stimmung in den Betrieben und im Lande ist schlecht und wenig optimistisch. Eine Ahnung, dass die kapitalistischen Verhältnisse weiter niedergehen ist inzwischen in der Klasse vorhanden. Erst wenn sie aber zur Gewissheit wird, kann wirkliche Bewegung und Bewusstsein entstehen. Das ist die Voraussetzung dass sich die Verhältnisse ändern.


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 171, Frühjahr 2011, S. 10-11
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2011