Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

ARBEITERSTIMME/216: Die Finanzkrise - 2. Akt eines kapitalistischen Dramas


Arbeiterstimme, Sommer 2010, Nr. 168
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Die Finanzkrise

2. Akt eines kapitalistischen Dramas


Am 15. September 2008 erreichte die Finanzkrise mit der Pleite der Investment-Bank Lehman Brothers ihren ersten offensichtlichen Höhepunkt. Die führenden kapitalistischen Saaten entfalteten in dieser Krisensituation eine hektische Betriebsamkeit. Sie engagierten sich mit milliardenschweren Rettungsprogrammen für ihren Bankensektor und versuchten die Krise durch Konjunkturprogramme abzumildern. Dafür nahmen sie auch einen markanten Anstieg der Staatsverschuldung in Kauf, obwohl die Politiker selbst, ihre Ratgeber aus der bürgerlichen Ökonomie und ein großer Teil der veröffentlichten Meinung, dies kurz vorher noch als völlig unakzeptabel hingestellt hatten.

Nach gut einem Jahr schien Anfang 2010 die akute Krise überwunden zu sein. Die Wirtschaft in vielen Ländern konnte wieder ein, wenn auch meistens bescheidenes, Wachstum erreichen. Die Aktienmärkte hatten sich wieder erholt. Auch bei der Arbeitslosigkeit zeigten sich Anzeichen einer Besserung. Dieser Erholungs- und Normalisierungsprozess, der aus der Krise heraus und auf den gewohnten Pfad der kapitalistischen Prosperität führen sollte, wurde dann durch die Zuspitzung der Schuldenkrise in Griechenland unterbrochen.


Es begann als Griechenland Krise

Griechenland war das schwächstes Glied der Kette. Der griechische Staat ist mit ca. 115% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verschuldet, davon zu etwa 30% im Inland, hauptsächlich bei den griechischen Banken, der Rest vor allem im europäischen Ausland. Als alarmierend wird insbesondere angesehen, dass die Verschuldungsdynamik ungebrochen ist. In 2010 muss Griechenland zusätzliche Schulden in der Höhe von 13,6% seines BIP aufnehmen. Außerdem wird die griechische Wirtschaft allgemein als schwach eingeschätzt. Griechenland hat schon seit vielen Jahren ein Handels- und Leistungsbilanzdefizit. Die griechischen Unternehmen gelten als international wenig konkurrenzfähig. Die meisten Beobachter sind der Meinung, dass es praktisch keine Branchen oder Sektoren gibt, von denen in naher Zukunft stärkere Wachstumsimpulse ausgehen könnten. Griechenland wird auch immer wieder eine sehr schlechte Steuermoral und eine dementsprechend große Schattenwirtschaft nachgesagt. Der Anteil des Staates an der Wirtschaftsleistung ist im europäischen Vergleich hoch, aber der staatliche Sektor und die Verwaltung werden als ineffektiv beschrieben. Bei der Besetzung von staatlichen Stellen soll es einen ausgeprägten Klientelismus geben.

Diese Situation war aber keineswegs neu. Die EU z.B. hatte schon 2007 erneut (es gab bereits ein Verfahren von 2004 bis 2006) ein Defizitverfahren wegen Überschreitung der Grenze von 3% eingeleitet. Das einzige wirklich neue Ereignis war, dass die neu gewählte PASOK-Regierung im Herbst 2009 einen Kassensturz machte (was eigentlich jede neue Regierung macht) und dabei offiziell bestätigt wurde, was vorher ein offenes Geheimnis war. Die frühere(n) griechische(n) Regierung(en) hatten bei ihren statistischen Meldungen geschummelt. Die Verschuldung Griechenlands war in Wirklichkeit größer als bisher offiziell zugegeben. Die erwartete (Netto-) Neuverschuldung für 2010 erreichte so nach mehreren Korrekturen nach oben den Wert von 13,6%.

Diesmal wurde das nicht als eine (schlechte) Nachricht unter anderen Nachrichten verbucht, sondern die "Märkte" reagierten. Die Zinsaufschläge bei Staatsanleihen, die sogenannten Spreads, die Griechenland im Vergleich zu anderen Schuldnern wie etwa Deutschland zahlen muss, stiegen stark an. Die Versuche gegenzusteuern zeigten wenig Wirkung. Am 24. Januar 2010 legt die griechische Regierung ein Stabilisierungsprogramm mit weitreichenden Sparzielen vor. Am 11. Februar 2010 stellen die Staats- und Regierungschefs der EU eine (nur vage beschriebene Hilfe) für den Notfall in Aussicht (und drängen auf weitere Sparmaßnahmen). Am 3. März 2010 kündigte die griechische Regierung zusätzliche Schritte zur Begrenzung des Staatsdefizits an. Aber die Regierungen scheinen von den Finanzmärkten vor sich hergetrieben zu werden und den Ereignissen hinterherzulaufen. Griechenland brauchte aber relativ kurzfristig Geld. Weniger wegen der genannten Neuverschuldung, sondern weil alte Anleihen im Wert von etlichen zig Milliarden Ende Mai und Anfang Juni auslaufen und zur Rückzahlung fällig werden. Natürlich ist kein Geld vorhanden, um diese Anleihen wirklich zurückzuzahlen. Es müssen rechtzeitig neue Anleihen aufgelegt werden, damit die alten abgelöst werden können. Normalerweise ist das für die Finanzverwaltung ein rein technischer Vorgang, der in jedem Staat mehrmals jährlich durchgeführt wird und dem die Öffentlichkeit keine Beachtung schenkt. Diesmal war es anders.

Im Verlauf von wenigen Wochen wurde klar, Griechenland kann auf dem privaten Kapitalmarkt, wenn überhaupt, neue Mittel nur zu wesentlich höheren Zinsen (statt 4-5%, jetzt mindestens 10% und teilweise bis 18%) aufnehmen. Zinsen in dieser Größenordnung, die ja für viele Jahre auf die Staatsanleihen hätten gezahlt werden müssen, würde die finanzielle Leistungsfähigkeit überfordern, es drohte die Zahlungsunfähigkeit. Gleichzeitig gerieten auch andere Euro-Länder besonders Portugal und Spanien ins Visier der Märkte. Auch bei diesen Ländern stiegen die Spreads an. Spätestens als die beiden Ratingagenturen Standard & Poor's und Moody's die Bonität von Griechenland, aber auch von Portugal und Spanien herunterstuften, ist aus der Griechenland-Krise eine Euro-Krise geworden.


... und wurde eine Euro-Krise

Es ging jetzt nicht mehr nur um einzelne Länder, der Zusammenhalt der ganzen Euro-Zone schien in Gefahr. Zu diesem Zeitpunkt musste schnell gehandelt werden und es standen im Prinzip nur zwei Wege zur Verfügung.

1. Griechenland erklärt in naher Zukunft seine Zahlungsunfähigkeit und verhandelt mit seinen Gläubigern über eine Umschuldung.

2. Griechenland erhält weiterhin Kredit zu erträglichen Zinsen, um zumindest Zeit zu gewinnen.

Erst zu diesem Zeitpunkt waren die Euro-Länder und insbesondere Deutschland bereit mit einem großen Paket an Kreditzusagen Griechenland beizuspringen. Insgesamt wurden Kreditzusagen von ca. 110 Milliarden Euro, davon 30 Milliarden durch den IWF, aufgebracht. Die griechische Regierung musste im Gegenzug ein sehr hartes Spar- und Sanierungskonzept akzeptieren (siehe Kasten auf Seite 4). Die von den jeweiligen europäischen Staaten verbürgten Kredite sollen (zur Zeit) mit 5% verzinst werden.

Weil dieses Rettungspaket aber offensichtlich noch nicht ausreichte, um die Märkte zu beruhigen, wurde eine Woche später (am 8./9. Mai) ein weiteres, noch viel größeres Paket geschnürt. Die EU Länder und der IWF kündigten an, im Notfall bis zu 750 Milliarden Euro (500 Milliarden die EU-Länder, 250 Milliarden der IWF) aufzuwenden, um eventuell in Schwierigkeiten geratene Länder zu unterstützen, den Euro zu verteidigen und die europäische Währungsunion zusammenzuhalten.

Zum Verständnis der Krise ist wesentlich, dass die beteiligten Länder Mitglieder der Euro-Zone sind. Dadurch gibt es eine Reihe von Besonderheiten, die bei Staaten mit einer eigenen Währung so nicht vorhanden sind. Die Mitglieder der Euro-Zone haben die Souveränität über die Geldpolitik an die EZB abgegeben. Diese macht eine einheitliche Geldpolitik, die naturgemäß für alle 16 Euro-Länder gleich ist. Dagegen gibt es nach wie vor eine getrennte Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik durch die Einzelregierungen. Aus dieser Konstellation können sich Widersprüche zwischen einzelnen Teilen der Währungsunion ergeben. Die Hoffnungen, dass sich die Unterschiede gleichsam naturwüchsig im Laufe der Zeit ausgleichen, haben sich nicht erfüllt. Eine Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in den Euro-Ländern hat nach der Einführung der gemeinsamen Währung nur zu einem geringen Ausmaß stattgefunden. Zudem wurden (vermeintliche) Fortschritte in einigen Ländern durch die Krise wieder zunichte gemacht. Ein Beispiel dafür ist Spanien, das etliche Jahre ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum erreichte. In der Krise stellte sich der spanische Immobilienboom, der einen Großteil des Wachstums bedingte, als hausgemachte Immobilienblase heraus. Die sogenannten Konvergenzkriterien (weniger als 3% des BIP staatliches Defizit, weniger als 60% kumulierte Verschuldung, Inflationsrate kleiner als 2%) sollten für eine relativ einheitliche Politik und Entwicklung sorgen, wurden und werden aber nicht wirklich eingehalten. (Auch von Deutschland nicht, aber speziell in Deutschland gelten diese Regeln in der veröffentlichten Meinung als sakrosankt und es findet kaum mehr eine Diskussion über deren Sinnhaftigkeit, und welchen Interessen damit gedient ist, statt). Die Unterschiede zwischen den wirtschaftlich starken Ländern mit guter Konkurrenzfähigkeit und Leistungsbilanzüberschuss (in 2009 waren das Deutschland, Niederlande, Österreich, Finnland und Belgien) und schwache Länder, die wenig konkurrenzfähige Waren herstellen und (meistens) chronischen Leistungsbilanzdefiziten (2009 vor allem Portugal, Griechenland, Spanien, Irland aber auch Italien und Frankreich) haben sich seit der Euro-Einführung also nicht eingeebnet sondern eher noch vertieft. In Wirklichkeit ist die Situation natürlich viel komplizierter, weil die Länder keinesfalls in sich einheitlich sind. Ein klassisches Beispiel dafür ist Italien mit den großen Unterschieden zwischen Nord- und Süditalien.

Gleichwohl haben fast alle beteiligten Länder jahrelang von der gemeinsamen Währung profitiert. Die hochverschuldeten Staaten konnten Einfuhren von außerhalb der Euro-Zone mit dem starken Euro relativ günstig tätigen und Kredite zu vergleichsweise günstigen Konditionen aufnehmen. Bis Mitte 2008 lagen die Zinssätze für Staatsanleihen für alle Staaten der Euro-Zone sehr nahe beieinander. Erst danach entwickelten sich deutlichere Unterschiede.

Auch exportstarke Länder mit einem Handelsbilanzüberschuss zu anderen Euro-Ländern sind mit der gemeinsamen Währung gut gefahren. Der Euro verbindet z.B. Deutschland mit vielen wichtigen Handelspartnern mit einem quasi unsichtbaren Wechselkursverhältnis (das bei der Einführung des Euro festgelegt wurde). Da die Lohnstückkosten in Deutschland seit der Einführung des Euro gesunken sind (etwa um 6%) in den anderen Ländern aber um durchschnittlich 5% gestiegen sind, hat sich das Verhältnis zugunsten der deutschen Exporteure verschoben. Man kann also die Euro-Zone als Revier der deutschen Exportwirtschaft sehen, in dem es Konkurrenten aus anderen Ländern immer schwerer haben. Seit der Einführung des Euro steht den anderen Ländern die Möglichkeit mit einer Abwertung ihre internationale Konkurrenzfähigkeit zu verbessern nicht mehr offen. (Allerdings darf man nicht vergessen, dass auch Abwertungen erhebliche Probleme wie steigende Preisen etc. mit sich bringen können). In diesen Sachverhalt ist sicher auch ein Grund zu finden, dass das deutsche Kapital und seine Interessenvertretung der Staat, die Entwicklung der Verhältnisse und die Abweichung von dem nach außen propagierten Stabilitätspakt, ohne allzu großen Widerstand zugelassen hat. Unterstützung für finanziell schwächere Länder widerspricht also nicht gänzlich dem egoistischen Interesse Deutschlands (sprich des deutschen Kapitals).

Auch wenn die einzelnen europäischen Länder gemäß ihrer Interessen zuerst unterschiedliche Positionen bezogen und unterschiedlich taktierten, wurde doch klar, worauf es ihnen ankam. Sie wollten in jedem Fall verhindern, dass erstens Länder zahlungsunfähig werden und in der Folge Banken zusammenbrechen u.ä. und zweitens wollten sie gemeinsame Handlungsfähigkeit demonstrieren, um dadurch Zweifel an der Überlebensfähigkeit der Währungsunion zu zerstreuen.

Mit dem ersten Punkt haben sich auch wieder die Interessen des Finanzkapitals und der Banken durchgesetzt. Wie bereits 2008 haben die Regierungen nach der Devise gehandelt, die sich nach der Pleite von Lehman etabliert hat: Es darf keine Pleite von großen Banken mehr geben. Anscheinend sind die Regierungen und andere Institutionen wie Notenbanken, IWF etc. zu der Schlussfolgerung gelangt, dass eine nicht mehr beherrschbare Ausweitung der Krise droht, die auf jeden Fall verhindert werden muss. Nicht nur der Euro als Währung wäre dadurch in Gefahr gekommen, sondern auch die allgemeine kapitalistische Krise hätte sich zu einer Systemkrise ausweiten können, mit unabsehbaren Folgen. Um das zu verhindern, waren sie bereit vorher undenkbare Summen an Geld zuzusagen, bisher hochgehaltene Grundsätze (EZB kauft keine Staatsanleihen) über Bord zu werfen und auch alle sonstigen unterschiedlichen Interessen hintanzustellen, um in kurzer Zeit ein Ergebnis den "Märkten" präsentieren zu können.

Der zweite Punkt ob und in welcher Art die europäischen Regierungen weiterhin kooperieren können, wieweit sie also als Gemeinschaft handlungsfähig bleiben, ist nicht nur für das Krisenmanagement bedeutsam. Langfristig entscheidet sich dadurch wie sich die Position des Europäischen Kapitals gegen die USA, Japan, China etc. entwickeln wird. Welche gemeinsame Linie die EU als Ganzes und die Währungsunion im besonderen in Zukunft einschlagen wird ist aber durch das Schnüren der Hilfspakete noch keineswegs entschieden. Die Auseinandersetzungen sind gerade eröffnet worden.

Es geht um die Frage wer wie viel bezahlen muss, welche Länder und innerhalb dieser Länder welche Klassen. Es geht aber auch um die Weiterentwicklung der europäischen Zusammenarbeit z.B in Richtung einer "Transfer-Gemeinschaft", also einem innereuropäischen Ausgleich (nach welchen Kriterien?) zwischen den Ländern und oder der Entwicklung hin zu einer europäischen "Wirtschaftsregierung" mit weiterer Übertragung von Souveränitätsrechten nach Brüssel. Der Euro-Raum war anfällig für die Krise, weil es auf der einen Seite große Unterschiede gibt, auf der anderen Seite die gemeinsame Währung es den einzelnen Ländern erschwert flexibel zu reagieren. Notwendig wäre in dieser Situation eine Politik des Abbaus der Unterschiede.

Die starken Länder und ihre herrschenden Klassen haben solche Möglichkeiten bisher abgelehnt und verhindert. Bis jetzt galt das sogenannte "Bail out-Verbot". Es ist aber auch für bürgerliche Ökonomen offensichtlich, dass die jetzt allenthalben verschärfte Sparpolitik unzureichend ist. Es wurde oben schon angedeutet, dass die ablehnende Haltung z.B. auch für die deutsche Bourgeoisie nicht grenzenlos gültig ist. Eine zu kompromisslose Haltung und einer daraus folgenden zu starken Verschärfung der Krise in den eher schwachen Ländern, bringt die Gefahr einer Schwächung der Euro-Zone als Ganzes mit sich oder vielleicht sogar die Gefahr einer Spaltung und das Entstehen von mehreren konkurrierenden Blöcken. Eine solche Spaltung will anscheinend niemand, die Vorteile der Währungsunion insbesondere auf lange Sicht überwiegen bei weitem.


Spekulation?

Es ist schon interessant zu sehen wenn Politiker und bekennende Neoliberale, die bisher zu den eifrigsten Verteidigern der "Freiheit der Märkte" gehörten, plötzlich sichtlich genervt vom Krieg der Spekulanten gegen den Euro sprechen.

Was sind aber Spekulanten? Es ist seit langem bekannt, dass spekulative Geschäfte, spekulativ in dem Sinne, dass es für die Geschäfte keine direkte Verbindung zur Realwirtschaft gibt, an den Finanzmärkten stark zugenommen haben. Z.B. wird auf den Devisenmärkten täglich ein Vielfaches der Summe gehandelt, die für Importe, Tourismus und sonstige grenzüberschreitende Zahlungen notwendig wäre. Es ist auch bekannt, dass die sogenannten "innovativen Finanzinstrumente" es prinzipiell möglich machen, auch bei fallenden Kursen - genau wegen dieser fallende Kurse - Geld zu verdienen und nicht nur die Verluste zu minimieren. Wer ist also Spekulant? Alle, die sich an solchen und ähnlichen Geschäften irgendwie beteiligen? Dann besteht die gesamte Finanzbranche aus Spekulanten.

Wenn Politiker von Spekulation sprechen, die es abzuwehren gilt, gehen sie wahrscheinlich von einer anderen Definition aus. Für sie sind die Spekulanten der Teil des Finanzkapitals, der sich nicht in nationale, europäische oder sonstige übergeordnete Zusammenhänge einbinden lässt, sondern rücksichtslos seine Interessen verfolgt (auch gegen die Politik). Die Spekulanten sind also das Finanzkapital quasi in reiner Form, während andere Teile des Finanzkapitals zu Absprachen bereit sind und sich in politische Strategien einbinden lassen. Natürlich ist dieser Unterschied kein moralischer, sondern in erster Linie durch die unterschiedliche Einbindung in die jeweiligen wirtschaftlichen Zusammenhänge und damit verbundenen Abhängigkeiten und konkreten Interessenlagen begründet. Die Trennung in Spekulant/nicht-Spekulant ist fragil, denn je nach Entwicklung der Lage kann aus einem "verantwortungsvollen Bankier" schnell ein Spekulant werden und ein Spekulant plötzlich zum Spezialisten für komplizierte Finanzfragen und gefragten Ratgeber mutieren.

In der Presse (z.B. Süddeutsche Zeitung vom 11. Mai 2010 Seite 3) wurde von einem Treffen dreier Hedge-Fonds Manager im Februar dieses Jahres in New York berichtet. Das damalige Treffen soll der Ausgangspunkt der Spekulation gegen griechische Staatsanleihen und/oder gegen den Euro gewesen sein. Es liegen nicht genügend Informationen vor, um beurteilen zu können, ob das wirklich so war und welche Bedeutung eventuell diese und andere Großspekulanten in den Ereignissen gespielt haben. Es wäre aber denkbar, dass die individuelle Einschätzung von einigen wenigen Personen, die aber über den Einsatz von etlichen Milliarden Dollar entscheiden können, wesentlichen Einfluss darauf hatte, dass Griechenland und der Euro im Fokus der Märkte standen und nicht irgendein anderes Problem der Weltwirtschaft. Spekulation ist sicher nicht die eigentliche Ursache der Marktbewegungen, aber ohne Zweifel kann sie zur Beschleunigung von Marktbewegungen und zur Verschärfung von Krisenerscheinungen führen. Für Politiker eignen sich Spekulanten als bequemes Feindbild für populistisch fein dosierten (Pseudo-) Antikapitalismus, nicht unplausibel aber doch vom Kern der Sache ablenkend.


... und aus der Euro-Krise könnte sich eine allgemeine Schuldenkrise entwickeln

Griechenland ist kein Einzelfall. Auch mit den anderen häufig genannten Ländern wie Portugal, Spanien, Irland und Italien ist es nicht getan. Letztlich sind alle Länder hoch verschuldet und die Dynamik der Verschuldung hat sich durch den bisherigen Verlauf der Finanzkrise (Bankenrettungsprogramme, sinkende staatliche Einnahmen) wieder beschleunigt. Selbstverständlich sind nicht nur Euro-Länder betroffen. Großbritannien hat ein Defizit von über 12% des BIP bei 78% Staatsverschuldung, in Japan beläuft sich die akkumulierte Staatsverschuldung auf über 200% des BIP und insbesondere auch die USA haben enorme Schulden angehäuft (9,3% zu 92%). Dazu sind in den USA auch noch viele private Haushalte stark verschuldet. Die USA sind aufgrund des chronischen Leistungsbilanzdefizites darauf angewiesen, dass kontinuierlich Milliardenbeträge in ihr Land fließen.

Die Finanzmärkte müssen also zur Kenntnis nehmen, dass die bisher als zwar nicht besonders profitabel, dafür aber als besonders sicher geltenden Kapitalanlagen in Staatspapieren der Industriestaaten in der kapitalistischen Realität nicht mehr absolut sicher sind. Das Finanzkapital muss sich mit der (gar nicht mehr so unwahrscheinlichen) Möglichkeit auseinandersetzen, dass die Zinszahlungen für dieses Kapital ins Stocken geraten könnten und sogar darüber hinaus ein mehr oder weniger großer Teil des eingesetzten Kapitals durch Umschuldungen verloren gehen könnte.

Marxisten wissen schon immer, dass der Finanzsektor keinen Mehrwert produziert (auch wenn in der bürgerlichen Ökonomie von der Wertschöpfung im Finanzbereich die Rede ist). Was das Finanzkapital allerdings macht, ist sich einen (erheblichen) Teil des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts anzueignen. Dies hat in den Jahrzehnt(en) vor dem Ausbruch der Finanzkrise besonders gut funktioniert. Ein entwickelter und dementsprechend großer Finanzsektor stand und steht für den höchst entwickelten und modernsten Kapitalismus. Der Finanzsektor war (und ist es letztlich immer noch) einer der profitabelsten Sektoren der kapitalistischen Wirtschaft. (Man denke nur an Ackermann und sein Ziel von 25% Rendite bezogen auf das Eigenkapital der Deutschen Bank).

Ermöglicht werden solche Profitraten durch die ungeheure Konzentration an Kapital, die im Finanzsektor wirksam wird. Man braucht sich nur vorstellen wie viele Autos produziert und verkauft werden müssen, um einen Umsatz von einer Milliarde zu erreichen. Bei einem Preis von 20.000 EUR wären das immerhin 50.000 Stück. Wie viele Menschen und welche Maschinerie muss in Bewegung gesetzt werden um 50 000 Autos zu produzieren? Im Herzen der Finanzbranche kann eine Transaktion von einer Milliarde von einer Person an einem Tag getätigt werden. Klar, das ist nicht generell in der Finanzbranche so. Milliarden pro Transaktion gibt es nur in wenigen führenden Firmen wie etwa Großbanken, Hedgefonds oder den Finanzabteilungen einiger Großkonzerne. Selbstverständlich hat auch der Händler, der solche Transaktionen tätigen kann, ein Umfeld aus etlichen Leuten, die ihm zuarbeiten und kontrollieren. Trotzdem bleibt der Unterschied zwischen Finanzbranche und produzierender Industrie in Bezug auf den Konzentrationsgrad des eingesetzten Kapitals frappant. (Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Die einzelnen Transaktionen erreichen natürlich keine 25% Gewinn, im Gegenteil die Margen sind im Vergleich mit der produzierenden Wirtschaft sogar ziemlich gering. Aber die ungeheure Masse des Kapitals, das auch sehr schnell umgeschlagen werden kann, führt aufs Jahr gerechnet zu den hohen Profitraten.)

In den guten Jahren konnte der Eindruck entstehen, dass im Finanzbereich Gewinne rein aus Kapital also aus sich selbst heraus entstehen können. Diese Illusion entlarvt sich immer deutlicher. Die akkumulierten Kapitalmassen finden immer schwerer eine wirklich produktive, also Mehrwert produzierende Anlagemöglichkeit. Stattdessen drängen sie sich in immer größeren Ausmaß in Bereiche die unproduktiv sind, aber in denen vorübergehend durch starke Preissteigerungen ein scheinbarer Wertzuwachs erfolgt, der sich aber früher oder später als Illusion herausstellen muss. Die Blase bei den Immobilienpreisen war ein geradezu klassisches Beispiel dafür.


Der zwiespältige Charakter der Staatsverschuldung

Auch wenn von neoliberaler Seite schon seit langem gegen hohe Staatsanteile argumentiert wird und die Reduzierung der Staatsverschuldung eine ihrer Standardforderungen ist, ist die Rolle des Staates und der Staatsverschuldung auch aus Sicht des Kapitals durchaus eine zwiespältige. Denn die Schulden des einen sind der (verzinste) Besitz des anderen. Den riesigen Schulden stehen ebenso riesige Vermögen gegenüber die sich durch Zinsen verwerten sollen und bisher auch konnten. Durch ihre Kreditaufnahme verschaffen die Staaten dem Finanzkapital auch Anlagemöglichkeiten und erlauben vielen Besitzenden die sichere, stabile und (scheinbar risikolose) Verwertung ihres Vermögens. Wegen der Sicherheit war man bereit niedrigere Renditen in Kauf zu nehmen. In Zeiten der Wachstumsschwäche und der Krise, in denen nur geringer Kapitalhunger von Seiten des produzierenden Kapitals besteht, wäre diese Anlagemöglichkeit besonders willkommen. Wenn die Sicherheit nicht gefährdet wäre. Ist das der Fall bzw. wird das vermutet, setzt eine Absetzbewegung ein, die bei jeder Verschärfung der Krise leicht zur Flucht und zur Panik führen kann. Gleichzeitig verschärfen sich die politischen Forderungen, die Staaten sollten gefälligst durch Sparmaßnahmen etc. die Bedienung ihrer Schulden absichern. Aber auch das ist nicht widerspruchsfrei.

Denn Staatsverschuldung ist auch ein Weg angesammeltes (Geld) Kapital wieder in den volkswirtschaftlichen Kreislauf einzuschleusen. Vielleicht für die in Frage stehenden riesigen Kapitalmassen der einzige Weg, wenn die Wachstumsdynamik sich verlangsamt und die naturwüchsige Nachfrage nach Kredit zurückgeht. Deshalb ist die Austeritätspolitik, die jetzt allenthalben vorangetrieben wird auch aus kapitalistischer Sicht ein zweischneidiges Schwert. Der angekündigte harte Sparkurs könnte den noch zarten Aufschwung wieder abwürgen, bzw. die noch nicht überwundene Rezession weiter verstärken. Die Deflationstendenzen in Europa bekommen dadurch Auftrieb. In einer Rezession geht natürlich auch die Produktion von Mehrwert, von der letztlich auch die Profite des Finanzsektors abhängig sind, zurück. Ein Licht auf diesen Widerspruch wirft das Verhalten der Ratingagenturen. Zwei Agenturen stufen Spanien herab, weil nach ihrer Meinung die Verschuldung überhand nimmt. Die dritte, Fitch, stuft Spanien herab, weil das Sparprogramm die Konjunktur abwürgen könnte. Umgekehrt sind auch die Staaten auf das Wohlwollen der Kapitalgeber angewiesen. Eine panikartige Absetzbewegung an den Finanzmärkten würde unweigerlich auch alle anderen Wirtschaftsbereiche beeinträchtigen und es ist fraglich wieweit sie überhaupt noch zu kontrollieren wäre.

Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise hat staatliches Handeln Schlimmeres verhindert. Auch harte Marktliberale haben nach dem Eingreifen des Staates gerufen und Maßnahmen wie die Notverstaatlichung von Banken begrüßt. Jetzt zeigt sich aber, dass auch die Staaten ihr Pulver weitgehend verschossen haben. Das Eingreifen des Staates verhindert auf der einen Seite die unkontrollierte Ausbreitung der Krise und mildert ihre Folgen, baut aber auf der anderen Seite den Abgrund der wachsenden Staatsverschuldung auf. Es wurde zwar die Gefahr eines totalen Crashs abgewendet, aber die Ursache der Krise, die allmählich an Grenzen stoßenden Möglichkeit der Kapitalverwertung konnte durch die Staatseingriffe nicht beseitigt werden. Nur eine massive Kapitalvernichtung kann wieder ein neues Gleichgewicht zwischen der Masse des vorhandenen Kapitals und den Möglichkeiten seiner Verwertung herstellen.

Wie genau und wann genau die Kapitalvernichtung vor sich gehen wird, ist zur Zeit noch nicht entschieden. Vermutlich sind die Kapazitäten des "Hinausschiebens", des "Überbrückens" und des noch einmal "rettend Eingreifens" noch nicht voll ausgeschöpft. Auch die Grenzen der Kapitalverwertung sind nicht starr. Sowohl durch die Abwälzung der Krisenlasten (sprich Verschärfung der Ausbeutung), als auch durch Ausdehnung in neue Sektoren sind Verschiebungen dieser Grenzen denkbar. Zur Zeit werden besonders viele Hoffnungen auf Länder wie China, Indien, Brasilien etc. gesetzt. Aber auch in dieser Hinsicht ist die Lage offen. Es ist unklar wie lange die stürmische Entwicklung in diesen Ländern noch anhalten wird und es ist unklar was die Folgen dieser Entwicklung sein werden. Das Erstarken dieser Länder wird/kann die Probleme und Widersprüche in den "alten" Ländern verstärken. Eventuell zeigt das stürmische Wachstum der Länder auch an, dass dort bereits (eine) weitere Blase(n) im Entstehen ist (sind).

5. Juni 2010


Es kann im Rahmen dieses Artikels leider nicht ausführlich auf die Verhältnisse in Griechenland eingegangen werden. Insbesondere liegen uns nicht genügend Informationen vor, um die dortigen Klassenkämpfe, den Widerstand gegen das Sparpaket, Erfolgsaussichten und Schwächen realistisch beurteilen zu können.

Im Folgenden kurz die wichtigsten Bestimmungen des Griechenland von der EU und dem IWF auferlegten Sparpaketes:

Löhne im öffentlichen Dienst:
Einsparung von 1,8 Milliarden jährlich

- alle Gehälter: minus 8%
- Bruttolöhne ab 3000 EUR: Streichung der Oster-, Sommer- und Weihnachtszuschläge
- Bruttolöhne unter 3000 EUR: nur noch maximal 1000 EUR Sonderzahlung (im Jahr)

Renten:
Einsparung von 2,4 Milliarden EUR
- ab 2500 EUR: keine Sonderzahlungen (13. und 14. Gehalt) mehr
- unter 2500 EUR(*): nur noch maximal 800 EUR Sonderzahlung
- Erhöhung des Rentenalters
- Erschwernis bei Frühpensionierungen (geplant)

(*) etwa 60% aller Rentner erhalten weniger als 600 EUR im Monat


Steuern:
Mehrwertsteuer plus 2% (ca. 1,8 Milliarden EUR)
Benzin, Spirituosen, Tabak: plus 10% (über 1 Milliarde EUR)
Immobilienbesitzer: höhere Steuer
Luxusgüter: höhere Steuer
hohe Einkommen: Sondersteuer
besonders rentable Unternehmen (über 100 000 EUR Jahresgewinn) einmalige Sondersteuer von 600 Millionen EUR

weitere Maßnahmen:
Einstellungstop im staatlichen Sektor: nur jede 5. freiwerdende Stelle darf besetzt werden
Deregulierung im privaten Bereich: Probezeit 1 Jahr, Zeitarbeit erleichtert
Privatisierung von Staatsbetrieben

Sparpakete

Weitere Sparpakete und entsprechenden Widerstand gibt es in Portugal und Spanien

Spanien:

Bis 2011 sollen 15 Milliarden Euro eingespart werden.

Die Gehälter der im öffentlichen Dienst Beschäftigten (2,7 Millionen Menschen) sollen ab Juni um durchschnittlich 5% gesenkt und 2011 eingefroren werden.

Die periodische Anhebung der Renten wird 2011 ausgesetzt. Der sogenannte Babyscheck von 2500 EUR pro Geburt fällt weg.

Staatliche Investitionen werden in den nächsten 2 Jahren um 6 Milliarden gekürzt.

Dazu steht eine Arbeitsmarktreform an. Zur Zeit verhandeln noch Gewerkschaften und Arbeitgeber. Die Regierung hat angekündigt eine solche Reform per Dekret durchzusetzen, wenn in naher Zukunft keine Einigung erzielt werden kann. Die Gewerkschaften wollen sich in diesem Fall mit einem Generalstreik wehren.


Portugal:

Auch in Portugal wurden Gehaltskürzungen, Kappung von Sozialausgaben und Erhöhung der Einkommens- und Mehrwertsteuer beschlossen. Am 30. Mai haben in Lissabon 300 000 Menschen dagegen protestiert. Die Demonstration wurde von der Gewerkschaft CGTP organisiert.


und im Schatten der Aufmerksamkeit z.B. auch in Rumänien:

Zur Zeit wird im Parlament über ein Gesetzt beraten, das unter anderem Kürzungen der staatlichen Renten um 15% und der Gehälter im öffentlichen Dienst um 25% vorsieht. Rumänien reagiert damit auf Auflagen des IWF. 100.000 Staatsbeamte, 360 000 Lehrer und Angestellte des öffentlichen Gesundheitswesens haben ab 31. Mai einen unbefristeten Streik gegen diese Pläne begonnen.


*


Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 168, Sommer 2010, S. 1 + 3 - 8
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

Die Arbeiterstimme erscheint viermal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 3 Euro,
Abonnement und Geschenkabonnement kosten 13 Euro
(einschließlich Versandkosten).
Förderabonnement ab 20 Euro aufwärts.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010