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ANALYSE & KRITIK/450: Die Care-Seite der Medaille


ak - analyse & kritik - Nr. 560 - 15.4.2011
zeitung für linke Debatte und Praxis

Die Care-Seite der Medaille
Queer-feministische Perspektiven auf Kämpfe um Reproduktion

Von Lea Steinert und Kristin Ideler


Welchen Feminismus brauchen wir? Die Debatte um das Verhältnis queerer und feministischer Kämpfe begann mit Tove Soilands Kritik an dekonstruktiven Ansätzen. Tim Stüttgen widersprach. (siehe unten) Im dritten Beitrag schlagen die Autorinnen nun vor, das "entweder Queer oder Feminismus" in ein Sowohl-als-auch und Weder-noch zu verwandeln. Sie meinen: Linke Feministinnen sollten sich in die Kämpfe um die Organisation der Pflege- und Sorge-Arbeit einschalten - und zwar mit queer-feministischer Brille auf der Nase.


Queer versus Feminismus? Die emanzipatorisch-feministische Bewegung befindet sich in der Krise, und das nicht erst seit gestern. Neoliberale Logiken haben feministische Forderungen in eine individualisierte "Chancengleichheit für alle" verwandelt, kritisiert Tove Soiland. Die Emanzipationsziele der Frauenbewegung sind kapitalistisch instrumentalisiert worden. Doch bei der Verteidigung materialistischer feministischer Ansätze gegen ihre neoliberale Umformulierung stellt Tove Soiland ausgerechnet "Queer" als eine Gefahr für feministische Kämpfe dar. Das ist historisch falsch, bewegungspolitisch rückschrittlich und irreführend. Wenn wir "Queer" also in den Mittelpunkt einer Diskussion um Feminismus, neoliberale Verwertungsmechanismen und Transformationsprozesse stellen, müssen auch die Entstehungszusammenhänge queerer Bewegungen ins Blickfeld rücken.


Die Entstehung der Queer-Bewegung in den 1980ern

Volker Woltersdorff hat im Jahr 2003 in der Zeitschrift Utopie kreativ die Entstehung der Queerbewegung im Kontext vielfältiger politischer Ansprüche und theoretischer Denkansätze beschrieben. Als sich die Bewegung in den 1980er Jahren in den USA formierte, war sie höchst widersprüchlich und eine gesellschaftliche Randerscheinung - und sie ist es heute noch. "Queer" war Ausdruck bewegungspolitischer Krisen, neuer Allianzen und der Radikalisierung von Teilen der Schwulen-, Lesben-, Trans- und Frauenbewegung.

Die fortschreitende Institutionalisierung der Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegung hatte eine Politik zur Folge, die vor allem auf Anerkennung durch den Mainstream zielte. Diese verbreitete Orientierung wurde von Teilen der Bewegung in Frage gestellt. Auch die homogenisierte Darstellung nicht-heterosexueller Lebensformen, die stillschweigend ihre weißen, mittelständischen und männlichen Vertreter zur Norm machte, rief Widerspruch hervor. Parallel entwickelten sich in organisierten feministischen Zusammenhängen heftige Auseinandersetzungen um Pornografie, Bisexualität, Promiskuität, Penetration, Sadomasochismus, Transphobie und normierte Verhaltenscodices. Viele Frauen, Lesben und Schwule, schreibt Volker Woltersdorff, sahen sich in den Bewegungen nicht mehr repräsentiert.

Ein weiterer zentraler Grund für die Entstehung von Queer waren die sozialen Folgen der Aids-Epidemie: Das Stereotyp von der angeblichen Verbindung von Homosexualität und Krankheit wurde in den 1980ern wiederbelebt, Lesben und Schwule waren mit massiven homophoben Vorurteilen konfrontiert. Schwarze, Schwule, Prostituierte und Junkies wurden auf Grund ihres Lebensstils zu sogenannte Risikogruppen erklärt - und damit selbst für ihre Erkrankung verantwortlich gemacht.

Queer ist eine Form der Bündnispolitik der Randständigen und AußenseiterInnen mit dem Wunsch, auf gesellschaftliche Normierungprozesse und Identitätspolitiken hinzuweisen. Als Instrumente der Politik bevorzugt Queer schrilles Auftreten und theatralische Performances wie Kiss-ins an öffentlichen Orten. Und auch heute gilt es, die emanzipativen Elemente einer Pluralisierung von Lebensformen (subversiv) zu nutzen. Wenn wir uns also neue Orte und Orientierungen feministischer Kämpfe erstreiten, dann mit der queeren Methode im Gepäck, "Frauen" nicht als homogene Gruppe zu verstehen, die heteronormative Matrix als gesellschaftlich konstruiert zu reflektieren sowie immer wieder temporäre Bündnisse für politische Projekte zu suchen. Schauen wir uns die aktuellen Kämpfe und Debatten um Reproduktionsarbeit und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung an, dann mit einer queer-feministischen Brille, die die unterschiedlichen und komplexen Lebensbedingungen von Frauen in Reproduktionsverhältnissen in den Blick nimmt.

Noch bis zum 25. April ist im Berliner Kunsthaus Bethanien die Ausstellung "Beyond Re/Production. Mothering" von Felicita Reuschling zu sehen. Die Ausstellung thematisiert das schwierige Verhältnis von Berufstätigkeit und Familie und zeigt deutlich, dass von einer Gleichstellung der Geschlechter auch im Postfordismus kaum die Rede sein kann. Reawyn Connell beschreibt das Zusammenspiel von Gender-Bewusstsein und neoliberaler Verwertung im Katalog zur Ausstellung: "Der Neoliberalismus weist eine Genderdynamik auf: die Fähigkeit, Geschlechterordnung zu konstruieren und zu rekonstruieren." Die scheinbare Ausdifferenzierung von Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern schafft neue Wege für Frauen auf dem Arbeitsmarkt, zieht aber zugleich die trügerische Annahme nach sich, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sei aufgehoben.

Im Bereich der Pflege-, Sorge- und Hausarbeit wird klar, dass Frauen auch im Postfordismus automatisch mit dem Arbeitsfeld der Mutter und Hausfrau in Verbindung gebracht werden. Dies geschieht klassenbedingt in unterschiedlicher Weise. Während Frauen aus den privilegierten Klassen sich für Haushalt und Kindererziehung eine ArbeitsmigrantIn einstellen, müssen Frauen aus den subalternen Klassen die eigene Arbeitskraft unter prekären Bedingungen vermarkten und gleichzeitig komplexe Reproduktionsanforderungen bewältigen. Die Situation von Angehörigen der mittleren Klassen ist ambivalenter, ein Balanceakt zwischen Reproduktionsanforderungen und Beschäftigungsverhältnissen.

Glaubt man postoperaistischen TheoretikerInnen, so befinden wir uns im Zeitalter post-geschlechtlicher Arbeitsteilung. "Affektive Arbeit" dominiere den neoliberalen Kapitalismus. Ehemals war sie "Frauenarbeit", nun sei sie die neue Form der Lohnarbeit schlechthin. Sie trage zwar noch vermeintlich weibliche Züge in sich, sei jedoch theoretisch als modernisierte Fabrikarbeit zu begreifen. Probleme der aktuellen Prekarisierung und Vermarktlichung von Reproduktionsarbeit lassen sich auf diese Weise nicht in den Blick nehmen.


Bilder über die Widersprüche der Sorge-Arbeit

Wie Silvia Federici im Rahmen der Ausstellung "Beyond Re/Production" zutreffend feststellt, verschleiert eine solche Betrachtung die Tatsache, dass zwischen den Metropolen und der Peripherie eine hierarchische Arbeitsteilung besteht und dass sich diese Arbeitsteilung mittlerweile auch auf die Reproduktionsarbeit erstreckt. Warum sind es immer öfter Care-ArbeiterInnen aus Osteuropa, Lateinamerika, dem globalen Süden, die hier unsere Reproduktionsarbeiten unter schlechten Bedingungen verrichten?

Diese international ungleiche Verteilung und Prekarisierung von Versorgearbeit tritt derzeit immer deutlicher als "Care-Krise" hervor. Der neoliberale Kapitalismus stößt mit seinem Flexibilisierungs- und Vermarktlichungsdrang bei dieser Form der Arbeit an Grenzen. Vor allem die emotionalen Anteile dieser Arbeit lassen sich nur bedingt rationalisieren: Ein pflegebedürftiger Mensch muss um eine bestimmte Uhrzeit essen und braucht dabei auch soziale Zuwendung. Durch die vermehrte Erwerbstätigkeit von Frauen, die Pluralisierung von Familienformen und den demographischen Wandel ist eine Lücke bei der Erledigung von Reproduktionsaufgaben aufgetreten. Diese Lücke wird durch prekäre und migrantische Arbeit überbrückt.

In diesem Widerspruch bewegt sich auch die Queer-Bewegung. Doch bedeutet der Umstand, dass sowohl die Frauen- als auch die Queer-Bewegung diesen neoliberalen Dynamiken unterworfen ist, nicht, dass ihre Anliegen falsch sind. Wir denken, dass eine queer-feministische Kritikperspektive dann emanzipatorisch intervenieren kann, wenn sie das verbindet, was Queer und Feminismus aus einer linken Bewegungsperspektive ausmacht: wenn sie analysiert, wie bei Reproduktionsarbeit auf Grund zugeschriebenen Geschlechtsidentitäten unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit verrichtet werden muss; und wenn sie Versorgungsarbeit als intersektionale Schnittstelle der Ungleichheit in den Blick nimmt, wie es einige aktuelle feministische Diskurse tun.


Nein zur neoliberalen Ordnung der Reproduktion

Wir möchten die Frage aufwerfen, ob nicht Debatten um Gerechtigkeit der Verteilung, Anerkennung und Teilhabe von, durch und an Versorgungsarbeit Gewinn bringend für eine queer-feministische sozialrevolutionäre Perspektive sein könnte. Ausgangspunkt einer solchen Debatte könnte ein fragender Prozess sein, der sowohl die auf der Vorderbühne agierenden Subjekte als auch die Hinterbühne der Institutionen und Kapitalverhältnisse betrachtet: Wer verrichtet wie welche Reproduktionsarbeiten, und welche Kategorien oder Ungleichheiten werden darin reproduziert? Wem wird dabei wie Anerkennung zu- und abgesprochen? Welche Möglichkeiten der Teilhabe können sich eröffnen und für wen?

Wo könnte eine linke Bewegung ansetzen? Wir schlagen vor, auf dem Feld der Reproduktionsverhältnisse soziale Kämpfe (z. B. die internationalen MigrantInnenstreiks) von partikularistischen (z. B. wenn ver.di einen Mindestlohn für Pflegedienste verhandelt) zu unterscheiden und vor allem in erstere zu intervenieren. Trotzdem sollten partikularistische Kämpfe nicht völlig aus dem Blick geraten, da auch aus ihnen soziale Kämpfe um alternative Reproduktionsweisen entstehen können. Wichtig ist ein kollektives, öffentliches Nein zur neoliberal-kapitalistischen Ordnung der Reproduktion. Hierbei können queere Bündnispolitiken und durch sie eröffnete Vielfältigkeiten eine wichtige Inspirationsquelle sein, sind doch das Anzweifeln heteronormativer Herrschaft, die Verunsicherung von Geschlechter-, Macht-, und Herrschaftsverhältnissen und das Streben nach Souveränität über das eigene Leben ihnen zentrale Anliegen.

In Anlehnung an Silvia Federici sehen wir es als wichtig an, Reproduktionsverhältnisse weltweit zu entprivatisieren und zu kollektivieren. Dabei ist zentral, auf welche Ressourcen ein solches Projekt zurückgreift. Wir stellen uns keine "kommunistischen Inseln im kapitalistischen Gesamtwahnsinn" vor (wie es etwa Konzepte des community gardening und andere tun), sondern neue Reproduktionsräume, die sich aktiv die Ressourcen des Staates und des Marktes zurück erobern.

Wie es an diesem Punkt weitergehen könnte, hat Silvia Frederici offen gelassen. Damit hat sie den Raum für eine spannende Diskussion um die sozialrevolutionäre Vergesellschaftung von Versorgungsarbeit geschaffen. Eine solche könnte z. B. mit dem Aufbau von stadtteilübergreifenden sozialen Reproduktionszentren, vergleichbar den selbstorganisierten communities of care, beginnen.


Queer vs. Feminismus? Die Debatte bisher:

In ak 558 kritisierte Tove Soiland, die dekonstruktiven Ansätze hätten sich auf die Kritik geschlechtlicher Identitäten zurückgezogen, statt die Stellung der Frau in der kapitalistischen Ausbeutung zu analysieren. Mit ihren flexiblen Identitätskonzepten passten queere Praktiken perfekt in den neoliberalen Kapitalismus.

Tim Stüttgen widersprach in ak 559. Queere Lebensweisen seien nicht erfolgreich, sondern prekär. Feministische Kämpfe sollten nicht nach falscher Einheit streben, sondern die vielfältigen Gender-Identitäten zum Ausgangspunkt nehmen.

Lea Steinert und Kristin Ideler fordern nun, sich den Auseinandersetzungen um Reproduktions- und Sorge-Arbeit zuzuwenden - und zwar mit queer-feministischen Methoden im Gepäck.


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 560, 15.04.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2011