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ANALYSE & KRITIK/402: Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano über den deutschen Krieg in Afghanistan


ak - analyse & kritik - Ausgabe 553, 17.09.2010

Die Ambivalenz des Rechts
Der Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano über den deutschen Krieg in Afghanistan

Interview von Eva Völpel und Ingo Stützle


Mit der Veröffentlichung von US-Dokumenten auf der Internetplattform Wikileaks wurde im Juli die Diskussion um die Beteiligung der Bundeswehr an gezielten Tötungen in Afghanistan hochgespült. Erst hieß es aus dem Verteidigungsministerium, deutsche SoldatInnen wären in Afghanistan "nur" an Festnahmen außerhalb von Kampfhandlungen beteiligt, in dem sie Listen mit Namen abarbeiten. Dann gaben einzelne Militärs zu, dass das Kommando Spezialkräfte (KSK) eigene Tötungskommandos durchführt. Ein Gespräch mit dem Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano über die deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan, die umkämpfte Schutzfunktion des Völkerrechts und die Gründe, warum auch die deutsche Regierung mittlerweile vom Krieg in Afghanistan spricht.


ak: Herr Fischer-Lescano, wie bewerten Sie diese Beteiligung von Bundeswehr bzw. KSK an gezielten Feindtötungen?

Andreas Fischer-Lescano: Das Völkerrecht hält detaillierte Regeln darüber bereit, wer in einem bewaffneten Konflikt gezielt getötet werden darf und wer nicht. ZivilistInnen dürfen nicht getötet werden, es sei denn, sie beteiligen sich im fraglichen Moment unmittelbar an Kampfhandlungen. Die gezielte Tötung von KämpferInnen ist hingegen zulässig. Das erste Problem mit den genannten Listen ist, dass dort zwar auf der einen Seite Talibankämpfer aufgeführt sind, die unter bestimmten Umständen - in der direkten Kampfsituation - getötet werden dürfen. Auf der anderen Seite sind aber auch ZivilistInnen - beispielsweise Drogenbarone - gelistet, die gar nicht an direkten Kampfhandlungen teilnehmen. Sie können auch nicht allein deshalb als KämpferInnen eines bewaffneten Konflikts und damit als legitime militärische Ziele betrachtet werden, weil sie möglicherweise den Konflikt finanzieren - oder möglicherweise mal mit einem Taliban an einem Tisch sitzen. Diese Vermischung unterschiedlicher Personenkategorien auf den Listen kann dazu führen, dass die Anforderungen des Völkerrechts missachtet werden.

ak: Und wenn argumentiert wird, man nehme Personen "nur" fest?

Andreas Fischer-Lescano: Die Bundeswehr ist nicht befugt, sich an der Festnahme Verdächtiger und ihrer Überstellung an afghanische oder US-Behörden zu beteiligen. Erstens gibt es schon hinsichtlich der Ingewahrsamnahme von ZivilistInnen in Afghanistan keine nationale - nach Verfassungsrecht eben notwendige - Rechtsgrundlage für die deutschen FunktionsträgerInnen. Und zweitens ist es untersagt, dass die Bundeswehr Gefangene an Staaten übergibt, bei denen es begründete Zweifel daran gibt, dass die Behandlung der Gefangenen menschenrechtskonform ist. Solche Zweifel gibt es in Afghanistan aber nun einmal zuhauf.

ak: Welches Problem sehen Sie noch im Zusammenhang mit den bekannt gewordenen Listen?

Andreas Fischer-Lescano: Unklar ist auch, ob die Schranken, die die Gerichte für die gezielte Tötung von KämpferInnen entwickelt haben, hinreichend beachtet werden. So verlangen beispielsweise der Oberste Gerichtshof Israels und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, dass auf die Tötung zu verzichten ist, wenn eine Festnahme möglich ist, ohne dass hierbei ein erhebliches Risiko für die festnehmenden Personen besteht. Weitere Pflichten betreffen die vorherige Sachverhaltsaufklärung, die Dokumentation des Vorgangs und die nachträgliche Untersuchung, gegebenenfalls auch die Hinzuziehung von RechtsberaterInnen und die Leistung von Schadensersatz. Sofern diese genannten Voraussetzungen nicht eingehalten werden und keine hinreichenden Vorkehrungen zur Einhaltung getroffen sind, kann die deutsche Beteiligung an der Erstellung und an der Abarbeitung dieser Listen eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt darstellen.

Es wird zudem insgesamt bislang nicht hinreichend problematisiert, wie deutsche BeamtInnen in Afghanistan dazu kommen, Namen x oder Namen y auf die Liste zu setzen. Wie treffen die Soldaten ihre Entscheidung? Wie kommen sie an Informationen heran? Dahinter steckt ja eine konkrete Ermittlungsarbeit, deren Ergebnis unter Umständen einem Todesurteil gleich kommt.

Es bleibt zu unklar, welche Sorgfaltsanforderungen in der militärischen Entscheidungsstruktur verankert wurden. Wenn es Anhaltspunkte für den praktizierten Sorgfaltsmaßstab bei der Differenzierung zwischen KämpferInnen und ZivilistInnen gibt, dann geben diese eher Anlass zur Besorgnis. So sind das Disziplinar- und auch das Strafverfahren gegen Oberst Klein hinsichtlich des Kunduz-Einsatzes, den immerhin auch der amtierende Verteidigungsminister für militärisch nicht angemessen bezeichnet hat, jeweils mit der Begründung im Sande verlaufen, es läge keine vorwerfbare rechtswidrige Handlung vor.(1) Dass Oberst Klein die rules of engagement - also die Einsatzregeln, die bestimmte Sorgfaltsanforderungen begründet haben - verletzt hat, wurde bislang in beiden Überprüfungskontexten für unproblematisch gehalten. Das ist bedenklich.

ak: Aber, ketzerisch gesprochen, es ist eben Krieg. Das meine ich im Sinne einer Frage: Was glauben Sie, welche Schutzfunktion das Völkerrecht in solch asymmetrisch geführten Kriegen wie in Afghanistan überhaupt noch ausfüllen kann?

Andreas Fischer-Lescano: Man sollte die Erwartungen an das Völkerrecht nicht zu hoch schrauben. Das Völkerrecht kann Kriegswillige kaum vom Krieg und Tötungswillige kaum am Töten hindern. Aber das Recht stellt den Opfern von Rechtsverletzungen ein Instrumentarium bereit, mit dem Unrecht als Unrecht skandalisiert, konkrete Maßnahmen delegitimiert und Unrecht kompensiert werden kann. Der Schutzauftrag des humanitären Völkerrechts zielt hier insbesondere auf ZivilistInnen. Im Zweifel, so sagt es das humanitäre Völkerrecht, sind Personen als ZivilistInnen und nicht als KämpferInnen zu behandeln, sind also zu schützen. Die Beteiligten haben alles ihnen Mögliche zu tun, um Schädigungen ziviler Objekte und Verletzungen seitens der Zivilbevölkerung zu vermeiden.

Durch diese Pflichten wird gegebenenfalls die Kriegsführung behindert. Deswegen gibt es den Drang, diese Schutznormen für obsolet zu erklären. Das ist gerade jetzt zu beobachten, wo immer wieder betont wird, wir hätten es mit völlig neuartigen Kriegen zu tun. Dabei ist diese Form der Auseinandersetzung nicht so neuartig, wie beispielsweise Herfried Münklers Rede von "asymmetrischen Kriegen" als "neuen Kriegen" insinuiert.

Allein diese Rhetorik der Neuartigkeit - die oft Mittel dazu ist, vorhandene Schutznormen auszuhebeln - ist bedenklich. Sie wird noch übertroffen von Stellungnahmen, die die Selbstbehauptung des Rechtsstaates als eine politische Aufgabe ansehen und im Ausnahmezustand und gerade gegen einen Feind, der sich selbst nicht ans Recht halte, auch extralegale Kampfmittel gestatten wollen. Das ist aus rechtlicher und rechtspolitischer Perspektive gänzlich inakzeptabel, weil das Recht natürlich auch jetzt schon Regeln auch für einen nicht-staatlichen bewaffneten Konflikt bereit hält, aber auch, weil diese Argumentation - zu Ende gedacht und radikalisiert - zur Abschaffung des Rechtsstaats führte. Bei Carl Schmitt findet eine solche Argumentation ihren extremsten Ausdruck: "Der Führer schützt das Recht" ist die Perversion des Rechts. Die Schutzfunktion des Rechts wird in ihr Gegenteil verkehrt. Das Skandalöse an solchen Versuchen, den nationalen oder globalen (vorgeblichen) Ausnahmezustand normativ als Legitimationsgrund extralegalen Handelns zu verstehen, liegt darin, dass sie das Recht zum gleichgeschalteten Instrument der Politik degradieren. Selbst wenn das bei Links-Schmittianern - wie bei Giorgio Agamben - als Kritik der Souveränität formuliert wird, gibt eine solche Position die Rechtsform zu schnell auf. Das untergräbt im Ergebnis die Schutzfunktion des Rechts.

Anders - materialistisch - gesprochen: Recht ist beides: Herrschaftsinstrument und Bastion der Subalternen. Wenn man diese Bastion vorschnell aufgibt, gibt man ein entscheidendes Terrain der Auseinandersetzung darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, kampflos auf.

ak: Mittlerweile spricht auch Verteidigungsminister zu Guttenberg von Krieg, der in Afghanistan geführt werde. Doch trotz dieser veränderten Sprache und trotz der Bombardierungen von Kunduz bleibt die Kritik am Krieg erstaunlich leise.

Andreas Fischer-Lescano: Ja. Die Skandalisierung dieses Einsatzes hat eigentümlicherweise erst Jahre später begonnen. Die Oppositionsparteien müssten in der aktuellen Situation eigentlich noch einmal deutlicher machen: Es gibt jetzt eine neue Qualität des Einsatzes. Das Vorgehen ist offensiver geworden. Und man kann auch die Frage stellen, ob wir es nicht längst mit einem internationalen bewaffneten Konflikt in Afghanistan zu tun haben, mit der Involvierung von Pakistan. Man müsste auch noch einmal über die Operation Enduring Freedom (OEF) reden, die anders als der ISAF-Einsatz, keine Rechtsgrundlage in Kap. VII der UN-Charta hat, sondern ihre Rechtfertigung angeblich darin finden soll, dass es sich um einen Selbstverteidigungseinsatz nach Art. 51 der UN-Charta handele. Das ist völkerrechtlich aber nicht mehr hinnehmbar, weil kein akuter Angriff, den Art. 51 UN-Charta voraussetzt, mehr vorliegt.

Das alles müsste dazu führen, dass die Bundestagsmandate im Hinblick auf ISAF und OEF politisch im Bundestag und gegebenenfalls auch rechtlich vor dem Bundesverfassungsgericht noch einmal neu diskutiert werden. Dann ließe sich auch die weitergehende Frage stellen, welche politische Gesamtstrategie man in Afghanistan und am Horn von Afrika überhaupt - jenseits der Befolgung des NATO-Gruppenzwangs - verfolgt.

ak: Sicher haben die Ereignisse von Kunduz und die zunehmende Zahl getöteter deutscher Soldaten dazu geführt, dass man auch in der Regierung mittlerweile von Krieg und nicht mehr euphemistisch von einem "Sicherheitsstabilisierungseinsatz" sprechen musste. Doch warum ist das K-Wort noch akzeptabel geworden?

Andreas Fischer-Lescano: Letztlich war es nicht die Öffentlichkeit, die den Verteidigungsminister zur Anpassung der Semantik an die Realität gebracht hat. Zu Guttenberg hat stets nach "innen", zur Truppe hin, argumentiert. Er könne die SoldatInnen verstehen, die die Zustände in Afghanistan als kriegsähnlich empfänden, formulierte er zunächst. Und erst als deutlich wurde, dass aus der Kategorisierung des Einsatzes als "bewaffneter Konflikt" keine rechtlichen Nachteile erwachsen, hat er sich die Wortwahl gänzlich zu Eigen gemacht.

Zugleich haben seine Juristen daran gearbeitet, die rechtlichen Vorteile der Kategorie "bewaffneter Konflikt" zu evaluieren. Ein solcher rechtlicher Vorteil soll nach deren Analysen darin liegen, dass für die deutschen Staatsorgane im bewaffneten Konflikt nicht mehr das allgemeine Strafrecht mit seiner Pönalisierung der (auch fahrlässigen) Tötung einschlägig sein soll, sondern ausschließlich der privilegierende Rechtsrahmen des Völkerstrafgesetzbuches, das lediglich gravierende Delikte wie Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit etc. unter Strafe stellt.

Dieses Völkerstrafgesetzbuch war ja ursprünglich gedacht als Signal an die Weltgesellschaft, dass Deutschland als Teil der internationalen Gemeinschaft Verantwortung dafür wahrnimmt, dass bestimmte Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie begangen werden, ab einer bestimmten Schwere universell verfolgt werden können und müssen. Das hat sich in der Praxis leider nicht realisiert. Jetzt wird das Völkerstrafgesetzbuch auf den Kunduz-Fall angewendet und soll - so will es der Generalbundesanwalt - die Konsequenz haben, dass dann, wenn die Maßnahme in Kunduz kein Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch war, eine weitere Strafbarkeit nach allgemeinen Normen ausscheide. Das führte zu einer Privilegierung militärischen Unrechts und zu einer Einschränkung rechtsstaatlicher Kontrolle.

ak: Wie bewerten Sie die Geldzahlungen an die Opfer der Tanklastwagenbombardierung? Die Bundeswehr hat außergerichtlich gerade einmal 5.000 US-Dollar für jeden Toten an die Familien bezahlt.

Andreas Fischer-Lescano: Die Bundesrepublik behauptet ja seit langem, dass im Krieg überhaupt nicht zu entschädigen sei. Hier wird wieder der Ausnahmezustand als Argumentationstopos zur Begründung der Nichtjustiziabilität von Unrechtsakten heran gezogen. Deswegen zahlt die Bundesregierung Geld ex gratia, ohne eine Schuld anzuerkennen, quasi als Gnadenakt. Auseinandersetzungen darum sind unglaublich wichtig, weil sich in ihnen entscheiden wird, ob der "Armee im Einsatz" rechtsstaatliche Grenzen gezogen werden können.


Anmerkung:
1) Das European Center for Constitutional and Human Rights (www.ecchr.eu/) bzw. der Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck versuchen, den Fall Kunduz doch noch vor die Straf- und Zivilgerichtsbarkeit zu bringen.


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 553, 17.09.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2010