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ARBEITERSTIMME/199: Welche Reaktionen sind aus den Betrieben zu erwarten?


Arbeiterstimme, Sommer 2009, Nr. 164
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Ruhe vor dem Sturm?

Welche Reaktionen sind aus den Betrieben zu erwarten?


Die Meldungen in den Medien könnten zur Zeit nicht unterschiedlicher sein. Haben die einen den Sturz in den Abgrund vor Augen, sehen die anderen bereits das Licht am Ende des Tunnels.

Wieder welche befürchten die Hyperinflation, die anderen warnen vor einer weltweiten Deflation. Sozialer Aufruhr wird befürchtet, sagen die einen. Das sei nicht der Deutschen Art, wird dann entgegengehalten.

Das alles, die widersprüchlichen öffentlichen Äußerungen, Verlautbarungen und Meinungen der politischen Akteure und ihrer Medien, ist der Ausdruck der tiefen Ratlosigkeit und Verunsicherung im Umgang mit der Krise. Das gilt sowohl für "die da oben", als auch für "die da unten".

So schreibt der Tagesspiegel Mitte April: "'Die Stimmung im Land hat sich in den vergangenen Monaten praktisch nicht verändert', sagt Andrea Wolf vom Mannheimer Meinungsforschungsinstitut Forschungsgruppe Wahlen. 'Zwar wird die allgemeine Wirtschaftslage als sehr schlecht eingeschätzt. Aber drei Viertel der Befragten rechnen damit, dass ihre persönliche wirtschaftliche Lage gleichbleiben wird - oder sich sogar verbessert'".

Und die Süddeutsche schreibt: "Die Welt steht Kopf", und zitierte unlängst Roger Cohen, den langjährigen Berlin-Korrespondenten der New York Times in einem Gastbeitrag. "Die Lage ist fürchterlich, aber die Deutschen sind glücklich!" So kann man das natürlich sehen, besonders wenn man die sichtbare politische Entwicklung in anderen Ländern zum Vergleich heranzieht, wie zum Beispiel in Frankreich.

Es scheint so, als würden französische Arbeiter im Arbeitskampf nicht lange fackeln, wenn es um ihre Arbeitsplätze geht. Manager von Firmen wie Sony, Caterpillar, Scapa und 3M bekamen das in den vergangenen Wochen schon zu spüren. Beschäftigte nahmen die Chefs in Geiselhaft, wie bürgerliche Journalisten diesen Vorgang ausdrücken, um Zugeständnisse zu erzwingen.

Auch die Massendemonstrationen und umfassende Proteststreiks zeigen, dass die Stimmung in Frankreich sehr viel aufgeheizter ist. Dort ist die Krise real bei den abhängig Beschäftigten angekommen und das heißt: umfassende Massenentlassungen stehen ganz konkret auf der Tagesordnung.

Im Vergleich dazu ist es in der BRD ruhig! Nun hat das weniger mit Mentalitätsunterschieden zu tun als mit der realen politischen Lage. Bisher wird bei uns die Beschäftigung künstlich gestützt: durch die Betriebe, die auf Kurzarbeit umstellen, und durch die Regierung, die mit Konjunkturstützungsmaßnahmen, wie beispielsweise der "Abwrackprämie", Milliarden in die Wirtschaft pumpt. Von Dauer wird das aber nicht sein, das wissen auch die KollegInnen in den Betrieben.

Dort geht inzwischen die Angst um den Arbeitsplatz um. Die allermeisten sind äußerst verunsichert, was sich im Moment noch in der Bereitschaft äußert, fast bedingungslos jeder Lohnsenkung, jeder Arbeitszeitverlängerung und jedem noch so prekären Arbeitsverhältnis zuzustimmen.

Diese Anpassung führt dazu, dass sich viele kaum noch trauen, krank zu sein. Und die Statistik beweist das: Seit 1990 ist der Krankenstand in deutschen Betrieben von 5,5 auf 3,3 Prozent gesunken. Das ist der historisch niedrigste Stand überhaupt. Dabei sind die Werktätigen mit Sicherheit nicht gesünder geworden. Der kapitalistische Verwertungsprozess lässt das mit seiner zunehmenden Leistungsverdichtung und mit zunehmendem Stress nicht zu.

Inzwischen wird gehofft, dass die Regierenden die Rettung bringen. Doch genau weiß man das natürlich nicht, weshalb die allgemeine Verunsicherung in den ersten Maitagen angestiegen ist. Inzwischen sorgen sich (lt. ARD-Deutschlandtrend im Mai) bereits 57 Prozent, gegenüber 25 Prozent Mitte April, um ihre wirtschaftliche Zukunft.

Aber dennoch ist das Vertrauen in den Kapitalismus und seine Repräsentanten ungebrochen. Auch das Vertrauen in seine Institutionen ist groß. Man sieht den Staat seinen Aufgaben gewachsen. Man glaubt, dass die Bundesregierung in der Lage ist, Deutschland aus der Krise herauszuführen und dass danach wieder alles so ist, wie es war. Und dieses Vertrauen scheint im Moment noch eher zu wachsen, als wegzubrechen. Anders können die Deutschlandtrend-Ergebnisse der ARD nicht interpretiert werden. So würden für die nächste Legislaturperiode 44 Prozent eine unionsgeführte Koalition, 33 Prozent eine unter SPD-Führung bevorzugen. Schwarz-Gelb findet das größte Vertrauen: 46 Prozent halten diese Koalition für ein gutes Bündnis, eine große Koalition immerhin 37 Prozent.

Die Schein-Aktivitäten der Bundesregierung, ihre scheinbaren Anstrengungen, Arbeitsplätze zu retten, wie bei Opel, die angekündigte Verlängerung der Bezugszeit für Kurzarbeitergeld, die Abwrackprämie, oder auch die von Merkel gegebene Garantie aller Sparguthaben sowie der vorangetragene Optimismus, dass das Schlimmste bald vorbei sei, haben ihr ein "Macher"-Image verliehen, das der bevorstehenden Nagelprobe nicht standhalten wird.

Die Wirklichkeit der kapitalistischen Krise deckt sich nicht mit der Stimmungslage in der Bevölkerung. Die Wirklichkeit ist, dass sich die Konjunktur im freien Fall befindet. Der Wirtschaft gehen die Aufträge aus und in der Schlüsselindustrie der deutschen Industrie, der ME-Industrie, kommt die Produktion zum Stillstand, oder sie sinkt in dramatischer Weise.


Kein zyklischer Abschwung, sondern eine historische Systemkrise!

In den ersten beiden Monaten dieses Jahres brach der Auftragseingang im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent ein. Aus dem Inland gingen 33 Prozent weniger Bestellungen ein, bei den Auslandsaufträgen waren es 45 Prozent weniger. Natürlich ergeben sich aus dieser Entwicklung Konsequenzen für die Beschäftigung, die zur Zeit noch durch Kurzarbeit gehalten wird. Aber nach einer Befragung des ifo-Instituts im März 2009 wollen 44 Prozent der Betriebe in den nächsten Monaten Arbeitsplätze streichen. 55 Prozent wollen die Beschäftigung konstant halten. Von Einstellungen ist nirgendwo mehr die Rede.

Am härtesten trifft es den Fahrzeugbau. Hier ging die Produktion, trotz Abwrackprämie, um 44 Prozent zurück. Ihm folgen die Stahlindustrie mit minus 34 Prozent, die Elektroindustrie mit minus 27 Prozent und der Maschinenbau mit minus 23 Prozent.

Wie gesagt, die Umfrage ist vom März. Inzwischen hat sich die Krise weiter verschärft und man kann davon ausgehen, dass es in allen anderen Industriebereichen nicht viel besser aussieht.

Ende April hat die Bundesregierung ihre Konjunkturprognose vorgelegt. Die Frankfurter Rundschau kommentierte die Prognose mit der Überschrift: "Ein einziger Scherbenhaufen", die Zeit mit der Überschrift: "Blick in den Abgrund". Und beide haben damit Recht.

Denn die Regierung geht inzwischen von einem Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) von sechs Prozent aus. Die Lage muss mehr als dramatisch sein, wenn diese Regierung solche Zahlen veröffentlicht und nicht den Versuch macht, die tatsächliche Lage zu kaschieren.

Doch ansonsten ist Optimismus angesagt. So hat Merkel laut Spiegel von den Gewerkschaften am 1. Mai "konstruktive Antworten" statt Panikmache gefordert. Das schlimmste der Krise ist ihrer Meinung nach bald überstanden. Es ist unglaublich, auf welche Lügen und Verdummungsmethoden die Regierenden zurückgreifen, um nur ja die kommenden Bundestagswahlen zu gewinnen. Nach der Wahl wird allerdings die Wahrheit umso deutlicher ans Tageslicht kommen.

Ein Rückgang des BIP um sechs Prozent wird die Arbeitslosigkeit im Verlauf des Jahres dramatisch steigen lassen. Die Wirtschaftsgutachter der Bundesregierung rechnen in ihrem Gutachten bis Ende 2010 mit knapp fünf Millionen Arbeitslosen. Doch was kann man auf die Prognosen dieser bürgerlichen Ökonomen geben? Vor kurzem gingen sie noch von einem Rückgang des BSP von "nur" zwei Prozent aus.

Es könnte aber noch weitaus schlimmer kommen. So hat die Wirtschaftswoche vor einigen Monaten ein so genanntes Worst-Case-Szenario entwickelt. Sie geht dabei von einem Rückgang des BIP um 15 Prozent bis 2013 aus, die Folge wären acht Millionen Arbeitslose.

Gleichgültig, wie hoch die Zahlen der Erwerbslosen tatsächlich sein werden, sie werden gigantisch hoch sein. Und es handelt sich bei dieser Krise nicht nur um einen zyklischen Abschwung, sondern um eine historische Systemkrise, nur vergleichbar mit der großen Depression der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Krise wird sich Bahn brechen und sich auch nicht durch die Behandlungsmethoden einer Merkel, Steinbrück und Co. aufhalten lassen.


Angriff des Kapitals auf die materiellen Besitzstände der Arbeiterklasse

Schrumpft die Wirtschaft in der angekündigten Größenordnung, kommt ein Teufelskreis in Gang. Sind mehrere Millionen Menschen ohne Einkommen, sinken sowohl das Steueraufkommen aller öffentlichen Haushalte als auch die Einnahmen der Sozialversicherungen. Schon im laufenden Jahr müssen Bund, Länder und Gemeinden mit Mindereinnahmen von 20 bis 30 Milliarden Euro rechnen. Der gesamte Sozialstaat funktioniert aber nur, wenn die Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherungen, der Kommunen und der Länder einigermaßen im Gleichgewicht sind. Besteht ein Ungleichgewicht, kann dies nur bedingt durch Beitrags- und Steuererhöhungen ausgeglichen werden. In dem Falle muss nach bundesrepublikanischer Verfasstheit der Staat unterstützend eingreifen. Bei einem drastisch sinkenden Steueraufkommen wird das, Verfassung hin, Verfassung her, nicht freiwillig erfolgen. Wird der Staat aber durch den entsprechenden Druck dazu gezwungen, wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Notenpresse anzuwerfen, allerdings mit der Perspektive einer Hyperinflation.

Am schnellsten wird die Arbeitslosenversicherung in eine Schieflage kommen. Es wurde in Nürnberg bereits angekündigt, dass wahrscheinlich im Oktober der Bundesagentur das Geld ausgeht. Bedingt durch steigende Leistungen für Arbeitslose und Kurzarbeiter, werden die Reserven der Bundesagentur aufgebraucht sein. Und es wird noch drastischer kommen. Laut Handelsblatt droht ihr im kommenden Jahr ein operativer Verlust von etwa 23 Milliarden Euro. Die anderen Sozialversicherungen, wie die Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und Rentenkassen werden ähnliche Probleme bekommen.

Auch wird schon über die Renten diskutiert. Eine Rentenkürzung werde es nicht geben, verkündet Sozialminister Olaf Scholz. Offensichtlich im Wahlkampftaumel erklärt er, sein Haus werde eine gesetzliche Formulierung entwickeln, die klarstelle: "In Deutschland werden die Renten nicht gekürzt - nicht im nächsten Jahr und auch nicht in späteren Jahren" (FR 28.04.09).

Was kaum jemand wusste, wird so bekannt: die gesetzlichen Renten können sehr wohl gekürzt werden, wenn in einem Jahr die Lohn- und Gehaltssumme sinkt. Aber: die Renten sind sicher! Schon Blüm hat das zu Wahlkampfzeiten versprochen. "War es in den vergangenen Rezessionen nicht gelungen, den Sozialstaat sturmreif zu schießen, so könnte die Krise ihn nun hinwegspülen, ohne dass jemand dafür in Haftung genommen werden kann", meint zudem Thema der Freitag (28.4.09).

Ein weiterer Baustein zur Krisenverschärfung ist derzeit in den Betrieben angekündigt und teilweise schon in der Umsetzungsphase. Es geht um den Versuch der Kapitalisten, die Löhne und Gehälter in breitem Umfang zu kürzen. So melden im April die Medien, dass in der ME-Industrie die im Herbst letzten Jahres vereinbarte Lohnerhöhung von 2,1 Prozent im Mai nicht ausbezahlt wird. Begründet wird das mit einer Öffnungsklausel im Tarifvertrag, die diese Möglichkeit beinhaltet, wenn Betriebe in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen.

Zwar hat der IG Metall-Vorsitzende Bertold Huber vollmundig getönt, dass eine Verschiebung der Lohnerhöhung nicht in Frage komme. In den Folgetagen war er sich dann aber doch nicht mehr so sicher. Einer Verschiebung der Erhöhung könne man generell nur zuzustimmen, wenn die Arbeitgeber Gegenleistungen anbieten, hieß es da. Bei Gesamtmetall erklärte man dazu, dass im Tarifvertrag von Gegenleistungen keine Rede sei. Ein "zuverlässiger Tarifpartner" äußere sich anders. Damit wird Huber dann wohl die Realität eingeholt haben.

Es werden runde 50 Prozent der Betriebe der ME-Industrie, wie von Gesamtmetall angekündigt, im Mai die Lohnerhöhung nicht weitergegeben haben. Nach dem Tarifvertrag ist zwar nur die Verschiebung der Erhöhung um ein halbes Jahr möglich, doch wird die wirtschaftliche Lage zu einem späteren Zeitpunkt noch schlechter sein, so dass die Werktätigen die Lohnerhöhung werden völlig abschreiben können.

Doch das ist es nicht alleine. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Angriff auf die materiellen Besitzstände der abhängig Beschäftigten seitens des Kapitals sehr viel massiver auf die Tagesordnung gesetzt wird.

So ging am 28. April durch die Medien, dass Daimler plant, rund 73.000 Beschäftigten die Wochenarbeitszeit zu kürzen, und damit den Lohn um bis zu neun Prozent. In dieser Absicht steht der Daimler-Konzern nicht alleine. Andere Kapitalisten aus der Metallbranche, wie die Autozulieferer Bosch, ZF Friedrichshafen, Behr oder Sachs, haben bereits ähnlich harte Kürzungen zwischen zwei und 15 Prozent vorgenommen.

Der Gesamtbetriebsrat des vor dem "Aus" stehenden Opel-Konzerns, hat signalisiert, dass ihm klar sei, dass, fände man einen neuen Investor, dies mit Zugeständnissen seitens der Arbeitnehmer verbunden sei. Von bis zu 10 Prozent Lohnkürzungen war die Rede, die man akzeptieren müsse. Doch nicht nur in der Metallbranche findet man diese Unternehmerangriffe, sondern auch in allen anderen Branchen. Sei es in der Chemie oder im Handel - überall dieselbe Tendenz: Lohnabbau.

So verzichten beispielsweise die Beschäftigten des Handels- und Touristikkonzerns Arcandor jährlich auf insgesamt 115 Millionen Euro Gehalt. "Normale Mitarbeiter verdienten im Zuge eines so genannten 'Zukunftspakets' sieben bis zwölf Prozent weniger als bislang, teilte Arcandor mit. Dies habe der Vorstand mit den Gesamtbetriebsräten und der Gewerkschaft Ver.di vereinbart", schreibt der Spiegel Mitte April.

Hält diese Entwicklung an, und nichts spricht dagegen, kommt es zweifellos zu einer Krisenverschärfung. Wenn die Löhne ins Rutschen kommen, geht die Nachfrage nach Waren oder Dienstleistungen zurück. Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Düsseldorfer Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung warnt im Spiegel: "Lohnsenkungen sind infektiös und bergen deflationäre Gefahren". Horn sieht bereits diese verhängnisvolle Spirale in Gang gekommen. Und auch Peter Bofinger vom Sachverständigenrat der Bundesregierung warnt in dem Artikel: "Wir stehen am Rande einer Deflation".


Büchse der Pandora

Die Entwicklung gleicht der Situation während der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre. Auch damals sank die Nachfrage nach Gütern dramatisch, die Produktion schrumpfte. Reichskanzler Brüning verschärfte in Zusammenarbeit mit den Kapitalisten den Nachfrageausfall. Per Notverordnung kürzte er die Beamtenbesoldung zwischen 19 und 23 Prozent. Mit seiner Politik unterstützte er offensiv die Industrie in ihrer Lohnkürzungspolitik. In der Metallindustrie beispielsweise wurden 1930/31, trotz gewerkschaftlichen Widerstands, die Tariflöhne zunächst um drei, dann um acht Prozent gesenkt - mit den bekannten Folgen.

Den Kapitalisten fällt ihre Lohnsenkungspolitik relativ leicht. Geschuldet ist das der IG Metall selbst. Mit dem 2004, unter der Federführung des damaligen Bezirksleiters Huber, abgeschlossenen Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung, dem so genannten Pforzheimer Abkommen, gibt sie den Kapitalisten die Möglichkeit zu diesem Handeln. Das Abkommen war von Anfang an innerhalb der Gewerkschaft umstritten. Selbst der damalige Vorsitzende, Jürgen Peters, bezeichnete es als die "Büchse der Pandora", die man jetzt geöffnet habe. Die aktuelle Entwicklung gibt heute den Kritikern dieses Abkommens in jedem Punkt Recht.

In dem Tarifvertrag wurde vereinbart, dass Betriebe "zur Sicherung der Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit" vorübergehend vom Flächentarifvertrag abweichen können. Dafür müssen sie "tragfähige und nachprüfbare Standort- und Beschäftigungskonzepte vorlegen und sich zu Gegenleistungen verpflichten".


Arzt am Krankenbett des Kapitalismus?

Doch was bedeuten schon einem Kapitalisten Zukunftskonzepte und Beschäftigungsgarantien. Die Lohnkürzungen wirken sofort und unmittelbar. Das ist wichtig, das ist sein Interesse, alles andere ist Makulatur. Was morgen kommt, wird sich zeigen. Kommt es anders als gedacht, interessieren die Zusagen von gestern keinen mehr. Und genau das geschieht aktuell. In fast allen Automobilkonzernen wurden in der Vergangenheit "Bündnisse für Arbeit" geschmiedet.

Und nicht nur dort. Nach einer Umfrage des zur Hans-Böckler-Stiftung gehörenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts gibt es in jedem vierten Betrieb, der über 20 Beschäftigte und einen Betriebsrat hat, eine "Beschäftigungsgarantie". Der Preis dafür waren unbezahlte Mehrarbeit, weniger oder kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld, oder gleich direkte Lohnkürzungen.

Was die Beschäftigungsgarantien wert sind, zeigt sich jetzt. Überall wackeln die Zusagen. Selbst das Handelsblatt stellt in seiner Ausgabe vom 29. April die Frage: "Was gilt ein Versprechen in der Krise?" und beantwortet an betrieblichen Beispielen, dass diese Versprechen nicht einmal warme Luft sind.

Am Beispiel von Daimler wird gezeigt, dass es wie in allen anderen Betriebsvereinbarungen so genannte Notfallklauseln gibt, mit denen sich die Unternehmer ein Hintertürchen offengehalten haben. Andern sich bei Daimler z.B. die "wesentlichen Grundannahmen", so muss über die "Personalüberhänge" neu verhandelt werden. Wie schon gesagt, die Grundlage solcher Betriebsvereinbarungen ist ein Tarifvertrag. Konkret heißt das, dass die Kapitalisten ein Instrument in der Hand haben, mit dem sie "legal" Entlassungen und Lohnkürzungen durchsetzen können.

Für die Gewerkschaften wird das weit reichende Folgen haben, mit der Konsequenz einer weiteren Schwächung der politischen Handlungsfähigkeit. Am Ende der Entwicklung wird ihr einstiger Stolz, die Tarifpolitik, ein Trümmerhaufen sein. Wenn sie jetzt in dieser Krise auf eine verstärkte Sozialpartnerschaft mit dem Kapital setzen, werden sie eine vernichtende Niederlage erleiden. Die Lehren aus der eigenen Geschichte werden nicht gezogen. So wünscht sich DGB-Sommer die "echte Renaissance der sozialen Marktwirtschaft".

Die Führungen der Einzelgewerkschaften stehen dem in nichts nach. Mehr als "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" wollen sie nicht sein. Bestärkt in dieser Haltung werden sie noch durch die "neuen Freunde", die sie plötzlich überall haben. Auf einmal umarmen alle die Gewerkschaften. Selbst die FDP, die einst ihre Gegnerschaft nicht laut genug betonen konnte, will ihnen nahe sein. Die Zeit meint dazu am 30. April unter der Überschrift "Die Gewerkschaften sind zurück": "Die deutschen Gewerkschaften sind im Aufwind. Ihr Mitgliederschwund ist nahezu gestoppt, ihre Umfragewerte steigen, ihre Stimme zählt wieder, in der Politik wie in Betrieben, wo sie als Bündnispartner im Krisenmanagement gebraucht werden."

Über solche Einschätzungen freut man sich in den Apparaten und sieht nicht, wie fragil beispielsweise die Mitgliederstabilisierung ist. Die gibt es im Moment nicht wegen gewerkschaftlicher Erfolge, sondern weil abhängig Beschäftigte zutiefst verunsichert sind und nach Orientierung suchen.

Orientierend wirkt aber auf Dauer bei einer sich verschärfenden Krise nicht die Reaktivierung des "Bündnisses für Arbeit", Co-Management und die Verbreiterung der Sozialpartnerschaft mit dem Kapital, sondern die Mobilisierung der Mitgliedschaft gegen Entlassungen und die Abwälzung der Krise auf die Schultern der Arbeiter- und Angestelltenschaft.


Rückbesinnung auf den rheinischen Kapitalismus?

Rechtsfragen sind Machtfragen und diese löst man nicht am Verhandlungstisch, sondern auf der Straße.

Doch davor hat der Apparat Angst. Unter dem Eindruck der Krise weiß man nicht, ob sich mobilisierte Belegschaften noch steuern lassen. Aus diesem Motiv heraus kommen auch Sommers Warnungen vor sozialen Unruhen. Die Reaktionen der bürgerlichen Medien und Politiker weisen daraufhin, dass man dort solches durchaus als reale Gefahr sieht und fürchtet. Mit der Warnung vor solchen Unruhen bietet sich Sommer an, das zu verhindern. Dazu will er aber ein Entgegenkommen von Seiten der Politik und des Kapitals.

IG Metall-Vorsitzender Bertold Huber stellt in einem Interview mit der Welt am Sonntag die aktuellen Vorstellungen der Gewerkschaften dar. Sein Credo: Mit allen Mitteln sollen Entlassungen verhindert werden. Erreichen will er das vorrangig durch Verhandlungen. Er geht davon aus, dass seine Argumente zur Einsicht bei den Kapitalisten führen. Huber dazu: "Wir wollen soziale Unruhen verhindern". Huber will notfalls zwar auch mit Streikmaßnahmen Entlassungen verhindern, wie jetzt bei Federal Mogul. Doch eine breite und vor allem betriebsübergreifende Bewegung soll das nicht werden. Schließlich soll das partnerschaftliche Verhältnis mit den Kapitalverbänden nicht im Kern verletzt werden.

Huber benennt sein Ziel in dem Interview klar und deutlich: "Wir brauchen eine Rückbesinnung auf den rheinischen Kapitalismus westdeutscher Prägung, wir brauchen die Zivilisierung des Kapitalismus. Dieser schaffte so hohen Wohlstand, weil er auch auf die Mitwirkung der Arbeitnehmer setzte. Durch das Aufkommen der Shareholder-Value-Ideologie gab es einen Bruch. Übergroße Renditeerwartungen sorgten für großen Druck auf Belegschaften, teilweise gab es eine Brutalisierung von Arbeitsverhältnissen."

Welch eine Ignoranz kommt hier zum Ausdruck!


Oder "Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeineigentum."?

Offensichtlich fehlen Huber jegliche Kenntnisse über die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie. Die Klassenstruktur der Gesellschaft und der daraus resultierende Gegensatz von Kapital und Arbeit werden ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen. Seine konkrete Krisenanalyse liegt unter dem Niveau bürgerlicher Journalisten.

Die Apparate der heutigen Gewerkschaften verhalten sich im Grunde nicht anders wie der Apparat des ADGB in der Weimarer Zeit. Aus der Geschichte jedenfalls haben sie nichts gelernt. Huber nimmt nicht einmal die Satzung der IG Metall, deren Vorsitzender er ist, ernst. Unter dem Punkt "Ziele und Aufgaben der IG Metall" wird formuliert: "Erringung und Sicherung des Mitbestimmungsrechtes der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Betrieb und Unternehmen und im gesamtwirtschaftlichen Bereich durch Errichtung von Wirtschafts- und Sozialräten; Überführung von Schlüsselindustrien und anderen markt- und wirtschaftsbeherrschenden Unternehmungen in Gemeineigentum."

Wer es mit dem Kampf gegen "jede" Entlassung tatsächlich ernst meint, kommt mit der sozialpartnerschaftlichen Mitbestimmung nicht weiter. Er muss selbst bestimmen können, was in den Betrieben geschieht. Um das zu können, muss er die Eigentumsfrage stellen. Dazu sind aber die Gewerkschaftsführungen heute nicht bereit, obwohl in ihren Satzungen die Sozialisierung von Betrieben als Gewerkschaftsziel formuliert ist.

Wann aber, wenn nicht jetzt, soll diese Frage gestellt werden?

Aber nicht einmal bei Opel oder bei den angeschlagenen Banken stellen die Gewerkschaften diese Frage bzw. Forderung. Dabei stießen sie bei den betroffenen Belegschaften sicher auf große Resonanz. Damit wäre auch eine mobilisierende Forderung vorhanden, die auf die abhängig Beschäftigten orientierend wirkt und vor allem bei der weiteren Krisenverschärfung zu einer gesellschaftlichen Bewegung werden könnte.

Aber gerade eben das will man nicht. Man will zurück zum "Rheinischen Kapitalismus", und begreift nicht, dass das nicht mehr möglich ist. Im Augenblick ist das kein Widerspruch zum Denken der abhängig Beschäftigten. Auch sie wollen nichts anderes. Das hat sich deutlich auf dem DGB-Aktionstag in Berlin vergangene Woche gezeigt. Nur auf wenigen Transparenten waren anti-kapitalistische Forderungen zu lesen. Und die moralischen Anklagen der Gewerkschaftsvorsitzenden gegen die gierigen Manager und Heuschrecken wurden lautstark durch die Demonstranten unterstützt.

Doch es wird der Tag kommen, wo die Werktätigen feststellen werden, dass die Rezepte ihrer Gewerkschaften nichts taugen, dass im Gegenteil die Lage immer schlechter wird; dann wird bei ihnen die Wut wachsen - eine Wut gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, aber auch die Wut gegen die eigene Organisation.

Es besteht dann durchaus die Möglichkeit, dass die Gewerkschaftsspitzen aus Opportunitätsgründen gezwungen sind, ihren Kurs zu ändern. Aber selbst das ist nicht sicher. Klar ist nur, dass sie von sich aus nichts tun werden, um die Arbeiterklasse tatsächlich in die Offensive zu bringen.

Das muss diese schon selbst tun. Hierzu sind die Aussichten nicht schlecht. Wenn es europaweit zu einer Widerstandsbewegung gegen das Abladen der Krisenlasten auf die Rücken der abhängig Beschäftigten kommt, wird das auch seine Resonanz bei uns finden, mit oder ohne Gewerkschaftsführung.

Ein Journalist der Financial Times Deutschland kommentiert die Lage in der BRD Anfang Mai folgendermaßen: "Die Wut wird kommen. Wenn die Arbeitslosigkeit wieder steigt, zunächst auf vier Millionen, dann auf fünf Millionen; wenn Unternehmen erkennen, dass der Absatzrückgang nicht durch den normalen Konjunkturverlauf verursacht wurde, sondern durch einen strukturellen Bruch in der globalen Nachfrage; wenn Kurzarbeit in Arbeitslosigkeit mündet. Dann kommt die Wut, auch und vielleicht gerade in Berlin. Man sollte daher die merkwürdige Ruhe im Land nicht falsch interpretieren. Es ist nicht die Ruhe einer mit sich zufriedenen Gesellschaft. Es ist die Ruhe vor dem Sturm."

Dem ist nichts hinzuzufügen!


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 164, Sommer 2009, S. 9-14
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2009