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ANALYSE & KRITIK/431: Venezuela - Kein Schritt in die Diktatur


ak - analyse & kritik - Ausgabe 558, 18.02.2011

Kein Schritt in die Diktatur
Ein Blick auf die Sondervollmachten, mit denen Hugo Chávez in Venezuela regiert

Von Jan Kühn, Caracas


Seit Anfang des Jahres kann Hugo Chávez zum vierten Mal mit Sondervollmachten regieren. Ein Ende Dezember vom Parlament verabschiedetes Gesetz erlaubt ihm, für 18 Monate in festgelegten Bereichen Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Das Regierungslager beruft sich darauf, dass dieses beschleunigte Gesetzgebungsverfahren notwendig sei, um angemessen auf die Unwetterkatastrophe von Ende 2010 zu reagieren. Die Opposition hingegen wägt sich einen weiteren Schritt näher an einer Diktatur. Wie gewohnt, findet diese Deutung auch in den internationalen Medien ihren Platz. Doch was steckt hinter dem Gesetz, das den Präsidenten angeblich allmächtig macht?


Der Name des Gesetzes ist ein gefundenes Fressen für jeden Chávez-Gegner: Die Vollmachten, welche die venezolanische Nationalversammlung dem Präsidenten am 17. Dezember übertrug, hören auf den Namen "Ley Habilitante", was übersetzt etwa "ermächtigendes Gesetz" bedeutet. Die namentliche Parallele zum Ermächtigungsgesetz für Adolf Hitler liegt auf der Hand. Und so griffen auch die meisten deutschen Medien von taz bis FAZ die Einladung auf, um subtile Nazivergleiche und Warnungen vor der nächsten Diktatur zu verbreiten. Juan Manuel Santos, der Präsident des Nachbarlandes Kolumbien, fand hingegen kaum Erwähnung, obwohl er nach ähnlich verheerenden Regenfällen den Ausnahmezustand ausgerufen und dadurch vergleichbare Befugnisse erhalten hatte. Santos erließ 37 Gesetze per Dekret; die meisten deutschsprachigen Medien widmeten ihm jedoch keine Zeile.

Die Verwendung von Sondervollmachten ist in Venezuela nichts Neues. Bereits seit der Etablierung der repräsentativen Demokratie im Jahr 1958 war das Land von einem Präsidialsystem geprägt, das auf Kosten des Parlaments viel Macht und Verantwortung in die Hände des Staatsoberhauptes legte. So kam es auch immer wieder zur Übertragung von Vollmachten an den Präsidenten.

In den 40 Jahren der "Vierten Republik" von 1958 bis 1998 wurden insgesamt sechs Leyes Habilitantes verabschiedet. Das führte dazu, dass fünf verschiedene Präsidenten 172 Dekrete erließen. Die meisten von ihnen fanden während der Erdölbonanza unter Carlos Andrés Pérez (1974-1979, 62 Dekrete) sowie während der Wirtschaftskrise der 1980er Jahre unter Jaime Lusinchi (1984-1989, 79 Dekrete) Einzug in die Legislative. Das aktuelle Gesetz ist also formell betrachtet eher eine Kontinuität denn ein Bruch mit dem alten System.

Seit der Verabschiedung der aktuell gültigen Verfassung im Jahr 1999 regelt Artikel 203 die Möglichkeit der Sondervollmachten für den Präsidenten. Das entsprechende Gesetz muss im Parlament mindestens 60 Prozent Zustimmung erhalten und außerdem die Bereiche definieren, in denen der Präsident tätig werden kann. Ebenso muss der Zeitraum seiner Gültigkeit beschränkt sein.


Die Gesetze sind nicht in Stein gemeißelt

Im aktuellen Fall wird der Präsident bevollmächtigt, Dekrete mit Gesetzeskraft in insgesamt neun Bereichen zu verabschieden. Darunter befinden sich die Betreuung der Unwetteropfer und die Bereiche Wohnraum, Infrastruktur und Transport, Finanzen und Steuern, Sicherheit, aber auch Wirtschaft, Verteidigung und internationale Beziehungen. Es handelt sich also um sehr weitreichende Befugnisse, die über den Wiederaufbau nach dem Unwetter hinausgehen. Während das ursprüngliche Gesetzesprojekt einen Zeitraum von einem Jahr vorsah, verlängerten die ParlamentarierInnen seine Gültigkeit in der Diskussion auf 18 Monate. Damit kann Chávez bis kurz vor der nächsten Präsidentschaftswahl im Dezember 2012 die Vollmachten nutzen - wenn er sie nicht freiwillig vorher zurückgibt oder das Parlament das Gesetz ändert.(1)

Juristisch betrachtet ist das Gesetz über die Sondervollmachten zweifellos wasserdicht. In der Verfassung ist klar geregelt, dass das Parlament das Recht hat, Gesetze dieser Art zu erlassen; die notwendige Dreifünftelmehrheit war aufgrund des Wahlboykotts der Opposition 2005 ohne Frage gegeben, und da es sich um ein "normales" Gesetz handelt, ist seine Gültigkeit über den Zeitraum der Legislaturperiode hinaus die Norm. Es ist unwahrscheinlich, dass eine von der Oppositionspartei Primero Justicia am Obersten Gerichtshof (TSJ) eingereichte Klage dagegen Erfolg haben wird.

Demokratietheoretisch betrachtet erscheint das Gesetz selbstverständlich in einem anderen Licht. Bei den Parlamentswahlen im Juli 2010 hatte die Opposition wieder an Stärke gewonnen; das chavistische Lager erreichte "lediglich" 98 der 165 Sitze. Für eine Dreifünftelmehrheit fehlt der Regierungspartei PSUV und ihren Alliierten somit eine Stimme. Es ist also äußerst zweifelhaft, ob im aktuellen, seit Anfang Januar tagenden Parlament eine Mehrheit für ein Bevollmächtigungsgesetz zustandegekommen wäre. So ist die Verabschiedung der Vollmachten kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode des Parlaments zwar legal, aber sicher nicht vom höchsten "demokratischen Geist" der liberalen Demokratie geprägt.

Dennoch lassen Kritiken, welche die Vollmachten als diktatorische Maßnahme sehen, einige entscheidende Aspekte aus. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei den Vollmachten um ein "normales", zumal zeitlich begrenztes Gesetz handelt. Dies bedeutet, dass einerseits der Oberste Gerichtshof das Gesetz für ungültig erklären kann, sollte es gegen die Verfassung verstoßen. Andererseits wird in der Regel auch verschwiegen, dass das Gesetz jederzeit vom Parlament aufgehoben werden kann.

Dasselbe gilt für die erlassenen Dekrete: Sie sind nicht in Stein gemeißelt, sondern können wie jedes andere Gesetz von einer parlamentarischen Mehrheit reformiert oder auch abgeschafft werden. Dass dies bei einer chávistischen Mehrheit im Parlament unwahrscheinlich ist, liegt auf der Hand. Es handelt sich also um eine Art "umgekehrtes" oder beschleunigtes Gesetzgebungsverfahren. Nicht zu vergessen ist dabei, dass das Parlament mitnichten seine legislativen Aufgaben verliert. Es wird auch weiterhin wie gewohnt arbeiten und Gesetze erlassen können.

Nicht allein das Parlament ist zudem in der Lage, die Dekrete zu kippen. Die Verfassung sieht ebenfalls die Möglichkeit vor, dass jedes Gesetz - also auch Präsidialdekrete - einer Volksabstimmung unterzogen werden können. Im Normalfall sind für die Einberufung eines solchen Referendums die Unterschriften von zehn Prozent der Wahlberechtigten nötig. Im Fall der Dekrete ist diese Hürde heruntergesetzt: Hier sind es fünf Prozent. Die Tatsache, dass die Opposition keinen Gebrauch von solcherlei Möglichkeiten macht, lässt zwei Schlüsse zu: Möglicherweise schätzt sie die Kräfteverhältnisse (vermutlich korrekt) so ein, dass sich nur äußerst selten Mehrheiten gegen Chávez organisieren lassen und ein Referendum über die Vollmachten oder die erlassenen Dekrete wenig Aussicht auf Erfolg hätte. Oder aber sie hält an ihrer Ablehnung direktdemokratischer Elemente fest und versteift sich auf die repräsentativ-parlamentarische Verfahrensweise, mit der sie aufgrund der Sitzverteilung wenig handlungsfähig ist.(2)

Es ist aber neben der juristischen Betrachtung ebenso bedeutend, welche inhaltlichen Entwicklungen von den Vollmachten zu erwarten sind. Da es nicht das erste Mal ist, dass Chávez diese Befugnisse erhält, lohnt ein Blick zurück: Bereits 1999, im Jahr des Amtsantritts, verlieh das venezolanische Parlament dem Präsidenten die Vollmacht, für sechs Monate parallel zur Legislative Dekrete zu erlassen. Zwei weitere Bevollmächtigungen folgten im Jahr 2000 (für zwölf Monate) und schließlich 2007 (für 18 Monate).


Dekrete ermöglichten Venezuelas Transformation

Während keiner dieser Perioden erließ die Exekutive jedoch Gesetze, die der Verfassung widersprachen oder ernsthaft geeignet waren, eine Diktatur zu etablieren. Was nicht heißen soll, dass sie nicht zu Kontroversen geführt hätten. Genau genommen waren es 49 per Dekret verabschiedete Gesetze, die im April 2002 als Anlass für den kurzen Putsch gegen Chávez dienen sollten. Vor allem drei Gesetze brachten für die alten Eliten des Landes das Fass zum Überlaufen: Die "Rückgewinnung" des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA durch das "Kohlenwasserstoffgesetz" (Ley de Hidrocarburos), das Fischereigesetz (Ley de Pesca), welches unter anderem die Schleppnetzfischerei verbot, und das Landgesetz (Ley de Tierras), das eine Landreform einleitete und dem Großgrundbesitz den Kampf ansagte.

Auch im Jahr 2007 schrieb die Opposition ein weiteres Mal eine bevorstehende Diktatur herbei, als Chávez per Dekret die strategischen Unternehmen für Telekommunikation (CANTV) und Elektrizität, den größten Stahlproduzenten des Landes (SIDOR), die Zementproduktion sowie die Erdölunternehmen im Orinocobecken erneut verstaatlichte.(3) Doch ein weiteres Mal bewahrheiteten sich die dramatischen Prophezeiungen nicht.

Es sind nicht allein die strategisch bedeutsamen Gesetze, die die legislative Tätigkeit des Präsidenten bisher geprägt haben. Auch hat sich wiederholt gezeigt, dass die Initiativen des Präsidenten häufig wesentlich direkter die Forderungen von Basisbewegungen aufgegriffen haben, als dies das Parlament tut. So unterstützt mit der Bauernfront Ezequiel Zamora (FNCEZ) eine der am besten organisierten, von Staat und Partei unabhängigen Vereinigungen im Lager der Bolivarischen Revolution regelmäßig die Entscheidungen des Präsidenten, während sie Bürokratie und Opportunismus des chávistischen "Mittelbaus" geißelt. Ähnliches lässt sich für andere Basisbewegungen sagen, die Chávez wesentlich mehr gesetzgeberische Kompetenz zutrauen als den zu diesem Zweck gewählten Abgeordneten.


Chávez' dominante Rolle ist ein Problem

Diese Perspektive wurde immer wieder in der inzwischen zwölfjährigen Regierungszeit von Chávez bestätigt. Zugleich zeigt sie aber eines der zentralen Probleme des politischen Prozesses in Venezuela auf. Denn genauso, wie es wahr ist, dass der Präsident den Fortschritt der sozialen und politischen Transformation in Venezuela garantiert, ist es offensichtlich, dass seine dominante Position innerhalb des Prozesses zu Problemen führt, die die Entwicklung insgesamt hemmen.

So ist die Forderung nach einer kollektiven Führung seit Jahren präsent, doch fand sie kaum Einzug in die politische Praxis. Es werden immer wieder Bündnisse geschmiedet, die anderen Organisationen wie der Kommunistischen Partei (PCV) und sozialen Bewegungen Mitsprachemöglichkeiten in politischen Entscheidungen geben sollen.(4) Jedoch wurden diese allzu oft der als ebenso wichtig betrachteten Effizienz geopfert. Eben diese Effizienz ist eine zentrale Motivation für die Nutzung der Sondervollmachten durch den Präsidenten: Anstatt sich langen Debatten mit politischen GegnerInnen hinzugeben, sollen sie das politisch "richtige" effizient und schnell umsetzen.

In der bisherigen Umsetzung der Vollmachten hat diese Perspektive meist dominiert. Häufig schaffen es dabei soziale Bewegungen, ihre Forderungen auf dem "direkten Weg" über den Präsidenten durchzusetzen. Jüngstes Beispiel ist die Bewegung der Pobladores. Dieser Zusammenschluss verschiedener Organisationen, die für ein "Recht auf Stadt" und eine Demokratisierung des urbanen Raumes kämpfen, legten dem Präsidenten Anfang des Jahres einen Forderungskatalog vor, für den sie seit einigen Jahren kämpfen. Zwar hatten es einige ihrer Vorschläge in der Vergangenheit in die Nationalversammlung geschafft, jedoch liegen sie dort teilweise seit Jahren und warten auf eine Verabschiedung in Gesetzesform. Vor laufenden Kameras traf sich nun der gerade mit den Vollmachten ausgestattete Präsident mit 100 VertreterInnen der Pobladores und stimmte allen ihren Vorschlägen ausnahmslos zu.(5) Eben hier liegt das Paradox des venezolanischen Prozesses.


Anmerkungen:

1) In seinem jährlichen Rechenschaftsbericht in der Nationalversammlung Anfang Januar hatte Chávez erklärt, die Vollmachten eventuell lediglich bis Mai zu nutzen. Wenig später zog er diese Möglichkeit jedoch wieder in Zweifel, weil die Opposition einen sofortigen Verzicht forderte.

2) Tatsächlich hat die Opposition erst ein einziges Mal einen Erfolg bei einem Referendum gegen Chávez feiern können, als sie im Dezember 2007 mit einer hauchdünnen Mehrheit das Referendum über eine umfassende Verfassungsreform gewann. Im einzigen selbst initiierten Volksentscheid, dem Abwahlreferendum gegen den Präsidenten im August 2004, musste sie hingegen eine deutliche Niederlage einstecken.

3) Sie waren von den neoliberalen Vorgängerregierungen privatisiert worden.

4) Aktuell wird zum Beispiel der Pólo Patriótico reaktiviert. In dem Bündnis sollen die den Bolivarischen Prozess unterstützenden Organisationen zusammenkommen und die politischen Entwicklungen diskutieren.

5) Darunter die Etablierung kollektiver Kredite für "sozialistische Gemeinden" in Selbstverwaltung, ein Dekret gegen Zwangsräumungen, ein neues Mietrecht und ein lang ersehntes Gesetz zur Vergabe von Landtiteln an die Barriobevölkerung.


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 558, 18.02.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2011